Fachkräftemangel

Was wir lernen müssen und worauf es heute ankommt

Jedes Jahr verliert der deutsche Arbeitsmarkt hunderttausende Arbeitskräfte. Wieso die Löhne trotzdem nicht steigen und was sich durch den Fachkräftemangel ändert – für Arbeiter wie für Personalabteilungen – erklärt Chris Pyak. Eine Replik auf Sabine Schiffers „Fachkräftemangel – gibt es den überhaupt?“

Wuppertal ist menschenleer. Die Geschäfte verwaist, die Wohnungen aufgegeben. Niemand fährt mehr Schwebebahn oder füttert die Tiere im Wuppertaler Zoo. 350.000 Menschen – alle verschwunden. Das ist die Realität auf dem deutschen Arbeitsmarkt. In diesem Jahr gehen 1,1 Millionen Menschen des Jahrgangs 1950 in Rente. Ersetzt werden sie durch den Jahrgang 1995, der jetzt erste Berufserfahrungen sammelt. Doch der umfasst nur 765.000 Menschen.

Es gibt dieses Jahr eine Lücke von 365.000 potenziellen Arbeitnehmern, die nicht gefüllt werden kann. Größer als die gesamte Einwohnerzahl von Wuppertal. Und das ist erst der Anfang. Seit 40 Jahren werden in Deutschland weniger Kinder geboren, als alte Menschen sterben. Das rächt sich jetzt. Von nun an verlieren wir jedes Jahr eine Großstadt an Arbeitskräften: Kassel, Münster, Bonn, Bielefeld, Wuppertal, Bochum, Duisburg, Nürnberg, Hannover, Leipzig, Dresden, Bremen, Essen, Dortmund und Düsseldorf: Stellen Sie sich all diese Städte als menschenleere Ruinen vor – und sie verstehen wie viele Arbeitskräfte unserem Land in den nächsten zehn Jahren verloren gehen.

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Bis 2025 verlassen 6,5 Millionen Arbeitnehmer ihre Schreibtische und Werkbänke. Jeder sechste Arbeitsplatz kann in zehn Jahren nicht mehr besetzt werden, hat die Bundesagentur für Arbeit errechnet. Und machen Sie sich keine Illusionen: Dies ist keine Vorhersage die auf Vermutungen aufbaut. Denn wie viele Menschen in Rente gehen und wie viele neue Arbeitskräfte verfügbar sind, ist genau bekannt. Wer 2025 seinen ersten Job antritt ist bereits geboren – oder eben nicht.

Angesichts der Fakten ist es verwunderlich, dass Argumente im Stil von „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, selbst bei gebildeten Mitmenschen überleben. Auch wenn Sabine Schiffer im MiGAZIN vom „Lohndumping“ spricht, meint sie in Wirklichkeit die vermeintliche Konkurrenz durch ausländische Mitarbeiter. In Wirklichkeit sollten wir die jungen Menschen, die zu uns kommen, mit offenen Armen empfangen. Wir brauchen Sie dringend:

Was wir heute als Fachkräftemangel erleben sind nur die ersten Kiesel der anrollenden Lawine. Ein Blick in die Krankenpflege zeigt die Zukunft aller Branchen: Schon heute fehlen 30.000 Pflegekräfte. Diese Lücke wird in wenigen Jahren auf weit über 100.000 steigen. Denn die 6,5 Millionen zusätzlichen Rentner wollen versorgt werden. 37.000 Jobs sind in der IT-Branche offen. Den 27.000 arbeitslosen Ingenieuren stehen 54.000 offene Stellen gegenüber. All das: nur die erste Brise des heranziehenden Sturms.

Wenn wir nicht mehr Arbeitskräfte gewinnen, wird unsere Wirtschaft an Kraft verlieren – genau zu dem Zeitpunkt, an dem wir mehr Geld benötigen, um all die Alten zu versorgen. Dann werden die Verteilungskämpfe zwischen Jung und Alt unser Land zerreißen. Bleibt eine Frage: Wenn das alles wahr ist, warum steigen dann die Löhne nicht? Warum müssen sich so viele junge Leute mit Praktika und befristeten Stellen begnügen?

Die Antwort: Trägheit.

Die Entscheider in den Personalabteilungen erkennen das Problem. Sie sehen, dass Positionen immer länger unbesetzt bleiben. Aber dann handeln sie so, als ob sich nichts geändert hätte. Mit Gimmicks wie Social Media versuchen sie, die gleichen Auswahlprozesse wie in der Vergangenheit durchzuführen. Doch die Spielregeln haben sich geändert:

In der Industriegesellschaft mussten Bewerber möglichst exakt in eine Schablone passen. Das machte Sinn, denn die meisten Jobs waren standardisierte Aufgaben die immer wiederholt wurden. Henry Ford hat das „Model T“ nicht aus einer Laune heraus nur in Schwarz angeboten. Schwarz ist die Farbe, die am schnellsten trocknet. Je identischer alle Arbeiter, desto größer die Produktion. Doch die Industriegesellschaft ist tot.

Heute fertigen Maschinen individualisierte Produkte. In wenigen Jahren werden 3D Drucker die „Massenproduktion“ durch persönliche Designs für jeden einzelnen Kunden ersetzen.

