Joachim Gauck

„Es gibt ein neues deutsches Wir, die Einheit der Verschiedenen“

Bundespräsident Joachim Gauck lud am 22. Mai aus Anlass des bevorstehenden 65. Jahrestages des Grundgesetzes zu einer Einbürgerungsfeier ins Schloss Bellevue ein. Gauck eröffnete die Veranstaltung mit einer Rede zum Thema Integration. MiGAZIN dokumentiert die Rede im Wortlaut:

Herzlich willkommen an einem Tag, der uns einen doppelten Grund zur Freude gibt: Morgen wird unser Grundgesetz 65 Jahre alt. Und heute werden 22 unter Ihnen Staatsbürger einer Republik, die auf der besten Verfassung gründet, die es in Deutschland jemals gab.

Liebe Ehrengäste: Ihre Lebensgeschichten sind so unterschiedlich wie die Gründe und Wege, die Sie hierher geführt haben. Einige von Ihnen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Andere kamen als Arbeiter, Führungskräfte oder Wissenschaftler. Manche sind vor Gewalt und Unterdrückung geflohen, andere suchten ein besseres, ein freieres Leben für sich und ihre Kinder, wieder andere folgten dem Glück oder der Liebe. Sie oder Ihre Eltern kommen aus Polen, Ungarn und Rumänien, aus der Ukraine und der Türkei, aus Ghana, Kamerun und der Elfenbeinküste, aus Bolivien und Brasilien, aus Israel, Nepal und dem Iran.

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Unser Land, von dem noch vor einem Menschenalter Krieg und Völkermord ausgingen, ist inzwischen Heimat für Menschen aus 190 Nationen. Ganz gleich, woher Einwanderer stammen und wie sie kamen – im Boot über das Mittelmeer oder in der Businessclass aus Übersee, als Erasmusstipendiaten oder Familiennachzügler: Sie alle sind nun in Deutschland zu Hause. Das erfüllt mich mit Dank und Freude. Denn es zeigt: Sie mögen dieses Land, sie vertrauen dieser Republik. Und die deutsche Staatsbürgerschaft erleichtert ihnen zudem den Alltag.

Mit dem Grundgesetz wurde das Fundament geschaffen für ein friedliches, pluralistisches und demokratisches Gemeinwesen. Erst für den Westen, später für ganz Deutschland. So ist unser Land Teil der freien Welt geworden. Es lebt im Frieden mit allen seinen Nachbarn. Es ist offen und vielfältig, stark und wohlhabend. Unsere soziale Marktwirtschaft und unser Sozialstaat versprechen gute Lebenschancen für alle. All das macht unser Land für viele Menschen in der Welt zu einem Sehnsuchtsort.

Zu diesem Deutschland sagen Sie, liebe Ehrengäste, heute auf neue Weise „ja“.

Wie soll dieses Deutschland in Zukunft aussehen, damit auch unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen können? Das habe ich in meiner ersten Rede als Bundespräsident gefragt. Daran möchte ich nun anknüpfen.

Die Rede von Joachim Gauck als Wortwolke – welche Wörter der Bundespräsident am häufigsten verwwendet hat © wordl.e, MiG

Ich will von den Veränderungen sprechen, die Einwanderung für unser Land bringt. Von den Zumutungen, die diese Veränderungen manchmal bedeuten. Von dem, was wir, Alt-Deutsche wie Neu-Deutsche, gewinnen werden und längst gewonnen haben. Vor allem aber möchte ich über die Haltung sprechen, mit der wir einander begegnen und begegnen sollten – als Gleiche und doch Verschiedene.

Jeder fünfte von uns hat inzwischen familiäre Wurzeln im Ausland, Tendenz steigend. Das hat gute Gründe: unsere wirtschaftliche und politische Stabilität, unsere Rechtssicherheit, unsere Zugehörigkeit zu einem Europa der Freizügigkeit und unsere humanitäre Verpflichtung gegenüber Verfolgten, nicht zuletzt auch die kulturelle Strahlkraft unseres Landes.

Ein Blick in diesen Saal genügt, um zu erkennen: Wer Deutscher ist, wird künftig noch viel weniger als bisher am Namen oder am Äußeren zu erkennen sein.

