Man muss dagegenhalten

Demokratie stellt sich Cevat anders vor

Beim Volksentscheid um das Tempelhofer Feld durfte jeder Sechste Berliner nicht mitstimmen, darunter der 66jährige Cevat Ünal. Er lebt zwar seit über 40 Jahren in Berlin, hat aber keinen deutschen Pass. Trotzdem geht er zur Wahlurne. Sybille Biermann hat ihn begleitet.

Mit entschlossener Miene tritt Cevat Ünal (66) an den Stand der Initiative „Wahlrecht für alle“, die an diesem Wahlwochenende auf dem Tempelhofer Feld in Berlin Neukölln ein symbolisches Wahllokal für all jene installiert hat, deren Stimmen nicht gezählt werden. Da der Volksentscheid um das umkämpfte Freizeitgebiet auf Landesebene verankert ist, können nur Inhaber eines deutschen Passes abstimmen. EU-Bürger und Drittstaatenangehörige sind ausgeschlossen – und somit jeder 6. Berliner. Gerade im Einzugsgebiet des Tempelhofer Feldes sind rund ein Drittel der Anwohner – und somit der direkt Betroffenen- nicht wahlberechtigt. 393 Stimmen hat die Initiative am Samstag vor der Wahl in ihrer Wahlurne gesammelt. Cevat Ünal war mit dabei.

23 Jahre alt war Herr Ünal, als er den Vertrag mit Siemens unterschrieb und aus seiner Heimatstadt Uşak nach Berlin zog. Das war im November 1972, erinnert er sich. Seine Verlobte Halide ließ er zurück und tauschte das Familienheim vorerst gegen eine Männerunterkunft am Richardplatz in Neukölln. Herr Ünal wirkt jung für einen 66jährigen und kniet sportlich in der Wiese nieder, die an den Stand der Initiative grenzt, während er erzählt. 1973 kam Halide ihm nach. Seither lebt das Ehepaar in Berlin, die meiste Zeit davon in Neukölln. Hier sind die Ünals Zuhause. Herr Ünal ist ein treuer Arbeitnehmer, wie viele seiner Generation. 6 Jahre Siemens, dann der Wechsel zu Moll Marzipan, als Techniker. Dort arbeitet er bis heute. „Ich war noch nie arbeitslos“, sagt er vehement. „42 Jahre lang habe ich in diesem Land Steuern gezahlt, aber wählen darf ich nicht.“

___STEADY_PAYWALL___

Zu jeder Wahl tritt er in ein Wahllokal und lässt sich auf der Liste suchen – wohlwissend dass er nicht darauf stehen wird. Einmal, erzählt er, ging eine engagierte Wahlhelferin mit ihm sogar bis zu ihrem Chef – ohne Erfolg, aber stolz machte ihn das trotzdem.

Die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, war für die Ünals nie ein Thema. „Das war immer nur ein Papier für mich“, winkt er ab. Den Doppelpass fände er gut. Der entspräche seiner Lebensrealität, und der seiner Familie. So kommt es dass Herr Ünal mit seinen 66 Jahren nur einmal so richtig offiziell gewählt hat, als er zufällig zu Wahlzeiten in der Türkei war. In der Türkei konnte bis 2012 nur im Land und an den Grenzen gewählt werden. Eine Möglichkeit zur Briefwahl gab es nicht. In Deutschland, wo er und seine Frau ihren Lebensmittelpunkt haben, Steuern zahlen und nicht zuletzt ihren Sohn und zwei Enkel großzogen, bleibt ihm dieses Recht verwehrt. Und dennoch: „Ich gehe immer wählen!“, erzählt Ünal mit Schalk in den Augen. Zu jeder Wahl tritt er in ein Wahllokal und lässt sich auf der Liste suchen – wohlwissend dass er nicht darauf stehen wird. Einmal, erzählt er, ging eine engagierte Wahlhelferin mit ihm sogar bis zu ihrem Chef – ohne Erfolg, aber stolz machte ihn das trotzdem.

Der Volksentscheid zum Tempelhofer Feld liegt ihm besonders am Herzen. Seine Familie hat dort einen Garten, den die Enkel mit der Oma pflegen. Die Treffen der Initiative zum Erhalt des Tempelhofer Feldes hat Cevat Ünal regelmäßig besucht. Dass seine Stimme und die seiner Familie dennoch nicht zählen sollen, ist ihm unverständlich. „Ich erfülle meine Pflichten, aber meine Rechte bekomme ich nicht“, ärgert er sich. Demokratie stellt er sich anders vor. Und geht auch an diesem Wahlsonntag zur Urne. Wieder lässt er sich auf der Liste suchen und abweisen. Das Übliche. Auch diesmal protestiert Herr Ünal. Der Wahlhelfer tut zwar seine Sympathie kund, kann aber nichts für Herrn Ünal tun. Das weiß der längst, aber wenigstens haben so ein paar Wartende im Wahllokal mitgehört. „Man muss dagegenhalten. Das ist mir wichtig.“