Tot ist auch die Wissensgesellschaft. Reine Information gibt es heute im Überfluss. Sie ist ein Rohstoff – und entsprechend billig. Wer vor Jahren noch mit analytischem Denken punkten konnte, sieht sich heute auf dem Abstellgleis. Denn analytisches Denken heißt: Ursache – Wirkung Denken. Prozesse in einzelne Schritte zerlegen können. Wer kann das besonders gut? Computer.

Juristen sind hochintelligente Menschen. Doch die Einstiegsjobs, die nur analytisches Denken und Recherche erfordern, werden in Indien erledigt. Wir erleben den Anfang der Kreativgesellschaft. Analytisches Denken bleibt wertvoll – ist aber alleine nicht ausreichend. Heutige Kunden erwarten individuelle Lösungen und persönliche Ansprechpartner.

Wer in Zukunft beruflich erfolgreich sein will, muss deshalb Neues erschaffen können. Es nützt nichts, die Faxmaschine zu perfektionieren, wenn heute alle email nutzen. Kreatives Denken lässt sich nicht ersetzen: Hier wird Wert geschaffen. Und damit sichere Arbeitsplätze.

Der zweite Bereich mit großer Zukunft: Menschliche Beziehungen. Wer – zum Beispiel – alle Arbeitslosen in die Altenpflege pressen will, unterschätzt die Herausforderungen dieses Berufes. Denn neben dem immensen Fachwissen und körperlicher Geschicklichkeit brauchen Pflegekräfte vor allem Empathie – und gleichzeitig die Fähigkeit, diese Gefühle am Ende des Arbeitstages auf der Station zu lassen. Das kann man nicht lernen. Dazu braucht man Talent.

Wie gut Ihre persönlichen Berufsaussichten sind, können Sie leicht testen: Lässt sich Ihre Arbeit in einzelne Schritte zerlegen, die immer wiederholt werden? Dann werden Sie es schwer haben. Ein Computer oder Arbeitskräfte in Indien werden immer billiger sein als Sie.

Wenn Sie in Ihrem Job jedoch nicht nur analytisch denken, sondern auch täglich individuelle Lösungen finden müssen: Dann stehen die Chancen gut, dass ihre Arbeitskraft immer wertvoller wird. Gleiches gilt, wenn Ihre Leistung für den Arbeitgeber im Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen besteht.

Wenn Kreativität und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen zum Asset werden, müssen Personalabteilungen nach anderen Bewerbern suchen als in der Industriegesellschaft. Sie brauchen niemanden, der in die Schablone passt, sondern: Individualität. Zu viele Personalabteilungen sind unfähig, diesen geistigen Wechsel zu vollziehen. Sie schaden ihrem Unternehmen jeden Tag. Ein Beispiel aus meiner Praxis als Personalberater:

Eine Kandidatin von mir hatte ihren Bachelor in Afrika gemacht und ihren Master in Großbritannien. Die Personalabteilung lehnte die Kandidatin ab. Die Sachbearbeiterin kenne die afrikanische Universität nicht und könne daher die Qualität nicht beurteilen. Man gehe lieber auf Nummer sicher und suche jemanden mit deutschem Abschluss. Die britische Universität, an der meine Kandidatin ihren Master gemacht hatte, war Cambridge.

Diese geistige Fixierung auf die Auswahlprozesse der Vergangenheit erklärt die Diskrepanz zwischen realem Fachkräftemangel und irrationalem Verhalten von Arbeitgebern. Doch keine Sorge. Der Schmerz wird jetzt jedes Jahr größer. Irgendwann lernen die Personalabteilungen. Jene Firmen die sich zu langsam verändern, werden vom Markt verschwinden.

Profitieren werden Unternehmen, die sich jetzt für einzigartige Kandidaten öffnen. Die Frauen, Ältere, Einwanderer als wertvolle Ressourcen schätzen – gerade WEIL sie Individuen mit ganz eigenen Erfahrungen sind.

Mittelständische Unternehmen haben hier eine große Gelegenheit: Wer sich jetzt öffnet, kann selbst von großen Konzernen Top-Kandidaten abwerben: Ich habe zum Beispiel gerade eine Beraterin von Kienbaum eingestellt. Wie habe ich sie für unsere kleine Personalberatung gewonnen? Ganz einfach: Nach Auslandserfahrung in Singapur und kürzlicher Heirat wollten andere Unternehmen sie nicht haben. Anfang 30 war das „Risiko“ des Kinderkriegens zu groß. Mir nicht! Jetzt habe ich eine wertvolle Mitarbeiterin, die mir am ersten Arbeitstag gleich einen neuen Kunden mitgebracht hat.

Der Fachkräftemangel ist die größte Herausforderung unseres Landes. Wie können wir mit sechs Millionen weniger Arbeitnehmern gleichzeitig 6 Millionen Rentner mehr versorgen? Nur indem wir mehr Frauen beschäftigen, mehr Ältere – und mehr Einwanderer ins Land holen.

Gleichzeitig ist der Fachkräftemangel eine große Chance: Er zwingt Unternehmen, sich für Individuen zu öffnen und menschlichere Arbeitsplätze zu gestalten. Damit treffen Firmen genau den globalen Trend zu immer individuelleren Produkten – ein perfektes Match zwischen Mitarbeitern und Markt.