Und wenn ich in die Gesichter der jungen Leute hier vor mir sehe, dann weiß ich: Für diese Generation wird Deutschland nie anders gewesen sein als vielfältig.

Schauen wir uns um im Land. Mit Aydan Özoğuz sitzt erstmals eine Tochter von Einwanderern im Bundeskabinett. Dem Bundestag gehören heute mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund an als je zuvor. Ein Deutscher mit iranischer Familiengeschichte, Navid Kermani, wird morgen im Bundestag zur Feier unseres Verfassungstages sprechen. Ein im Irak geborener Designer, Rayan Abdullah, hat daran mitgewirkt, das Aussehen unseres Bundesadlers aufzufrischen und ihm im Wortsinne die Augen zu öffnen. Und einem türkeistämmigen Regisseur, Bora Dağtekin, verdanken wir den erfolgreichsten deutschen Spielfilm des vergangenen Jahres. Ilija Trojanow, Terézia Mora, Saša Stanišić, – so heißen heutzutage die Träger des Leipziger Buchpreises. Sie schreiben auf Deutsch, doch ihre Helden sind auch außerhalb Deutschlands zuhause.

Der Blick ins Land zeigt, wie – ja, ich würde sagen – skurril es ist, wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland. Es wird zunehmend als Normalität empfunden, dass wir verschieden sind – verschiedener denn je.

Dieser Wandel ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Nicht allen gefallen alle Begleiterscheinungen der Einwanderungsgesellschaft. Das ist auch verständlich: Das eigene Stadtviertel verändert sich. Nachbarn sprechen fremde Sprachen, haben andere Lebensgewohnheiten und Religionen. Ja, manche fürchten gar, ihr Heimatgefühl zu verlieren.

Einwanderung ist immer und überall zunächst mit Fremdheitsgefühlen verbunden. Verstärkt gilt das für Einwanderer aus hierarchisch geprägten Kulturen und Staaten. Sie fremdeln mit der offenen Gesellschaft, mit ihrer Freizügigkeit, ihrer zunehmenden Glaubensferne und dem, was sie als Vereinzelung empfinden.

Es ist wahr: Wo Verschiedenheit heimisch wird, ändert sich das Zusammenleben. Einwanderung setzt starke Gefühle frei und birgt gelegentlich handfeste Konflikte. Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: Jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Offen sein ist anstrengend.

Vergessen wir nicht: Migration ist der Geschichte der Völker nicht fremd – auch der deutschen nicht. Zu Hunderttausenden suchten unsere Vorfahren einst ihr Glück in der Fremde. Viele von ihnen würde man heute „Armutseinwanderer“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen.

Umgekehrt wissen wir auch, was es bedeutet, andere aufzunehmen. Die Kowalskis und de Maizières gehören heute so selbstverständlich zu uns, dass wir uns kaum mehr erinnern, wie sie heimisch wurden. Millionen Vertriebene haben nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, wie es ist, in einer deutschen Fremde anzukommen, nicht immer willkommen zu sein und schließlich doch ein neues Zuhause zu finden. Ich selbst weiß noch sehr gut, wie fremd uns in Mecklenburg die Sudetendeutschen nach dem Krieg erschienen, ihr Katholizismus, ihre Trachten, ihr ungewohnter Dialekt. Und heute? – ist diese Fremdheit vergessen.

Heimisch werden dauert. Wer weiß noch, dass gerade die deutschen Einwanderer in Amerika gern unter sich blieben und lange brauchten, ehe sie sich einfügten in der neuen Welt? Heimat zu finden ist eine Sache des Herzens, aber auch eine bewusste Willensentscheidung. Erst hält man Abstand, sucht das Vertraute. Dann kommt man mehr und mehr in Kontakt. Manchmal auch in Konflikt. Und schließlich wächst Gemeinschaft.

So geschieht es auch mit denen, die in den vergangenen 65 Jahren zu uns in die Bundesrepublik kamen: als sogenannte Gastarbeiter, als Aussiedler oder Flüchtlinge, als nachgezogene Ehepartner oder jüdische Einwanderer aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Rund 16 Millionen Menschen unter uns kennen Einwanderung aus eigener Erfahrung oder als Teil der Familiengeschichte. Vier Millionen sind Muslime.

