Prof. Bekim Agai im Gespräch

„Wir müssen uns positionieren aber nicht distanzieren“

Die Terrormiliz IS treibt im Irak und in Syrien ihren Krieg und Muslime in Deutschland sollen sich davon distanzieren. Nasreen Ahmadi sprach mit Prof. Bekim Agai über diese Forderung, ihre Folgen und was man tun bzw. vermeiden sollte.

MiGAZIN: Immer mehr Vertreter des Islams und viele Theologen in Deutschland aber auch weltweit verurteilen ausdrücklich die Gräueltaten der Terrorgruppe IS im Irak und in Syrien. Müssen sich Muslime für jegliche Art von Verbrechen, die im Namen des Islams begangen werden, distanzieren und bedeutet eine Distanzierung nicht, dass Muslime in der Nähe der Terrormiliz IS stehen würden?

Bekim Agai: Genau deshalb haben wir das Wort „Distanzierung“ in unserer Frankfurter Erklärung zum IS nicht verwendet. Das Wort Distanzierung, das in diesem Zusammenhang stets genannt wird, trifft die Sache eigentlich nicht, denn hier geht es um eine Positionierung. „Distanzierung“ suggeriert eine prinzipielle Nähe zu denjenigen, die Terror und Gewalt mit Religion rechtfertigen, die nicht gegeben ist.

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Als muslimische Theologen, aber auch als Bürger und Muslime müssen wir unsere Bestürzung und Zurückweisung zum Ausdruck bringen, da bestimmte Handlungen hier islamisch legitimiert werden. Es geht also um eine Positionierung und Aufklärung darüber, wofür wir als die Träger einer universitären theologischen Beschäftigung mit dem Islam stehen und die Formulierung einer Haltung. Diese aufklärerische Haltung richtet sich nicht nur an eine nicht-muslimische Öffentlichkeit, sondern auch an Muslime selbst.

Was vermissen Sie in der öffentlichen Debatte über die Terrormiliz IS am meisten?

Gerade in den Teilen des Nahen Ostens, in denen Bürgerkrieg und Terror nun schon seit Jahren wüten, sind unter den Opfern und Vertriebenen auch Muslime, ebenso wie Christen und Yeziden. Dies ist ein Aspekt, auf den nicht oft genug hingewiesen wird. Es entsteht der Eindruck, als sei diese entfesselte Gewalt gegen bestimmte Gruppen gerichtet und würde von Muslimen gegen andere ausgeübt, das ist mitnichten der Fall. Über viele Jahrhunderte gewachsene Verhältnisse des Zusammenlebens unter Hoheit verschiedener sich ausdrücklich islamisch legitimierender Herrscher wie zum Beispiel dem osmanischen Sultan und Kalifen werden hier durch Verwendung einer religiösen Rhetorik für „unislamisch“ erklärt.

Es muss deutlich gemacht werden, dass die IS damit jenseits grundlegender sunnitischer Überzeugungen steht. Denn grade die Medien sprechen hier oftmals von extremistischen „Sunniten“. Aber der sogenannte „IS“ steht gerade nicht in der sunnitischen Tradition, sie lehnt die Tradition geradezu ab. Sie ist ein Produkt einer totalitären Moderne.

Die allgemeine Öffentlichkeit übersieht manchmal, dass diese Menschen auch Ängste und Sorgen haben und diese zunächst einmal im direkten Lebensumfeld Deutschland stattfinden. Aber statt sie in einer Willkommenskultur zu inkludieren, wie es der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff getan hat, scheint man friedliche Muslime latent dafür schuldig zu machen, was zurzeit im Nahen Osten passiert, der für die meisten eine Region ist, aus der vielleicht vor drei Generationen Verwandte herkamen. Dabei hat das politische Chaos und Klima der Gewalt im Nahen Osten eine lange Vorgeschichte und ist nicht erst mit jungen Jihadisten entstanden.

Welche Auswirkungen hat das Ganze auf die Muslime in Deutschland?

Der Rechtfertigungsdruck, der in Deutschland auf Muslime ausgeübt wird, hat in Deutschland meines Erachtens bisher eher negative Auswirkung für diejenigen, die hiermit nicht vertraut sind. Sie verstehen nicht, was hier eigentlich vorgeht. Denken wir zum Beispiel an einen Enkel eines Syrers in Deutschland, der in der Moschee Trost sucht, weil seine Verwandten in Syrien umgekommen sind. Er soll nun gleichzeitig die Verantwortung für das übernehmen, was sogenannte „Muslime“ gemacht haben.

Das ist oft zu viel und führt zu einem Gefühl des Ausgegrenzt- und Alleingelassenseins und der Hilflosigkeit. Öffentliche Stimmen wie die der Verbände und der Akademiker sind hier wichtig, um diesen Menschen eine Stimme zu geben.

Besteht nicht auch die Gefahr, dass durch die ständigen Distanzierungsforderungen ein Ihr-Gefühl geschaffen wird, anstelle eines Wir-Gefühls?

Agai: Genau das ist die Gefahr, obwohl es im realen Leben genug Gegenbeispiele gibt. Diese werden von den Medien allerdings nicht ausreichend gewürdigt, weil sie eben normal sind. Es ist nun einmal so, dass Medien ihr Geld eher mit schlechten Nachrichten verdienen. Umso mehr sind die Förderung eines friedlichen Zusammenlebens und die Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements in diesem Bereich wichtig. Vielleicht sollte die Politik die Normalität und die gelungenen Beispiele von „Wir-Initiativen“ stärker in den Vordergrund bringen.

