Flüchtlingspolitik nach Lampedusa (1/2)

Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich

Erneut zeigen sich Deutschland und Europa schockiert über den Tod weiterer Flüchtlinge vor Lampedusa. Doch wie glaubwürdig ist unsere Anteilnahme? Sind Flüchtlinge nicht notwendige Folge unseres eigenen Tuns? Ein Zweiteiler von Prof. Schiffer-Nasserie

Weltrekord! Über 50 Millionen Menschen waren laut UNHCR im vergangenen Jahr auf der Flucht – mehr als je zuvor seit Weltkrieg Nummer 2 und allein sechs Millionen mehr als im Vorjahr. Ein kleiner Teil der Flüchtenden erreichte die Außengrenzen der EU und versuchte Mauern, Zäune und Seegrenzen ohne Erlaubnis des Staatenbündnisses zu überwinden.

Über ein Jahr liegt die „Flüchtlingskatastrophe“ von Lampedusa bereits zurück. An öffentlicher Anteilnahme, an zur Schau gestellter Scham, Trauer und Betroffenheitsbekundungen der europäischen Eliten hatte es danach ja keinesfalls gemangelt. Sogar politische Konsequenzen wurden in Aussicht gestellt: Alles sollte anders werden. Davon will man heute kaum noch etwas wissen.

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Allein seit dem 3. Oktober 2013 kostete der Versuch der unerlaubten Einreise weit mehr als 3.000 Menschen das Leben. Das ist ebenfalls Rekord. Die meisten von ihnen ertranken im Mittelmeer – und das während einer flüchtlingspolitischen Sonderphase, in der die italienische Küstenwache die Seenotrettung von Flüchtlingen noch vor deren Abwehr stellte. Innerhalb eines Jahres rettete das Programm „Mare Nostrum“ nach Angaben der Regierung in Rom und gegen den Willen der Bundesrepublik, die sich an den Kosten nicht beteiligen wollte, zum Preis von ca. 9 Mio. Euro monatlich immerhin 120.000 Menschenleben. Das Nachfolgeprogramm „Triton“ bemüht sich denn inzwischen auch wieder ganz im Sinne der Bundesregierung um die gewünschte Abschreckung, Abschottung und Abschiebung; mit den bekannten Folgen.

So geht das Sterben rekordverdächtig weiter. Entgegen aller öffentlichen Verlautbarungen hat das Flüchtlingselend also offenbar doch viel mehr mit den vitalen Interessen der europäischen Staaten zu tun, als dies Politik-, Presse-, und Kirchenvertreter öffentlich wahr haben wollen. Wenngleich die vielen Grenztoten der EU – im Unterschied zu den etwa 200 Maueropfern in 40 Jahren DDR-Geschichte – nicht zur Verurteilung eines Staats oder gar eines ganzen Staatenbündnisses herangezogen werden dürfen und ein Schluss auf das ökonomische System des Westens unerwünscht ist, so ist Kritik doch erlaubt und wird auch geäußert: Europaweit werfen Flüchtlings- und Kirchengruppen, Linke und Menschenrechtler den Verantwortlichen Abschottung vor. Sie konstatieren, dass die EU keinen Schutz für Flüchtlinge, sondern Schutz vor Flüchtlingen betreibe. Öffentlich verurteilt werden die Repräsentanten der EU für ihre angeblich „unterlassene Hilfeleistung“ (vgl. etwa H. Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 7.10.2013) und ihre „Verantwortungslosigkeit“.

Der vorliegende Beitrag will die hier angerissenen Aspekte in zwei Teilen genauer untersuchen. Teil eins geht der Frage nach, warum und wofür die Flüchtlinge und ihr massenhafter Tod an den EU-Außengrenzen – allen öffentlichen Beteuerungen zum Trotz – offenbar unvermeidlich sind. Teil zwei behandelt die öffentliche Auseinandersetzung und Kritik nach der so genannten „Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa“ anhand von 3 Beispielen.