Als längst klar war, dass viele bleiben würden, hieß es noch lange, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Diese Haltung ist weitgehend überwunden – zum Glück, denn sie hat denen, die dazugehören wollten, Beheimatung und Teilhabe erschwert, und sie hat der aufnehmenden Gesellschaft die Illusion erlaubt, sie müsse sich nicht gleichfalls verändern.

Inzwischen hat die Politik erkannt, dass es nicht ausreicht, nichts zu tun. In den vergangenen 15 Jahren ist vieles angestoßen worden, was längst überfällig war. Heute kennen wir Integrationskurse, -gipfel, -beauftragte. Und die meisten Menschen sehen den Alltag in der Einwanderungsgesellschaft inzwischen viel pragmatischer und gelassener, als er uns in Talkshows, Boulevardblättern oder Onlineforen begegnet. Das zeigt das sogenannte „Integrationsbarometer“ des Sachverständigenrats für Migration und Integration, und es weist sogar nach oben. Als Ziel für Zuwanderer wird unser Land immer beliebter – es steht inzwischen auf Platz zwei der Industrienationen, nach den USA und vor klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien.

Wir können also sagen: Deutschland ist auf einem guten Weg und hat eine große Wegstrecke bereits zurückgelegt.

Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdem kann Deutscher werden, wer in Deutschland geboren wurde, auch wenn seine Eltern es beide nicht sind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit, doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlich hinzunehmen. Einige unter Ihnen, liebe Ehrengäste, werden von heute an zwei Pässe besitzen dürfen.

Ich habe in den vergangenen Wochen viel mit jungen Menschen gesprochen, die eine Einwanderungsgeschichte haben. Sie bringen aus ihren Familien je eigene Leiden und Prägungen mit, eigene Geschichten und Erfahrungswelten, die auch die Nachfahren noch spüren werden – eine Erfahrung übrigens, die wir innerdeutsch nach 1990 gemacht haben. Wir waren alle Deutsche und trotzdem verschieden. Und so lernen heute viele Kinder und Enkel von Migranten die Sprache und die Lieder ihrer Vorfahren und fühlen sich gleichzeitig im Deutschen daheim. Wenn sie ihre Großeltern in Irkutsk, Izmir oder Isfahan besuchen, kehren sie zurück nach Hause in Kiel, Karlsruhe oder Köln.

Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf sage ich: Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck der Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von Menschen. Es ist gut, dass sie nun nicht mehr als notwendiges Übel oder als Privileg bestimmter Gruppen betrachtet wird. Unser Land lernt gerade, dass Menschen sich mit verschiedenen Ländern verbunden und trotzdem in diesem, unserem Land zu Hause fühlen können. Es lernt, dass eine Gesellschaft attraktiver wird, wenn sie vielschichtige Identitäten akzeptiert und niemanden zu einem lebensfremden Purismus zwingt.

Und es lernt, jene nicht auf Abstand zu halten, die schon längst zu uns gehören.

Eine junge Frau aus einer vietnamesischen Familie wird in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien ohne weiteres als Amerikanerin oder Britin akzeptiert. In Deutschland hingegen wird sie mit einiger Wahrscheinlichkeit befragt, woher sie denn „eigentlich“ stamme. Nun ist Neugier nicht verboten. Aber es sollte klar sein, dass solche Fragen auch signalisieren können: „Du gehörst nicht wirklich zu uns.“ Wer auf der Straße eine Schwarze quasi automatisch auf Englisch anspricht, will vielleicht höflich sein, schließt aber zugleich damit aus, dass er eine schwarze Deutsche vor sich haben könnte.

