Interview mit Mandana Kazemi

„Das Glück hält nicht für immer, aber die Probleme auch nicht“

In ihrer Kindheit hat Mandana Kazemi die Gewalt der islamischen Revolution miterlebt. Als Teenager musste sie den Schrecken des Ersten Golfkriegs mit ansehen. Mit 16 Jahren flüchtete sie aus dem Iran – und landete in Deutschland. Ein Gespräch mit ihr über das Leben von Flüchtlingen.

MiGAZIN: In Ihrer frühen Kindheit haben Sie noch die Monarchie des Schahs Mohammed Reza Pahlavi erlebt. Wie war das Leben damals im Iran, vor der islamischen Revolution und dem Ersten Golfkrieg?

Mandana Kazemi: Bis zu meinem neunten Lebensjahr war es im Iran genau wie hier. Mädchen und Jungs gingen zusammen zur Schule, ohne Kopftuch. Man war frei, konnte mit Freunden weggehen. Als die Revolution das Regime stürzte, hat sich der Islam verändert. Vorher konnten die Leute selbst entscheiden, ob und wann sie in die Moschee gehen. Dann, nach der Revolution, war das Leben voller Gewalt und Angst. Man musste machen, was einem gesagt wurde. Es wurde vorgegeben, was man anziehen soll, wie man aussehen soll. Es wurde Jahr für Jahr extremer.

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Als Sie neun Jahre alt waren, brach 1979 die islamische Revolution aus. Der Revolutionsführer Ayatollah Khomeini und seine Anhänger haben die Monarchie des Schahs gestürzt und errichteten die Islamische Republik Iran. Wie haben Sie diese Revolution erlebt?

Kazemi: Da war dieser Alarm, der geklingelt hat. Er lief im Radio, das war furchtbar. Mein Vater war beim Militär, er war Offizier. Wir haben in der Kaserne gewohnt. In der Stadt sind sie alle auf die Straße gegangen und haben gegen das Regime protestiert. Dann sind sie in unsere Kaserne gestürmt. Das werde ich nie vergessen, an dem Tag bin ich mit ein paar Freunden Bilder kaufen gegangen. Wir wollten Bilder vom Schah und seiner Frau kaufen. Wir hatten ein großes Bild von ihm und seiner Familie im Wohnzimmer hängen. Dann sind die Revolutionäre in die Wohnungen gestürmt, die Bilder herausgeholt und verbrannt. Dann haben sie uns ein schwarz-weißes Foto von Ayatollah Khomeini gegeben. Wir sollten das an die Wand hängen. Jeder sollte es in seinem Haus haben. Meine Mutter hat es heimlich in die Toilette gehangen. Meine Eltern haben zu der Zeit schon geahnt, dass die Revolution nichts Gutes ist. Die Leute waren irgendwie ‚heiß‘ auf die Revolution. Es gab viel Gewalt, viele Menschen wurden hingerichtet. Manche durch Zufall, weil man sie verwechselte.

Ayatollah Khomeini wurde per Volksentscheid das neue Staatsoberhaupt. Er machte aus dem Iran einen Gottesstaat. Ein Jahr später begann der Erste Golfkrieg mit dem Nachbarland Irak. Wie ging das Leben für Sie weiter?

Kazemi: Als der Krieg begann, sind wir umgezogen, in ein Haus in der Stadt Kermanschah. Dort haben wir dann gelebt – ich meine, was heißt leben? In der Schule hatten wir immer Angst. Einmal mussten wir alle eine Klasse wiederholen, weil wir fast keinen Unterricht hatten. Sobald wir gesessen haben, ging wieder ein Alarm los und wir mussten uns in einem Bunker verstecken. Warten, bis es vorbei ist, dann wieder raufkommen. Dann haben sie in der Schule mit den Kindern gesprochen und gesagt, dass sie in den Krieg ziehen sollen, um ihr Land zu verteidigen. Es war Gehirnwäsche. Sie sagten, wenn die Eltern nicht zustimmen, dann sind sie keine Iraner und lieben ihr Land nicht. Auch mein älterer Bruder wurde dieser Gehirnwäsche unterzogen. Er kam nach Hause, er war 14 Jahre alt, und wollte unbedingt seinen Ausweis haben. Meine Eltern waren dagegen, ein Streit brach aus. Gottseidank hat mein Bruder irgendwann aufgegeben. Viele unserer Nachbarkinder sind in den Krieg gezogen und sind umgekommen.