Fluchtursachen und Flüchtlingspolitik

Wenn in Deutschland über das Lage von Flüchtenden, über Flüchtlingskatastrophen und Flüchtlingspolitik nachgedacht und gestritten wird, dann zeichnen sich bei aller Kontroversität zwei als selbstverständlich unterstellte Vorannahmen ab:

Die erste geht davon aus, das Flüchtlingselend müsse eigentlich nicht sein, wenn nur alle Beteiligten – also die Flüchtlinge aus den Armuts- und Kriegsregionen selbst, die Regierungen ihrer Herkunftsländer, die Schleuser, Frontex und die (un)verantwortlichen Politiker der EU – ihrer Verantwortung korrekt nachkämen. Auf diesem festen Glaubenssatz baut die deutsche Diskussion mit viel Emphase auf und es wird munter je nach politischer Position darum gerechtet, wem die Schuld für den massenhaften Tod auf dem Meer zu geben sei. Die Antworten fallen den politischen Standpunkten entsprechend, also leider in aller Regel äußerst gehässig, aus.

Vorannahme zwei diskutiert Deutschland ausschließlich als Aufnahme- und Helferland oder zumindest als potentielle Schutzmacht für die Bedrängten dieser Welt. Flüchtlingsfeinde und Flüchtlingsfreunde teilen einträchtig auch diesen Grundsatz – um auf dessen Basis wild darüber zu streiten, ob Deutschland schon viel zu viele Flüchtlinge aufnehme oder aber seiner humanitären Verantwortung ganz unzureichend gerecht werde.

In Anbetracht solcher Gewissheiten erscheint es angezeigt, zunächst die in der deutschen Flüchtlingsdiskussion bezeichnend wenig thematisierten Fluchtursachen zu betrachten. Sie sind dazu geeignet, einige grundlegende Illusionen der Diskussion in Frage zu stellen. Es wird sich zeigen, dass das Flüchtlingselend keinesfalls auf vermeidbares Fehlverhalten der Beteiligten zurückzuführen ist – also auch nicht durch moralisierende Appelle an die vermeintlich Schuldigen zu bewältigen ist – sondern regelrecht systematische Ursachen hat. Die zentrale These lautet: Die Flüchtlinge und ihre leichenträchtige Abwehr sind für die ökonomischen, politischen und militärischen Interessen der EU unvermeidlich. Dies soll im Folgenden bewiesen werden.

a) Ökonomisch sind die Flüchtlinge für den europäischen Kapitalismus unvermeidlich,

  1. weil die EU – Deutschland vorneweg – mit überlegenen Unternehmen und subventionierten Waren die afrikanischen und arabischen Ökonomien erfolgreich kaputt konkurriert und den betroffenen Menschen damit ihre Lebensgrundlage nimmt. Dies geschieht durch die Zerstörung traditioneller Wirtschaften und Märkte, wo diese noch vorhanden sind (zum Beispiel durch den Export von Hühnchenflügeln und Schlachtabfällen aus Niedersachen in die Märkte Zentralafrikas). Oder durch die Ruinierung der heimischen Unternehmen, insbesondere der verarbeitenden Gewerbe (zum Beispiel der Fischindustrie des Maghreb), die dann ihrerseits keinen Gebrauch mehr von den eigentumslosen Arbeitskräften machen, so dass die abhängig Beschäftigten ihrer Existenzgrundlage beraubt sind,
  2. weil die Lebensmittel bzw. fruchtbaren Böden (zum Beispiel die Palmölplantagen in der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia, Erdnüsse aus dem Senegal usw.), die Fischfanggebiete (Beispiel Mauretanien) und die Rohstoffvorkommen ihrer Heimat (zum Beispiel Uran aus Niger, Tschad und Mali) exklusiv der Verwertung westlicher Kapitale dienen – und damit der örtlichen Bevölkerung als Lebensgrundlage entzogen werden,
  3. weil die Menschen vor Ort zwar genau wie die abhängig Beschäftigten in Europa in Ermangelung alternativer Lebensgrundlagen existenziell darauf angewiesen sind, von einem Arbeitgeber angewendet zu werden, um leben zu können, im Unterschied zu europäischen Arbeitnehmern aber in der Regel als Lohnabhängige nicht gebraucht werden, sich in der Konkurrenz um Lohnarbeit folglich immer weiter unterbieten und deshalb massenhaft verelenden,
  4. weil sie also für das kapitalistische Geschäft in der großen Masse schlicht überflüssig sind, d.h. „Überbevölkerung“, die stört, wo immer sie rumvegetiert und deshalb nicht selten ein Fall für die Armuts-, Kriminalitäts-, und Aufstandsbekämpfung durch Polizei, Militär und Ordnungspolitik werden. Mit anderen Worten: Weil die Freiheit, die den ehemaligen Kolonisierten gewährt wird, sich selbstverantwortlich um den eigenen Gelderwerb kümmern zu dürfen, die tatsächliche Möglichkeit dazu in ihrer Heimat keineswegs einschließt,