Vor ein paar Wochen saßen hier auf der Bühne im Schloss Bellevue drei Journalistinnen: junge Frauen mit polnischen, vietnamesischen und türkischen Familiengeschichten, allesamt – wie es so schön heißt – „bestens integriert“. Sie sprachen von ihrem Verhältnis zu Deutschland, von zwiespältigen Emotionen. Ich zitiere: „Wut, weil wir das Gefühl haben, außen vor zu bleiben; weil es ein deutsches ‚Wir‘ gibt, das uns ausgrenzt. Und Stolz, weil wir irgendwann beschlossen haben, unsere eigene Identität zu betonen.“

Solche Worte treffen mich, und sie freuen mich zugleich. Sie treffen mich, weil sie bedeuten: Menschen, die hier geboren, aufgewachsen und heimisch sind, fühlen sich immer wieder aufs Neue zu „Anderen“ gemacht.

Das darf nicht sein. Hören“ wir „auf, von „wir“ und „denen“ zu reden. Es gibt ein neues deutsches „Wir“, die Einheit der Verschiedenen. Und dazu gehören Sie genauso selbstverständlich wie ich.

Die Worte der drei Frauen freuen mich zugleich, denn ich erkenne dahinter auch Selbstbewusstsein. Sie wollen mitgestalten. Und etwas Besseres kann unserem Land nicht passieren. Denn sie bringen ihre Erfahrungen und ihre Träume mit. Sie erschließen Räume zwischen unterschiedlichen Traditionen und Lebenseinstellungen – und erweitern damit unseren gemeinsamen kulturellen Raum.

Erweiterung ist Kennzeichen der Lebenswirklichkeit in Einwanderungsgesellschaften. Das betrifft Alteingesessene genauso wie Hinzugekommene. Erweiterung umfasst zweierlei: Wenn etwa Konflikte aus Herkunftsländern auch in Deutschland ausgetragen werden, erleben wir Erweiterung als belastend. Aber das Miteinander der Verschiedenen hat uns doch kulturell und menschlich so viel positive Erfahrungen beschert, das wir dafür ganz bewusst das schöne Wort „Bereicherung“ verwenden dürfen.

Das alles war auch für mich ein Lernen, ein Kennenlernen.“ Ich „komme aus Mecklenburg. Dort, wie generell in der DDR, ist man sich bekanntlich ziemlich ähnlich gewesen.“ Ich „habe selbst gemerkt, dass man in wenigen Jahren sein Bild vom „Ich“ und vom „Wir“ verändern kann. Es waren Begegnungen mit Menschen verschiedener Herkunft, die mich verändert haben. Ich traf oft auf Menschen, die beglückt, tatkräftig und zuversichtlich sind, weil sie hier so leben, so lieben und so glauben können, wie sie es wollen. Ich wünschte mir, dieses Lebensgefühl würde von mehr Menschen in Deutschland geteilt.

Und noch etwas. Es gibt ein altes lateinisches Sprichwort: Ubi bene, ibi patria. Frei übersetzt: Wo es mir gut geht, dort ist mein Vaterland. Unzählige Einwanderer sind dankbar, dass ihnen dieses Land Zukunft eröffnet und Rechtssicherheit bietet, und sie in einer rechtstreuen Gesellschaft leben.

Ich habe also mein eigenes Land neu sehen und seinen Weg verstehen gelernt: Einwanderung wurde zuerst ignoriert, dann abgelehnt, später ertragen und geduldet, schließlich als Chance erkannt und bejaht. Heute weiß ich:“ Wir „verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptieren.“ Wir „wollen dieses vielfältige „Wir“. Wir wollen es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.

Vor diesem Hintergrund können wir auch viel gelassener über die Probleme reden, die mit der Einwanderungsgesellschaft auch verbunden sind: Ghettobildung und Jugendkriminalität, patriarchalische Weltbilder und Homophobie, Sozialhilfekarrieren und Schulschwänzer. Ja, es gibt Familien, deren Mitglieder Dauergäste bei Polizei und Justiz sind. Ja, es gibt Milieus, in denen die Hinwendung zur Religion zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft führt. Ja, es gibt Einwanderer, die Antisemitismus mitbringen. Ja, es gibt Familien, in denen die Rechte von Frauen und Mädchen missachtet werden.

