Befremdliche Namen

Der Schalter im Brustkorb

„Wie möchtest du heißen, hmm? Elena, Helena oder Lena?“ Wenn Namen unbekannt waren, wurden sie einfach eingedeutscht. Mit der Zeit werden sie dann ein Teil der Identität, sie werden zur Familiengeschichte. Von Helena Kaufmann

„Diese Namen gibt es hier einfach nicht.“, sagt die brünette Frau und sieht uns durch ihre fettigen Brillengläser mahnend an. Ihre langen, roten Fingernägel tippen dabei ungeduldig auf eine voll beschriebene Schreibtischunterlage. Das Haus, in dem wir uns befinden, nennen meine Eltern Statt-fe-walt-unk.

Meine Mutter nickt der Beamtin verständnisvoll zu und übersetzt meinem Vater in leisen russischen Sätzen, dass sie meint, verstanden zu haben, wir müssten unsere Namen angleichen. „Wie möchtest du heißen, hmm? Elena, Helena oder Lena?“ Sie beugt sich zu mir herunter, ihre Augen wirken durch die dicken Brillengläser unheimlich groß. Durch die plötzliche Nähe der fremden Frau, drücken sich meine kleinen Schulterblätter mit aller Kraft in den Stuhl. Eine warme vertraute Hand fährt mir über den Kopf und streichelt die Angst fort. Was bleibt, ist etwas Anderes. Ich fühle mich schuldig. Schuldig dafür, einen Namen, den es in meiner neuen Heimat nicht geben soll, bereits ein ganzes Leben getragen zu haben.

___STEADY_PAYWALL___

Ich hatte mich an meinen russischen Namen gewöhnt, ich liebte den Klang und die Gewissheit, dass er mich beschrieb und ausmachte. Schlagartig sollte ich nur noch zu Hause so heißen. Im Kindergarten, bei den Behörden und später in der Schule hörte ich auf meinen neuen Namen.

Als ich in diesem Büro saß und über die Veränderung grübelte war ich fünf Jahren alt. Identität war ein Fremdwort für mich – unabhängig der Sprache. Wenn es sich anfangs so anfühlte als hätte man mir meinen Namen entrissen und zwei diagonale fette Striche durch ihn gezogen, verstand ich später, dass mich beide Namen, Seite an Seite, ausmachten. Sie lassen sich zwar nicht immer kombinieren, aber sie hegen auch keine Rivalität.

Der Weltenschalter

In meinem Körper befindet sich ein Schalter, inmitten meines Brustkorbes. Die meiste Zeit liegt er auf „Deutsch“. In meiner deutschen Welt fühle ich mich sicher und wohl. Ich verbringe viel Zeit in ihr, denn in ihr bin ich groß geworden. In dieser Welt spiele ich mit den Wörtern wie mit Bausteinen. Sprache ist ein Spiel mit vielen Regeln, das ich in der russischen Welt oft verliere. In der deutschen Welt fühle ich mich sprachlich dagegen sicher.

Meine russische Gefühlswelt kann ich am besten auf Deutsch beschreiben: Ein Raum, in dem ein großer gemusterter Teppich die Wand schmückt, der Tisch ist besetzt mit meinen Verwandten. Sie winken mich mit ihren beringten Händen zu sich und greifen nach eingelegten Gurken, Knoblauchzehen, Petersilie und Dill. Verschiedenste Salate sind platziert und sie haben dieselbe Soße: Mayonnaise. Alle reden gleichzeitig, jeder nutzt die maximale Kraft seines Organs. Es ist laut und trotzdem oder genau deshalb: Wird mir warm ums Herz.

Namen sind nicht nur ein Teil der Identität, nein auch der Heimat. Keine Frage, beides ist von einander abhängig. Mein Großvater ist 1937 auf der Krim geboren zu einer unglücklichen Zeit mit einem noch unglücklicheren Namen. Sein Rufname war nicht Walter, sondern Faschist. Dieses Schicksal teilte er dann später mit meiner Mutter. Trotz der deutschen Vorfahren, die in Kasachstan und Russland ein schweres Schicksal erlitten, würde mein ursprünglicher Name in Russland keine Familiengeschichte ausplaudern, der deutsche allerdings schon. Und andersrum liefe es genauso ab.

Für meine Verwandten wurde damals entschieden, wo sie nicht hingehörten. Die Frage nach einer Heimat, ob geografisch oder emotional, stellte sich ihnen nicht. Und hier bin ich nun mit einem Luxusproblem: Ich darf wählen. Meine Fragen entziehen sich einer Antwort. Ich will nicht wählen, ich will beides sein: Jelena und Helena. Wenn nicht sogar mehr.