Jahrelang auf Raketen- und Bombenanschläge gefasst zu sein, das ist eine extreme psychische Belastung. Vor allem für die Kinder.

Kazemi: Das ist wirklich schrecklich. Es gab keine Handys, man war nicht erreichbar. Wenn einer zu spät nach Hause kam, dann hatte man Herzrasen. Meine Mutter hat sich unglaubliche Sorgen gemacht. Meinen Vater haben sie einmal einen Monat lang in Kurdistan als Geisel gefangen gehalten. Wir dachten, wir sehen ihn nicht wieder. Als er wieder nach Hause kam, war es wie Weihnachten, Silvester und Ostern zusammen. Vor dem Krieg hatten wir keine Sorgen, wir hatten genug zu essen. Und von einem auf den anderen Tag ändert sich alles. Es ist schrecklich, wenn man sieht, was das Leben so bringt. Meine Eltern haben viel durchgemacht. Sie haben alles dafür getan, um uns Kinder durchbringen. Jetzt bin ich selber Mutter von drei Kindern und wir haben ein wunderbares Leben in Deutschland. Was die Leute jetzt in den Kriegsländern durchmachen, das kann ich wirklich mitfühlen.

Wie kam es dann zur Flucht?

Kazemi: Mit 15 wurde ich verheiratet und bin nach Teheran gezogen. Da habe ich meinen ersten Sohn bekommen. Wir wollten eigentlich nicht weggehen. Meine Schwägerin war früher schon einmal im Ausland und hat sich dazu entschlossen, auszureisen. Sie wollte nach Amerika. Mein Mann besuchte sie, als sie ihre Sachen verkaufen wollte. Sie fragte ihn, warum er nicht auch mitkomme. Und er dachte: Warum eigentlich nicht? In Teheran war eine DDR-Botschaft, dort gingen sie hin. Die DDR-Beamten haben drei Tage lang Visa verkauft. Die Leute standen Tag und Nacht Schlange. Mein Ex-Mann hatte für uns alle ein Visum geholt. Er kam abends nach Hause und sagte: Pack deine Sachen, wir fliegen in drei Tagen in die Türkei. Ich wusste gar nicht, was los ist. Gepackt habe ich nur eine Tasche für meinen Sohn, Windeln, und ein paar Sachen für uns, Klamotten für eine Woche. Mehr nicht. Als wir am Flughafen waren, war der Abschied von unseren Eltern sehr schwer.

Kaum waren wir zehn Minuten in der Luft, mussten wir wieder zurück. Es hieß, es gebe einen Defekt in der Maschine. Am Flughafen in Teheran haben sie dann 13 Leute im Flieger verhaftet. Es waren höhere Beamte des alten Regimes, die flüchten wollten. Viele Stunden hingen wir am Flughafen fest. Danach sind wir doch geflogen. In der Türkei mussten wir eine weitere Woche auf das Ticket für Deutschland warten. Was in der Woche alles passiert ist, meine Güte, Streit mit meinem Ex-Mann, er schlug mich, dann wollte ich nachts abhauen. Meine Schwägerin hat mich gefunden und gesagt: ‚Bitte Mandana, komm mit uns, wir werden mit ihm reden, dass er das nicht noch mal macht.‘

Sie sind also gemeinsam in die DDR gereist?