Ja, es gibt reale Befunde, die wir ernst nehmen müssen. Probleme dürfen nicht verschwiegen werden, weil die falsche Seite applaudieren könnte. Gleichzeitig müssen wir aber darauf achten, mit Kritik an diesen Phänomenen nicht ganze Gruppen zu stigmatisieren. Auch gilt es, kulturelle und soziale Ursachen nicht einfach in einen Topf zu werfen. Und statt darüber zu streiten, welche Probleme nun unzulässig dramatisiert oder verharmlost werden, sollten wir unsere Energie lieber darauf verwenden, Probleme zu lösen – gemeinsam, als Anliegen unserer Gesellschaft.

Auf viele Probleme gibt es klare Antworten. Diese Antworten sind auch nicht verhandelbar, denn sie finden sich im Gesetz. Sie gelten, egal, wie lange jemand schon hier lebt. Sie durchzusetzen, ist Sache des Staates. Es kann keine mildernden Umstände geben für kulturelle Eigenarten, die unseren Gesetzen zuwiderlaufen.

In anderen Fällen tun wir uns schwerer. Immer wieder werden wir ausloten müssen: Welche Werte sind für ein gelingendes Zusammenleben unverzichtbar? Welche sind verhandelbar? Wo ist Toleranz geboten? Wann wandelt sie sich in Gleichgültigkeit oder wird zur bequemen Kapitulation vor Intoleranz?

Eine gute Richtschnur ist unsere Verfassung, die wir heute feiern, am Vorabend des Tages des Grundgesetzes. Sie ist der Grund, auf dem wir einander begegnen – als Bürgerinnen und Bürger, die wir zuallererst sind.

Achtung vor der Würde des Einzelnen, Gleichberechtigung, Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden: Auf diesen Werten und Normen beruht unsere Freiheit. Es sind Werte, die wir über Jahrzehnte eingeübt haben. Ich habe häufig schon erlebt, wie sehr sie gerade von jenen geschätzt und verteidigt werden, die aus Ländern stammen, in denen sie missachtet werden. Es ist unsere Sache, von Bürgerinnen und Bürgern, für diese Werte einzustehen.

Wir verteidigen sie gemeinsam gegen alle, die unsere offene Gesellschaft verachten oder gar gefährden, gegen Feinde der Demokratie, gegen alle Rassisten und Fundamentalisten, gleich welcher Herkunft und welcher Ideologe: „Null Toleranz“ gegenüber jenen, die unseren gemeinsamen Grund der Verfassung verlassen.

Wir sind die Vielen. Das müssen wir zeigen. Und wir müssen dazulernen – auch aus dem Erschrecken darüber, wie lange Morde einer terroristischen Gruppe an Einwanderern unentdeckt blieben, weil nur so wenige sahen, woher die Täter kamen.

Innerhalb des Rahmens unserer Verfassung und der Gesetze kann jeder nach seiner Façon selig werden. Unsere Gesellschaft lässt Andere anders sein. Sie hat sogar abseitige Meinungen und Lebensweisen zu ertragen. Und sie ist offen für Veränderungen, sofern diese Veränderungen im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Das ist ihre große Stärke.

Gerade eine Einwanderungsgesellschaft ist immer Aushandlungsgesellschaft.

Dafür gibt es viele Beispiele: etwa die Debatten um den Bau von Moscheen, um das Kopftuch im öffentlichen Dienst oder um die Beschneidung von jungen Juden und Muslimen. In manchen Fragen wird kein Kompromiss alle Beteiligten zufriedenstellen und allen Bedenken Rechnung tragen. In anderen Fällen ist Entgegenkommen nicht schwer: Es ist eigentlich kein großer Schritt, die Bestattungsregeln an muslimische Gebote anzupassen – für viele Gläubige aber ein bedeutsamer.

Hinter vielen Aushandlungsprozessen steht der Wunsch nach Anerkennung, Gleichberechtigung und Teilhabe. In anderen Aushandlungsprozessen wird nachjustiert, was bisher unzureichend geregelt wurde. Und immer geht es dabei auch um die Frage, welche Veränderungen unsere Gesellschaft akzeptiert.

Wir werden solche Auseinandersetzungen immer öfter erleben – aber nicht, weil Integration immer schlechter, sondern im Gegenteil, weil sie immer besser gelingt.