Exkurs zu den Fortschritten der freiheitlichen Weltordnung
Man kann es gar nicht oft genug betonen: Freiheit – nicht Zwang charakterisiert das Elend der Überflüssigen in der heutigen Weltordnung! Wurden zu Kolonialzeiten die Arbeitssklaven zwangsweise in Ketten und auf Kosten ihrer europäischen und amerikanischen Anwender über das Meer geschifft, so ist die Situation im Zeitalter der globalen Geltung von Freiheit und Eigentum weit fortgeschritten: Die ehemaligen Sklaven rudern inzwischen selber! Und zwar aus eigenem Entschluss und auf eigene Kosten als freie und eigentumslose Personen. Die ehemaligen Kolonial- und Sklavenhalterstaaten in Europa und Nordamerika, inzwischen allesamt Hüter der universellen Menschenrechte, können bequem nach eigenem Bedarf entscheiden, ob und wem sie die Gnade gewähren, in ihren Ländern den privaten Reichtum ihrer Unternehmen zu mehren. Wenn schon nicht in der Vermeidung von Not und Leid, so sind die neuen Weltordnungsmächte ihren historischen Vorgängern zumindest bezüglich dieser freiheitlichen und grundsoliden Herrschaftstechnik weit überlegen…

  1. weil die Überflüssigen seit der Eurokrise selbst als Wanderarbeiter und Erntehelfer in der EU weniger gebraucht werden. Und dort, wo sie weiterhin beschäftigt werden, besteht die bittere Ironie ihres „Glücks“ darin, dass sie mit ihren 3.Welt-Löhnen kombiniert mit der Produktivität europäischer Betriebe unfreiwillig dazu beitragen, den auswärtigen Erfolg Europäischer Unternehmen und damit die Ruinierung der heimischen Ökonomie ihrer Herkunftsländer weiter voran zu treiben,
  2. weil Weltbank und IWF darauf bestehen, dass die arabischen und afrikanischen Staaten die Ernährung ihrer Völker nicht subventionieren dürfen, wenn sie weiterhin vom Westen Kredit wollen. (Die Liste ließe sich leider noch fortsetzen.)