Kazemi: Ja, ich wusste noch nicht einmal, dass es ein geteiltes Deutschland gibt. Wir sind in Ost-Berlin gelandet. Den Pass mit dem Visumsstempel habe ich noch. Letzten Monat war ich in Berlin, das erste Mal wieder nach 28 Jahren. Da haben sie diese Visa den Leuten aufgestempelt, als eine Art Touristenattraktion. Ich habe das gesehen und gesagt: Ich habe das Original!

Der Visumsstempel der DDR im Jahre 1986 in Mandana Kazemis damaligen Pass.

Wie wurden Sie damals in der DDR aufgenommen?

Kazemi: Wir wurden im Zug angehalten, wir wollten eigentlich nicht in Deutschland bleiben, wir wollten ja nach Amerika weiterreisen. Dann haben sie uns die Pässe abgenommen. Wir konnten nicht mit ihnen reden, Englisch haben sie nicht verstanden, wir konnten kein Deutsch. Für mich persönlich war es ein Kulturschock. Ich war so jung und noch nie im Ausland gewesen. Dann kamen wir in Untersuchungshaft. Da war ein großer Raum, in dem auch andere Familien waren. Ein großer kalter Raum mit Fliesen, wie ein Duschraum. Wir wussten alle nicht, was los war. Ehrlich gesagt, wenn ich jetzt darüber nachdenke, ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Es war keine Angst, ich wunderte mich nur, was nun wohl passiert. Weil wir sind von einem viel schrecklicheren Ort geflüchtet. Ich hatte bis dahin schon so viel Elend gesehen. Mit Pistolen war ich auch schon bekannt, da waren zwei Leute vor der Tür mit Maschinengewehren und haben uns bewacht und auch bis zur Toilette begleitet. Dann haben sie uns etwas zu essen gebracht, ein großer Wagen mit Sandwiches. Ich habe da meinen ersten Mars-Schoko-Riegel gegessen. Das ist bis heute meine Lieblingsschokolade.

Was geschah nach der Untersuchungshaft?

Kazemi: Abends wurden wir dann in zwei verschiedene Heime untergebracht. Wir lebten drei Tage lang in einer Einzimmerwohnung. Nach drei Tagen wurden wir wieder in ein anderes Heim gebracht, in der Nähe vom Flughafen. Wir mussten täglich sehr weit mit dem Zug fahren, bis wir zum Sozialamt kamen. Da wurden wir am ersten Tag untersucht, wir waren alle nackt, viele Menschen in einem Saal. Ich habe nur versucht, ja keinen anzugucken. Wir wussten gar nicht, was das alles sollte.

Gab es denn keinen Dolmetscher?

Kazemi: Das passierte alles danach, als wir vor Gericht mussten. Im Heim war wenigstens etwas mehr Ordnung als in der Untersuchungshaft. Da war eine Gemeinschaftsdusche, zwei Mal in der Woche wurden wir zum Supermarkt gebracht, dort durfte jeder eine bestimmte Menge einkaufen. Einer hat uns begleitet und notiert, was wir einkaufen und uns gesagt, wann stopp ist.

Jeden zweiten Tag mussten wir zum Sozialamt fahren und warten, bis unsere Nummer aufgerufen wurde. Wenn die Nummer nicht drankam, mussten wir wieder zurückfahren und es am nächsten Tag wieder versuchen. Rund 40 Tage lang ging das so. Als wir schließlich dran kamen, haben sie uns verteilt. Meinen Mann, meinen Sohn und mich haben sie in den Westen geschickt, nach Nordrhein-Westfalen. Viele wurden auf westliche Bundesländer verteilt. Ich kann mich noch genau erinnern, wie sie uns zur Grenze gebracht haben. Das war 1986. Die Säulen des Brandenburger Tors haben mich beeindruckt.

Nach 28 Jahren wieder in Berlin: Mandana Kazemi 2013 vor dem Brandenburger Tor

Ist das Visum nicht irgendwann abgelaufen?