Dabei muss niemandem bange sein um das, was unser Land geprägt hat und es noch heute ausmacht. Was deutsch ist, ist nicht leicht zu fassen, und es verändert sich auch. Es sind bestimmte Tugenden und Gewohnheiten, Traditionen und Bräuche, Lieder und Speisen, die Klassiker der Literatur, Musik und Kultur, die uns unsere Vorfahren hinterließen, all das, warum sich jemand deutsch fühlt, spätestens wenn er ins Ausland reist.

Wir wollen nicht, dass Kindergärten aus falsch verstandener Rücksicht auf Sankt-Martins-Umzüge verzichten oder Belegschaften die Weihnachtsfeier in „Jahresabschlussfeier“ umtaufen. Und wer vom Bundespräsidenten eine Weihnachtskarte bekommt, wird weiterhin „Frohe Weihnachten“ lesen und nicht etwa „Seasons greetings“.

Wer seine eigenen kulturellen Werte gering schätzt, wird kaum von Anderen Respekt dafür erhalten. Ich wünsche mir einen Alltag, in dem wir das selbstverständlich Eigene achten – und dem Anderen selbstverständlich Raum geben.

Unser Land braucht Einwanderung. Die demographischen und wirtschaftlichen Begründungen sind schon oft und überzeugend vorgetragen worden. Dabei ist klar: Wir können nicht alle aufnehmen, die kommen möchten. Wir haben begonnen, Einwanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche Voraussetzungen für Zuwanderer zu schaffen. Und für jene, die bereits hier leben, sind Wege zu finden, wie sie ihre Potentiale tatsächlich entwickeln und einbringen können. Es ist eine immense Herausforderung für unser gesamtes Bildungssystem, Kindern heutzutage annähernd gleiche Startchancen zu verschaffen, egal, in welchem Stadtviertel und in welche familiäre Situation sie geboren werden.

Zwar sind die Eltern in erster Linie verantwortlich: Viele fördern ihre Kinder intensiv, wollen unbedingt, dass ihre Kinder es einmal besser haben. Aber da, wo die Eltern – warum auch immer – ausfallen oder überfordert sind, da können wir den Kindern doch nicht sagen: Pech gehabt!

Vor allem in den Großstädten gibt es Milieus – übrigens nicht nur in Einwanderervierteln –, in denen Kinder niemanden haben, der ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben helfen kann. Für diese Kinder muss die Schule den Nachteil ausgleichen. Vor allem muss sie das Erlernen der deutschen Sprache fördern.

Wir müssen um jedes dieser Kinder kämpfen. Denn es sind unsere Kinder, sie wachsen in unserer Gesellschaft auf, gehen in unsere Kindergärten und Schulen. Es ist unser Erfolg, wenn sie erfolgreich sind, und unser Scheitern, wenn sie scheitern.

Wenn Kinder heute, aus den unterschiedlichen Gründen, immer seltener den Erwartungen entsprechen, die Schulen bisher hatten, dann müssen sich auch unsere Schulen ändern.

Es gibt solche, die das in bewundernswerter Weise schaffen, mit aufmerksamen Lehrerinnen und Lehrern, die unterschiedliche Begabungen erkennen, unterschiedlichen Herkünften Rechnung tragen, die Mut machen, Grenzen aufzeigen und Verabredungen mit den Eltern treffen. Tatsache ist aber auch: Es sind noch zu wenige Schulen, in denen all das geschieht und zu viele Lehrerinnen und Schulleiter, die sich alleingelassen fühlen.

Am Ende ist es immer auch ein Ringen um Ressourcen. Kein Weg führt vorbei an der Einsicht: Ein gerechtes Bildungssystem, eines, das Verschiedensein auch als Bereicherung begreift und das den Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft genügt, ein solches Bildungssystem wird Geld kosten – Geld, das gut angelegt ist!

Chancengerechtigkeit braucht aber noch mehr als Geld, nämlich eine geistige Öffnung. Dass jeder fünfte in unserem Land eine Einwanderungsgeschichte hat, muss überall sichtbar werden, nicht nur auf dem Fußballplatz oder bei der Tagesschau. Wir brauchen viel mehr Rollenvorbilder, viel mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Schulen und Behörden, bei Polizei und in Kindergärten, in Theatern und Universitäten, in Redaktionen und Ministerien, in Parteien und Verbänden!

