Servus, Bosporus!

Kunstszene: „In Berlin wäre das undenkbar!“

Istanbul gilt als neue Kunstmetropole. Auch viele deutsche Künstler zieht es an den Bosporus. Doch was ist hier besser als in Berlin oder New York?

Das Stimmengewirr vor den offenen Galerietüren steigt die rauen Hauswände empor. Der Abend spannt sich blau über die Gasse. Zwischen parkenden Autos und Blumenkübeln drängen sich Menschen in Turnschuhen und Pumps. Drinnen trägt man Weingläser aus Plastik und schiebt sich an Bildern entlang. Ausstellungseröffnung in einer der Galerien, die in den verwinkelten Straßen von Çukurcuma gedeihen, im europäischen Zentrum von Istanbul.

Die Szene boomt. Im Herbst öffnet schon wieder eine neue Kunstmesse. Zur erfolgreichsten von ihnen, der Contemporary Istanbul, kamen 2007 etwa 42.000 Besucher, im vergangenen Jahr waren es schon 68.000. Immer mehr Bundesländer schicken Stipendiaten in die Stadt. Der neueste Zuwachs kommt aus Hessen, die Kulturstiftung hat seit diesem Jahr neben Ateliers in New York, Paris und London auch Istanbul im Angebot. „Seit etwa fünf Jahren hat Istanbul als Kunstmetropole an Präsenz gewonnen“, heißt es aus der Geschäftsstelle. Der Blick geht nach Osten. Was finden Künstler hier, das ihnen New York oder Berlin nicht bieten?

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Stipendiatin Hihn vor einer Galerie in Çukurcuma: In Istanbul findet sie viele Kunstwerke folkloristisch © Jenny Becker

Servus, Bosporus! Im April diesen Jahres reisten zwölf Schüler der Zeitenspiegel-Reportageschule nach Istanbul. Zehn Tage lang recherchierten sie in der türkischen Metropole für ihre Geschichten. Darin wollten sie vor allem die besonderen Beziehungen zwischen Menschen in Istanbul und Deutschland in den Fokus stellen. Aus den Geschichten ist „Servus, Bosporus!“ entstanden, ein Onlinemagazin, in dem sich die Vielfalt der Metropole Istanbul aber auch die Vielfalt journalistischer Erzählformen wieder findet. Einige der Artikel veröffentlichen wir in einer losen Reihe auch im MiGAZIN.“

Carla Mercedes Hihn, 32, steht mit Freunden im Gedränge vor der Galerie. Der Abend wird dunkler, die Stimmen lauter, man überlegt, wo man als nächstes hingeht. Hihn, mit langen Haaren und Fransenpony, wirkt ein bisschen ätherisch, wie ihre Kunst, die mit transparenten Fotos und Schattenwurf spielt. Die Stipendiatin aus Berlin ist seit drei Monaten in der Stadt. „Es ist nicht einfach, in den kleinen Galerien etwas Interessantes zu finden“, sagt sie. „Manche Sachen sind eher auf Studentenniveau. Hier scheint vieles noch nicht so entwickelt.“ Sie lacht ein bisschen und schiebt schnell nach: „Wahrscheinlich bin ich zu verwöhnt. In Berlin bekommt man ja viel geboten an internationaler Kunst.“ Sie wohnt hier in dem Nobelviertel Nişantaşı, die Bilder in den dortigen Galerien nennt sie „Sofakunst“. Hübsches, folkloristisches Design.

Kuratorin Zizlsperger: „Hier ist viel Geld da, in Berlin nicht“ © Jenny Becker

„Aber…“, überlegt Hihn. Nur in Istanbul könne man sich seine Mappe unter den Arm klemmen und einfach in die nächste Galerie hinein spazieren. „In Berlin wäre das undenkbar. Da wäre man sofort unten durch, wenn man sich selbst vorstellt.“ In Istanbul ist der Kontakt direkter, man kennt sich. Weil die Szene klein ist und jung, gibt es noch wenig eingemauertes Establishment. Galeristen sind hier noch Menschen, die einem aus Straßencafés zuwinken.