b) Politisch sind die Flüchtlinge eine notwendige Folge westlicher Weltordnung,

  1. weil nicht geduldet wird, wenn sich die Überflüssigen in ihrer Not gegen ihre politische Herrschaft auflehnen oder anderen politischen Mächten zuwenden, sofern dies den Ordnungsvorstellungen europäischer und amerikanischer Mächte widerspricht. Historisch war dies in der Phase der Entkolonialisierung der Fall, als sich viele Befreiungsbewegungen der gerade entstehenden Dritten Welt Hilfe suchend an die alternative Weltmacht UdSSR oder die junge Volksrepublik China wandten und dafür direkt (Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Algerien, Simbabwe usw.) oder indirekt (Kuba, Chile, Nicaragua, Angola, Namibia, Mocambique, Palästina, Ägypten, Syrien usw.) mit Stellvertreterkriegen, Milizen und Embargos vom Westen bekämpft wurden. Heute ist das der Fall, wenn entsprechende Staaten oder Bewegungen ihr Heil in der ökonomischen Erschließung durch China, durch Bündnisse und Beistandsbekundungen mit den „Schurken“ der Weltordnung, insbesondere Russland, Iran, Kuba, Venezuela und Nordkorea oder in der Hinwendung zum politischen Islam entdecken,
  2. weil EU und USA die Verzweifelten in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten in Zentralasien für ihre Einflussnahme auf die Regionen zu instrumentalisieren suchen und westliche Regierungen die Aufstände der Überflüssigen – je nach Bedarf – gegen unliebsame Regierungen unterstützen oder unterdrücken (Syrien, Libyen, Libanon, Iran, Ägypten usw.),
  3. weil sie, wo dies zur Durchsetzung der eigenen Interessen opportun erscheint, zur ethnischen und religiösen Spaltung ganzer Staaten beitragen und die dafür nötigen Kriege finanzieren (früher Eritrea, heute Sudan, Irak, Syrien), so dass ethnische Säuberungen und Vertreibungen die zwangsläufige Konsequenz sind,
  4. weil die Staaten des Westens unliebsame Bewegungen und Organisationen bespitzeln, verfolgen, ihre Mitglieder und deren Angehörige foltern, sie mit Drohnen beschießen, sie von Milizen vernichten lassen usw. (Jemen, Pakistan, Somalia, Afghanistan…),
  5. weil sie befreundete und verbündete Regime bei ihrer Kriegführung unterstützen (Saudi-Arabien, Khatar, Arabische Emirate, Jordanien, Türkei usw.), d.h. Diktaturen, Demokratien, Monarchien und Gottesstaaten für ihre Beiträge zur westlichen Weltordnung aus- und aufrüsten und so von sich abhängig machen,
  6. weil sie mit Wirtschaftsembargos und Blockaden die Lage der Völker in unliebsamen Staaten weiter zu verschlechtern suchen (allein dem Irak-Embargo der USA, politisch gegen S. Hussein gerichtet, fielen durch Mangelernährung und fehlende Medikamente 500.000 irakische Kinder zum Opfer), um sie in Hungeraufständen gegen ihre Regierung aufzubringen,
  7. weil sie Putschs gegen antiwestliche Regierungen, die auf demokratischem Wege an die Macht gekommen sind, und dazugehörige Militärdiktaturen offen unterstützen (Algerien) oder zumindest decken und militärisch ausrüsten (Ägypten).

c) Und militärisch sind Flüchtlinge Teil der „Kollateralschäden“ des westlichen Engagements,

weil die USA und die EU-Staaten überall dort, wo diese friedliche Diplomatie nicht ausreicht, um ihre Interessen durchzusetzen, entweder im Alleingang, im NATO-Bündnis oder in einer Koalition der Willigen zur offenen Kriegführung übergehen, Söldnertruppen zusammenstellen oder gleich selber „Luftschläge erteilen“, bombardieren, einmarschieren und besetzen. Und das alles bekanntlich nur – um die „Zivilbevölkerung zu schützen“.

Die Flüchtenden sind also tatsächlich die ebenso unerwünschte wie unvermeidliche Konsequenz der ökonomischen, politischen und militärischen Konkurrenzanstrengungen der EU-Staaten, ihrer Verbündeten und ihrer Unternehmen. Die Flüchtenden sind der auch in den Metropolen wahrnehmbare Ausdruck der Ruinierung weiter Teile der Welt durch die herrschende Weltordnung.

Schließlich werden die Überflüssigen und Vertriebenen dann noch Opfer der ebenfalls für die EU-Staaten notwendigen Grenz- und Flüchtlingspolitik: Wenn nämlich diese viel zitierte „Zivilbevölkerung“, auf die sich die westlichen Staaten so gerne bei ihren Kriegsbegründungen berufen, den oben aufgezählten Horror überlebt und aus ihrer Verzweiflung und Ohnmacht den Schluss zieht, nach Europa oder Nordamerika zu fliehen, dann muss diese Zivilbevölkerung erfahren, dass die „humanitäre Hilfe“ des Westens so nicht gemeint war.