Einstieg und Aufstieg zu gewährleisten, ist beides: eine Frage der Gerechtigkeit und ein Gewinn für die Gesellschaft.

Eine wichtige Funktion auf dem Weg in die Mehrheitsgesellschaft kommt dabei jenen zu, die als Eingewanderte neuen Einwanderern den Weg ebnen. Ich habe selbst bei meinem Besuch der Stadtteilmütter in Berlin-Neukölln erfahren, wie wichtig gezielte Starthilfe ist, wie wertvoll es ist, wenn jemand kommt, der sagt: „Ich zeige Dir einen Weg.“ Diese Frauen sind selbst eingewandert. Sie öffnen Türen, die anderen verschlossen bleiben. Sie wissen, wie schwierig es ist, zwischen den Erwartungen der Herkunftskultur und denen der hiesigen Gemeinschaft zu leben. Sie kennen die Ängste mancher Eltern, ihre Kinder in der neuen Gesellschaft nicht mehr zu verstehen, ja, sie zu verlieren. Solche Mentorenprogramme gibt es auch andernorts. Ich kann nur schwer verstehen, warum ihr Fortbestand oftmals in Frage steht.

Ich kann auch nicht mehr verstehen, warum Jugendliche, bloß weil sie Slavenka oder Mehmet heißen, bei gleichem Zeugnis und Lebenslauf noch immer schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle oder eine Wohnung haben als Lena oder Lukas. In unserem Grundgesetz steht dazu ein Satz, der klarer nicht sein könnte: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Diskriminierung schadet allen. Junge Leute aus Einwandererfamilien werden entmutigt und verleitet zu sagen: „Wozu soll ich mich anstrengen, die wollen mich doch eh‘ nicht“. Und diejenigen, die es geschafft haben, eine gute Ausbildung zu erhalten, werden danach in Länder gehen, in denen man sie nach ihrer Leistung beurteilt und nicht nach ihrer Herkunft. Dorthin, wo ihnen nicht ständig bedeutet wird: „Passt Euch gefälligst an“, sondern wo man sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit annimmt – und mitgestalten lässt.

Es gäbe noch viel darüber zu sagen, wie sich unsere Gesellschaft und ihre Institutionen besser auf das Zusammenleben der Verschiedenen einstellen könnten.

Aber dann werden Sie, liebe Ehrengäste, sich fragen: Bekomme ich heute wohl noch meine Einbürgerungsurkunde? Auch ich freue mich sehr auf diesen Moment und darauf, Ihnen eine Ausgabe unseres Grundgesetzes zu überreichen, die wir eigens für diese Einbürgerungsfeier – und für hoffentlich noch viele weitere – haben drucken lassen.

Lassen Sie mich deshalb zum Schluss kommen, zuvor aber noch von einer Begegnung erzählen. Es war ausgerechnet ein junger Mann, ein türkeistämmiger Deutscher, der mir kürzlich in einer Gesprächsrunde über Integrationsprobleme riet: „Geduld!“

Ich war erstaunt. Ja, wir brauchen auch Geduld. Aber Einwanderung gelingt auch deshalb, weil viele von uns früher Ungeduld an den Tag legten und alles daran setzten, Politik und Gesellschaft in Bewegung zu bringen.

Ich bin sicher: Die Geduldigen wie die Ungeduldigen werden gemeinsam dafür sorgen, dass alle, die hier leben, zu diesem Land „unser Land“ sagen können.

Dieses, unser Land ist heute, und es ist auch mit Ihrer Ankunft in der Staatsbürgerschaft, nicht vollendet und nicht perfekt. Nach Ihnen werden andere Menschen zu uns kommen wollen. Und es wird weiter Reibung geben und Annäherung. Und Sie werden dann zu den Alteingesessenen gehören und werden, zusammen mit meinen Kindern, neu um Toleranz, Respekt und Teilhabe ringen. In einer offenen Gesellschaft sind es auch die Kontroversen, die zu neuen Normalitäten führen.

Zu dieser Gesellschaft, zu diesem Deutschland sagen Sie heute ganz bewusst „ja“. Und dieses Land sagt „ja“ zu Ihnen.