Kulturelle Vielfalt

Fußball als Lernort für die Migrationsgesellschaft

Özil, Klose oder Khedira stellen Leitfiguren eines ‚neuen deutschen Selbstverständnisses´ dar, erklären Stefan Metzger und Daniel Huhn. Doch Multikulturalität im deutschen Fußball ist – entgegen der vorherrschenden Meinung – ein alter Hut.

Beide tragen die Nummer elf, beide sind die Leistungsträger ihrer Mannschaft. Doch die Brüder Mesut und Mutlu trennen nicht nur zehn Ligen. Während es Mesut Özil von Westfalia Gelsenkirchen über Schalke 04 und Real Madrid zu Arsenal London schaffte, spielt sein Bruder Mutlu Özil in der Kreisliga bei Firtinaspor 95 in Gelsenkirchen. Während der eine Star der deutschen Nationalmannschaft ist und als Symbol einer ‚erfolgreichen Integration‘ gilt, spielt der andere bei einem von vielen migrantisch geprägten Vereinen in Deutschland, die häufig als Symbol einer ‚gescheiterten Integration‘ verstanden werden.

Der Fußball in Deutschland ist multikulturell, vom Amateurfußball über die Profiligen bis hin zur Nationalmannschaft. Beim Viertelfinale der WM in Brasilien gegen Frankreich hatten vier Spieler der deutschen Startelf einen so genannten Migrationshintergrund. Spieler wie der bereits genannte Mesut Özil, wie Miroslav Klose oder Sami Khedira sind nicht nur Akteure des ‚neuen deutschen Fußballs‘, sie sind auch Leitfiguren eines ‚neuen deutschen Selbstverständnisses‘.

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Kulturelle Vielfalt im Fußball zwischen Erfolgs- und Problemgeschichte

Was seit einigen Jahren im Bereich der Nationalmannschaft als Erfolgsgeschichte gefeiert wird und im Bereich des professionellen Fußballs zum Geschäft gehört, wurde und wird im Fußballalltag der Amateurligen oft als Problem definiert – insbesondere dann, wenn Migrantinnen und Migranten ihre eigenen Vereine gründen. Diese Vereine werden oft als etwas Neues, Fremdes und häufig als problembehaftet verstanden. Dabei zeigt ein Blick auf die Geschichte des Fußballs in Deutschland, dass dieser von Anfang an multikulturell geprägt ist.

Kulturelle Vielfalt im Fußball als historischer Normalfall

Der Fußball selbst migrierte vor knapp 150 Jahren aus England nach Deutschland. Die ersten Fußballvereine in Deutschland waren Vereine, die von Migrantinnen und Migranten aus England gegründet wurden. In der Weimarer Republik setzte dann ein wahrer Boom an Vereinsgründungen ein. Der Fußball war stark milieuverhaftet, und es taten sich zumeist kleine und homogene Gruppen zusammen, um eigene Vereine zu gründen. So existierten dänisch neben polnisch geprägten, katholisch neben jüdisch geprägten, proletarisch neben bürgerlich geprägten Vereinen, die teilweise auch in verbandsinternen Ligen spielten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Vielfalt nach und nach unterdrückt und letztendlich zerstört. Erst mit der Arbeitsmigration ab Mitte der 1950er Jahre wurden wieder migrantisch geprägte Fußballvereine gegründet. In den 1980er und 1990er Jahren kam es zu einer regelrechten Hochphase an migrantisch geprägten Vereinsgründungen. Einige blieben eine vorübergehende Erscheinung, aber viele dieser Vereine bestehen bis heute.

Verdrängte Erinnerung und die Fiktion der Homogenität

Die Geschichte und Geschichten kultureller Vielfalt im Fußball scheinen in der kollektiven Erinnerung fast vergessen, teilweise sogar bewusst verdrängt. Dies hängt u.a. mit den Erfahrungen aus der Nazi-Zeit und mit der Homogenitätsfiktion der Nachkriegsjahre zusammen. Die gesellschaftliche Erinnerung schmerzte, weil sie auch die eigene Schuld an der Zerstörung der Vielfalt ins Bewusstsein rief.

Fußball als Lern- und Aushandlungsort

Veranstaltungshinweis zum Thema: „Fluide Grenzen – Nationalismus und Nationalitäten im Fußball“: Freitag, 11. Juli, 16.00 – 18.00 Uhr im Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität,
Universitätsstr. 3b, Raum 002. Mit dabei sind unter anderem Naika Foroutan und Stefan Metzger.

Fußballverbände und -vereine agierten historisch gesehen zumeist herrschaftskonform und folgten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Doch es zeigt sich, dass der Fußball nicht nur gesellschaftliche Stimmungen aufnimmt, sondern diese auch prägen kann. Er bietet Raum, um neue Ideen auszuprobieren und neue Wege zu gehen, denen wiederum andere gesellschaftliche Bereiche folgen können. Letztlich konzentrieren sich besonders im Fußball die Herausforderungen der multikulturellen Gesellschaft. Dadurch wird der Fußball auch zum Lernort. Dort werden im Miteinander und Gegeneinander auf und neben dem Sportplatz Fragen der Teilhabe, der Zugehörigkeit sowie der Anerkennung von Menschen und Gruppen unterschiedlichster Herkunft ausgehandelt. Dort trifft alltäglicher Kosmopolitismus auf alltäglichen Rassismus. Dort wird diskutiert, wie der Sport im Einklang mit religiös-kulturellen Werten und Praxen ausgeübt werden kann. Dort werden Diskriminierungen erlebt, aber auch Erfahrungen gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung gemacht, die im alltäglichen Leben oftmals vermisst werden.

Kurzum: Der Fußball könnte seine Potenziale als Lern-, Diskussions- und Aushandlungsort der Migrationsgesellschaft Deutschlands deutlich stärker entfalten, wenn nicht nur die Leistungen der ‚Mesut Özils‘ gepriesen, sondern auch den vielen ‚Mutlu Özils‘ Anerkennung gezollt würde, die Woche für Woche auf den Kreisligaplätzen spielen, sich in den Vereinen engagieren und damit vielfältige Alltagskultur mitgestalten und aufrechterhalten.

Erstveröffentlichung: Eine Langfassung dieses Textes wurde erstmals in der Reihe WISO direkt der Friedrich-Ebert-Stiftung von Stefan Metzger und Daniel Huhn im November 2013 veröffentlicht.