Als Flüchtlinge stoßen sie an die Außengrenzen der Europäischen Union und dürfen nicht einreisen. Der sichere und unkomplizierte Zugang mit Fähren und Fluggesellschaften von ihren Heimatländern aus – die ja nicht selten zugleich beliebte Destinationen des Ferntourismus sind – bleibt ihnen ohne rechtlichen Aufenthaltstitel der EU verwehrt. Jede Hoffnung der der „unschuldigen Zivilbevölkerung“, der „schutzlosen Männer, Frauen und Kinder“, auf legale und sichere Weise diesem Horror zu entgehen, wird durch ein hermetisches Grenzregime zunichte gemacht. Der Versuch, es auf unerlaubte Weise doch zu tun, also illegal einzureisen, kostet dann weiteren Tausenden das Leben.

Es ist insofern auch konsequent, dass Fischer nicht helfen und vorbeifahrende Container,- und Kreuzfahrtschiffe die Ertrinkenden nicht retten, ihre Hilferufe nicht erhören, da den Rettern möglicher weise Strafe droht. Es ist auch nur folgerichtig, dass Überlebende angeklagt werden und Fluchthelfer mit hohen Strafen rechnen müssen, noch bevor alle Leichen beseitigt sind, damit kein falsches Signal an jene ergeht, die auf der anderen Seite des Meeres noch leben. 1

Zwischenfazit

Die Flüchtlinge sind notwendig, weil die Ruinierung der Existenzgrundlagen der eigentumslosen Massen in der 3. Welt zwar nicht der Zweck, aber doch die unvermeidliche Folge der europäischen Wachstumspolitik und ihrer außenpolitisch-militärischen Flankierung ist. Der Zuzug der Überflüssigen in die EU ist unerwünscht und folglich vom Gesetzgeber verboten, weil sie in den Zentren nicht gebraucht werden, also nur eine Belastung und Gefährdung der inneren Ordnung darstellen. Die Toten an den EU-Außengrenzen sind die zivilen Opfer dieses Erfolgswegs des Europäischen Staatenbündnisses.

Die politökonomische Notwendigkeit des EU-Imperialismus

Die oben dargestellte ökonomische, politische und militärische Ruinierung ganzer Weltgegenden durch die EU, ihre Verbündeten und ihre Unternehmen ist – die nötige Unbefangenheit vorausgesetzt – kaum zu übersehen. Und Deutschland ist innerhalb der EU deren größter Nutznießer und folglich auch eine treibende Kraft entsprechender Machenschaften. Will man nicht von der theoretisch unbefriedigenden Idee von lauter „Fehlentwicklungen“ und „Verstößen“ ausgehen, so stellt sich die Frage: Warum betreiben kapitalistisch erfolgreiche Staaten, in diesem Fall also die Staaten der EU, eine so grauenvolle Politik? Die Antwort kann im Rahmen dieses Beitrages nur in stark komprimierter Form in ihrem politökonomischen Kern gegeben werden:

a) Kapitalwachstum ist die wirtschaftliche Grundlage der politischen Macht der Bundesrepublik wie aller marktwirtschaftlicher Staaten. Von der KITA über die Autobahn bis zum Panzer kauft sich der moderne Staat die Mittel seiner Politik. Deshalb setzen sich deren Regierungen parteiübergreifend für Wachstum ein. Denn nur wenn private Unternehmen aus ihrem Geld mehr Geld machen, bekommen die Lohnabhängigen überhaupt Arbeit und Gehalt, machen die Unternehmen Gewinne, findet Handel und Kreditgeschäft statt. Und nur dann kann der Fiskus all diese privaten Einnahmequellen, ganz besonders den Lohn, besteuern, d.h. teilweise enteignen, verstaatlichen und schließlich auf das so geschaffene Steueraufkommen seine Verschuldungsfähigkeit gründen. Wachstum, das schon seinem Begriff nach maßlos ist, muss deshalb sein: Wachstum ist die Staatsräson bürgerlicher Herrschaft. Je mehr desto besser. Auf die menschlichen und natürlichen Grenzen des kapitalistischen Wachstums nehmen moderne Staaten in ihrer Sozial- und Umweltpolitik deshalb nur dann Rücksicht, wenn sie sich davon „nachhaltig“ noch mehr Wachstum versprechen. Und in ihrer Wirtschafts- und Außenpolitik setzen sie sich deshalb dafür ein, dass auch die nationalstaatlichen Grenzen ihrer eigenen Herrschaft keine Grenzen der kapitalistischen Akkumulation darstellen. Im Unterschied zu der eher idealistischen Forderung der radikalen Flüchtlingsfreunde gilt hier wirklich: Grenzen auf für alle! Nämlich für ausländische Rohstoffe, für Waren, Geld, Kapital und ggf. auch für ausländische Arbeitskräfte, wenn diese für die nationale Bilanz wachstumsdienlich sind. Damit die staatlichen Grenzen ihre wachstumsbeschränkende Wirkung verlieren und der kapitalistische Erfolg ihrer Unternehmer möglichst globale Ausmaße annimmt, bemühen sich Politiker mit aller Macht um die Konvertibilität ihrer Landeswährungen, Zollbestimmungen, Handelsverträge, Abkommen und so weiter. Sie sind also nicht die ohnmächtigen Opfer, sondern die mächtigen Akteure ­ und im Falle der Bundesrepublik auch die Profiteure der allseits beschworenen Globalisierung!