Kazemi: Genau das, dann ging alles los. Uns wurde eine Anwältin zur Seite gestellt. Die hat auch einen Dolmetscher geholt. Dann mussten wir zum Gericht nach Nürnberg. Da haben die uns verhört, jeweils alleine, wir durften auch nicht miteinander reden. Der Prozess lief jahrelang, immer wieder haben sie uns abgelehnt. Dann, nach sechs Jahren mussten wir zu einem Kölner Gericht. Da waren neun Richter. Wir hatten uns gerade erst hingesetzt, da sagten sie schon: anerkannt! Das war das beste Wort für mich damals: „anerkannt“.

Was haben Sie beruflich gemacht?

Kazemi: Am Anfang gab es ein Gesetz in Iserlohn, das sagte, die Männer müssen im Gartenamt arbeiten und die Frauen in der Küche. Weil ich ein Baby hatte, mein zweiter Sohn war mittlerweile geboren, musste ich nicht, aber meinen Exmann haben sie zur Arbeit geschickt, es war eine Art 1-Euro-Job. Irgendwann haben sie das Gesetz abgeschafft und mein Mann hat den Job verloren. Aber das Gute war, dass wir von Anfang an beide eine Arbeitserlaubnis bekommen haben. Dann konnte ich auch arbeiten, ich habe in einem Restaurant in der Küche angefangen. Mein Ex-Mann hat dann in der Volkshochschule Deutsch gelernt. Damals war das noch nicht Gesetz. Er hat das freiwillig gemacht. Meine Sprachkenntnis musste ich mir selber beibringen.

Wie haben Sie das gemacht?

Kazemi: Durch das Fernsehen. Ich habe mir ganz viele Serien angeschaut. Ich habe mir gesagt, wenn du zu reden anfängst, dann richtig – nicht in so einem gebrochenen Deutsch. Im Iran habe ich nie so richtig Fernsehen geguckt, das habe ich nicht gemocht. Aber hier hatte ich keine Verwandte und keine Beschäftigung und musste immer zu Hause bleiben. Dann habe ich mir gesagt, mach was Gutes draus. Bestimmt habe ich zehn Mal die Serie „Dallas“ von Anfang bis Ende geschaut. Ich habe mir alle möglichen Serien angesehen. Es gab auch eine tolle deutsche Serie: „Ich heirate eine Familie“.

Als ich mich vor fünf Jahren scheiden ließ, habe ich mich bei einem Deutschkurs an der Volkshochschule angemeldet. Ich habe Schule immer geliebt. Mein Ex-Mann hat mir nach der Heirat verboten, die Schule zu besuchen. Das habe ich jetzt nachgeholt.

Ihr Mann hat sie tyrannisiert und eines Tages die Wohnung mit Benzin überschüttet. Wie haben Sie sich vor dieser Ehe gerettet?

Kazemi: Erst hier habe ich gelernt, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss. Aber ich hatte kein Geld, keine Unterstützung, konnte die Sprache nicht. Man fragt sich: Wo willst Du hingehen? Ich wusste damals noch nicht einmal, dass es ein Frauenhaus gibt.

Wie haben sie all diese Dinge erfahren?

Kazemi: Mit der Hilfe von meinen jetzigen Kollegen im Jugendamt in Dormagen habe ich mich von meinem Mann getrennt. Die haben mir eine Wohnung besorgt. Innerhalb von einem Tag bin ich ausgezogen. Dann stellte ich fest, ich war wieder schwanger. Am Ende habe ich mir gesagt, ich habe so viel schon erlebt, jetzt kann ich das Kind auch alleine erziehen.

Heute bin ich überglücklich. Egal wie schwer es ist, man kann immer wieder aufstehen. Man sollte nie aufgeben. Das Glück hält nicht für immer, aber auch die Schwierigkeiten halten nicht für immer.