Es gibt junge Muslime, die in den Irak gehen und sich der IS anschließen. Die Gründe dafür suchen viele in der Religion und geben ihr die Schuld. Ist das nicht eine zu einfache Antwort?

Agai: Ja, in der Tat. Diese jungen Leute werden ja nicht Muslime und schließen sich einer lokalen oder traditionellen muslimischen Gemeinschaft an. Sie suchen ja gerade nicht die Form von Religiosität, die Muslime in Moscheen und Familien leben, sondern entfremden sich vom Islam der Mehrheit. Im schlimmsten Fall, wie jetzt bei der IS, wird diese Form des muslimischen Alltags abgelehnt, weil sie diese als Häresie betrachten. Ich würde auch nicht sagen, dass diese Menschen zum Islam (re-)konvertiert sind, sondern sie sind zum Jihadismus konvertiert, egal welcher religiösen Überzeugung sie vorher angehört haben.

Der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy sagt, dass sich diese jungen Leute im Geist nicht von links- oder rechtsextremen Gruppierungen unterscheiden, die eine Revolution mit Gewalt durchsetzten wollen, und zieht vergleiche zur RAF, den Roten Brigaden und zur anderen Terrororganisationen des 20. Jahrhunderts. Vor allem in der Art der Inszenierung und Selbstdarstellung oder der Art, wie Botschaften gesendet werden, sieht er Parallelen. Er nennt diese Leute „Rebellen ohne Ziel und Orientierung“. Deswegen ist es richtig, vom Jihadismus als „Ismus“ zu sprechen, da es keine Religion ist, die sich auf Tradition beruft, sondern eine globale, politische Ideologie, die eines mit ihren europäischen verwandten Ideologien gemein hat: Sie reduziert die Komplexität der Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, und macht aus Suchenden Besitzer von Wahrheit, erhebt fehlbare Menschen zu Richtern im Namen von Wissenschaft, Rasse, Klasse oder Religion.

Die Abgründe solcher Ideologien hat Europa im 20. Jahrhundert vorgeführt. Dies sollte allen Menschen, überall eine Lehre sein. Ich glaube, dass wir diese Seelenverwandtschaft deutlicher machen sollten, anstatt den Jihadismus isoliert und dem Islam originär zu betrachten. Die Islamizität der IS-Ideologie ist nur eine Komponente und wird im Zusammenspiel mit anderen Ideologiefragmenten bedeutsam. Eine solche Sicht würde Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen helfen, das Problem zu begreifen.

Sorgen müssen uns also nicht die eingewanderten oder Neumuslime machen, sondern diejenigen, die den Jihadismus als eine Ersatzreligion für ihre radikale Protesthaltung und zur selbstherrlichen Selbstüberhöhung wählen. Diese Jugendlichen sind der hiesigen, westlichen Gesellschaft entsprungen und hier muss die Problemanalyse und Ursachenbekämpfung ansetzen.

Was können Ihrer Meinung nach die Moscheengemeinden und der Staat hier tun, um diese Jugendlichen von der Ideologie des Extremismus wegzubekommen?

Agai: Grundsätzlich würde ich sagen, dass die Existenz und der normale Umgang mit der muslimischen Mitte in Deutschland vor Extremismus schützen kann. Dazu gehört die stärkere Integration ins Bildungssystem, die Normalität von Muslimen im Öffentlichen Dienst und an den Schulen, auch mit Kopftuch und das Gefühl, dass alle Wege in die Gesellschaft offen stehen. Hierzu gehört auch eine Diskussion über islamfeindliche Vorurteile. Je stärker die Mitte ist und der Weg in die Mitte der Gesellschaft möglich ist, umso weniger attraktiv sind ideologische Angebote am Rand, die eine prinzipielle Andersartigkeit von Muslimen propagieren und ein Leben außerhalb und im Konflikt zu dieser Gesellschaft propagieren.

Die Moscheen können und sollen in deutscher Sprache predigen, um die junge Generation in diesem Land anzusprechen. Der Salafismus erhält ja soviel Zulauf, weil er Prediger zu bieten hat, die das Weltbild der jungen Generation verstehen, und die es auch verstehen, in einer vereinfachten, ihnen zugänglichen Sprache zu sprechen.

Das Problem des Extremismus wiederum sollte von neutralen Wissenschaftlern untersucht werden. Dabei müssen sorgfältig die Ebenen von Religion, Theologie und politische Ideologien getrennt werden, denn Extremismus ist ja kein Problem, welches nur muslimische Jugendliche betrifft.

In den vergangenen Wochen und Monaten wurden vermehrt Brandanschläge auf Moscheen bekannt. Sind das nicht bedrohliche Zeichen dafür, dass hier etwas nicht in Ordnung ist?

Agai: Natürlich ist das bedrohlich und genau das schwächt die Mitte. Aber eines ist klar, so wie die Repräsentanten des Islams in Deutschland auf allen Ebenen erkennen müssen, dass jeder Kämpfer aus Deutschland in Syrien und Irak auch ihr Problem ist, so muss jeder Deutsche erkennen, dass solche Anschläge auf Moscheen in Deutschland ein Problem der deutschen Gesellschaft sind und nicht primär ein Problem der Betroffenen. Nur so kann das Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft mit ihren demokratischen Werten ernsthaft erfahren werden.