b) Sowohl innerhalb Europas – Stichwort EU-Binnenmarkt – als auch weltweit soll deutsches Kapital auf Kosten auswärtiger Konkurrenten expandieren und damit auch auf Kosten anderer Staaten wachsen. Entgegen aller Beteuerungen von Unternehmern, Politikern und Volkswirtschaftlern ist die globale Konkurrenz nämlich weder eine harmonische Einrichtung der „internationalen Arbeitsteilung“ noch eine unsichtbare, aber segensreiche „Hand“, die zum gemeinsamen Nutzen aller Teilnehmer wirkt. Die Ergebnisse der deutschen Konkurrenzanstrengungen sind vielmehr innerhalb der EU (z.B. gegenüber Griechenland) als auch global – z.B. im Verhältnis zur sog. 3. Welt zu besichtigen.

c) Weil sich das angestrebte grenzüberschreitende Wachstum somit gegen andere Staaten und deren Kapitalwachstum richtet, bedarf es der diplomatischen, politischen und notfalls militärischen Durchsetzung durch die Staaten mit erfolgreicher Kapitalakkumulation. Es ist insofern kein Zufall, dass die kapitalistisch erfolgreichen Staaten zugleich auch die politischen Hauptakteure auf der Welt sind. Denn je größer und erfolgreicher das akkumulierte Kapital bereits ist, desto größer wird das Bedürfnis nach globaler Expansion. Zugleich liefern die weit entwickelten kapitalistischen Unternehmen ihren Staaten die finanziellen Mittel und die technisch-militärische Ausrüstung, um das imperialistische Bedürfnis erfolgreich durchzusetzen. Der kapitalistische Erfolg auf dem Weltmarkt und die Durchsetzung als nationalstaatliche Weltmacht bedingen sich also wechselseitig.

Das war es also, was der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler – vielleicht etwas ungeschickt – bei einem Interview für das Deutschlandradio am 22. Mai 2010 im Hinblick auf künftige Kriegseinsätze der Bundeswehr seinem Volk sagen wollte: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg. […] Es wird wieder sozusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei Soldaten, möglicherweise auch durch Unfall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […] Man muss auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren. […]“– 2 Und das weiß auch der aktuelle Bundespräsident Gauck, wenn er von einer größeren „Verantwortung“ Deutschlands in der Welt spricht.

Die nationalstaatlich verfasste Marktwirtschaft ist also der zwingende politökonomische Grund für jene Maßnahmen, die oben in groben Zügen dargelegt wurden. Es sind also gerade nicht die Einstellungen oder Denkweisen der Regierenden wie Chauvinismus, Eurozentrismus, Paternalismus (deren Existenz in Teilen der Elite deshalb überhaupt nicht bestritten werden muss). Imperialismus ist auch keine Frage der friedenspolitischen Ernsthaftigkeit der politischen Parteien. Der aggressive und zerstörerische Charakter des außenpolitischen Engagements kapitalistischer Gewinnerstaaten ist überhaupt keine Frage guter oder schlechter Politik, friedliebender oder aggressiver Parteiprogramme.

Exkurs zum Pazifismus von SPD, Grünen und Linkspartei

Die Parteigeschichte der deutschen Sozialdemokratie als großes Drama des 20. Jahrhunderts, die Geschichten der Grünen und der Linkspartei als zunehmende Farce; sie alle geben für die o.g. Behauptung die praktische Anschauung. Sie belegen nämlich ebenso die sozial- und friedenspolitische Ernsthaftigkeit der genannten Parteien in ihrer stürmischen Gründungsphase als auch den mühevollen Weg hin zu einer realpolitischen Kraft, die sich zur Regierungsfähigkeit des deutschen Kapitalismus vorgearbeitet hat und die dafür nötigen Härten selbstbewusst vertritt. Das hat einen logischen Grund:

Wer sich vornimmt, den Kapitalismus im Interesse seiner Opfer zu regieren, die politische Macht in der Bundesrepublik also im Namen der Armen und Entrechteten zu erobern, der muss eben auch auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre weltweiten Verwertungsbedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche innen- und außenpolitische Rücksichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen, ökologischen und pazifistischen Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglücken gedachte.

Die interne Begründung für solche Härten auf den entsprechenden Parteitagen verweist ganz systemimmanent darauf, dass mit einer kriselnden Ökonomie, mit Massenarbeitslosigkeit und leeren Staatskassen auch niemand gedient sei und außenpolitisch ein „robustes Auftreten“ unumgänglich sei, gerade um die hohen Werte der Partei zu verteidigen. Was der Sache nach das Eingeständnis ist, dass sich die bürgerliche Staatsgewalt entgegen der anfänglichen Parteiideale doch nicht einfach zu einer Hilfseinrichtung für ihre Opfer umwidmen lässt, wollen die sozialen Demokraten natürlich genau umgekehrt verstanden wissen; nämlich so, dass ihre Brutalitäten letztendlich nur die realpolitische Vervollkommnung ihrer pazifistischen Ideale seien. Ein solcher politischer Reifungsprozess von der außerparlamentarischen Protest- zur parlamentarischen Oppositions- und schließlich kriegsbereiten Regierungspartei braucht seine Zeit und geht nicht ohne Ausgrenzung von so genannten „Spinnern“ oder „Fundamentalisten“ ab, die darauf insistieren, dass der Kapitalismus „System hat“, also nicht parlamentarisch zu verbessern, sondern revolutionär zu überwinden ist…

Erst recht ist Imperialismus – um diesen alten und beinahe tabuisierten Begriff noch einmal zu verwenden –kein Spezifikum besonders „böser“ Nationen, die je nach Standpunkt wahlweise in den USA, Großbritannien, China, Japan oder in Deutschland ausgemacht werden. 3 Der skizzierte Imperialismus ist schlicht ein politökonomisches Funktionserfordernis in nationalstaatlich regierten und erfolgreich wachsenden Marktwirtschaften, das deren Politiker machtvoll gegen andere Staaten durchsetzen und dafür die eigene Bevölkerung rücksichtslos in Anspruch nehmen.

Teil 2 dieses Beitrags von Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie lesen Sie hier.

  1. Zu dieser Strategie gehört es auch, zum Zwecke der Abschreckung in den Herkunfts- und Transitländer Filme über den qualvollen Tod der Flüchtlinge zu zeigen, die diesseits des Mittelmeeres den Fernsehzuschauer eher nicht zugemutet werden sollen.
  2. Horst Köhler am 22. Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio
  3. Die Beurteilung von Kriegen im Hinblick auf deren Rechtfertigung, die so beliebte Unterscheidung zwischen fremder böser und eigener guter Gewalt (bei Linken ist es manchmal auch anders herum), die Frage, wem auf dem imperialistischen Schlachtfeld unsere Sympathie gebührt – all diese Anstrengungen zeugen überhaupt nur vom parteilichen Nachvollzug der praktischen imperialistischen Konkurrenz.