Unschuldige Sponsoren und hilfreiche Handwerker
Auch Sammler sind leichter zu überzeugen. „Sie sind interessiert und noch eher unschuldig“, sagt Kuratorin Anna Zizlsperger, 32. Sie sitzt in der Bibliothek von Salt Galata, einer der neuesten und wichtigsten Kunstinstitutionen. Als sie im vergangenen Jahr nach Istanbul zog, gründete sie das englischsprachige Online-Kunstmagazin exhibist.com. Es soll ausländischen Künstlern einen Überblick über die Szene vor Ort geben. „Hier ist viel Geld da, in Berlin nicht“, sagt Zizlsperger. Ohne die Unterstützung der Sammler und Sponsoren wäre Istanbuls Kunstszene gar nicht denkbar. „Staatliche Förderung gibt es so gut wie keine.“

Für die Künstlerin Anna Heidenhain, 34, liegt der Reiz nicht in den repräsentativen Galerien, sondern dort, wo es dreckig ist, eng und dunkel. Im Handwerkerviertel. Sie ist auf dem Weg in die Werkstatt von Adem, der eigentlich Gardinenhalter oder Wasserhähne herstellt. Er soll ihr helfen, ein Glitzerauge aus Polyester zu gießen für eine neue Wandinstallation. Die Absolventin der Düsseldorfer Kunstakademie wirbelt in grünem Mantel und mit Wuschelfrisur durch die Gassen, um blauen Glitzerstaub zu kaufen.

Seit sechs Jahren lebt sie in Istanbul. „Eine Stadt wie New York wäre mir zu teuer.“ Hier kann sie ihre Installationen günstig produzieren, „es gibt alles“, sagt sie und zeigt auf einen Laden, der Anker für Schiffe verkauft. Eine Ecke weiter gibt es nur Schrauben, in der nächsten Straße säckeweise Farbpulver. Das Handwerkerviertel in Karaköy, direkt am Goldenen Horn, ist nach Branchen sortiert. „Das ist extrem praktisch, wenn ich ganz bestimmte Dinge suche.“ Praktisch ist auch, dass sie hier die Werkstätten mitbenutzen kann, von Schweißern, Schlossern, Keramikern. „Ich finde das fantastisch.“

„Gerade das Kunsthandwerk ist für unsere Studenten interessant, weil sie es in dieser Art nicht kennen“, sagt auch Silvia Erdem, 48, die schon seit zehn Jahren in Istanbul wohnt. Die Künstlerin betreut die Stipendiaten aus Sachsen-Anhalt, von der Kunststiftung des Landes und der Burg Giebichenstein in Halle. Der Nachwuchs lernt bei Einheimischen arabische Kalligrafie oder Tezhib, die Kunst der Dekoration mit Ornamenten.

Seit 2010 gibt es für die Stipendiaten eine Atelierwohnung in Kadıköy, im asiatischen Teil Istanbuls. Auch hier ist der Kunstboom angekommen. Seit einigen Jahren gründen sich immer mehr Galerien, Ateliers und Projekträume – weil die Mieten günstiger sind, als im europäischen Teil.

Silvia Erdem in der Stipendiatenwohnung in Kadıköy © Lena Schnabl

Die Wohnung liegt in einer Seitenstraße. Vom Lärm der Stadt ist nichts zu spüren. Nur ein paar Katzen streunen umher. Silvia Erdem sitzt vor einer Tasse türkischem Mokka und überlegt, warum so viele Künstler nach Istanbul kommen. „Es ist eine absolute Neugierde auf das Land und die Kultur. Weniger auf die Kunstszene hier. Es ist eher die Stadt selbst.“

„Bist du verrückt?! Was willst du in Istanbul?“
Ihr ging es vor zehn Jahren ähnlich. Erdem, Schülerin von Rebecca Horn, einer der international bekanntesten deutschen Künstlerinnen, wollte sich verändern. Irgendwo hinziehen. Vielleicht nach New York? Sie flog hin, schaute sich um und entschied: auf keinen Fall! „Ich fühlte mich, als sei ich in Berlin geblieben. Die Kunstszene war gar nicht so anders.“ Sie entschied sich für Istanbul. „Bist du verrückt?! Was willst du da?“, fragten ihre Künstlerfreunde ungläubig. Jetzt rufen sie ständig an, wenn Messen in der Stadt sind oder die Kunstbiennale. „Können wir vorbeikommen und bei dir wohnen?“

Folgt man dem Bosporus in Richtung Schwarzes Meer, erreicht man am Rand von Istanbul den ehemaligen Fischerort Tarabya, in dem auch der türkische Staatspräsident Abdullah Gül sein Anwesen hat. Hier befindet sich seit Herbst 2012 die Kulturakademie Tarabya. Namhafte deutsche Künstler werden von einer Jury eingeladen, um für einige Monate in den weißen Holzvillen auf einem 14 Hektar großen Anwesen zu residieren. Ein Prestigeprojekt nach dem Vorbild der Villa Massimo in Rom.

Der Fotograf Jim Rakete, 62, ist hier gerade Stipendiat. Bekannt wurde er als Produzent von Nena, Nina Hagen, Die Ärzte und durch seine schwarz-weißen Prominentenporträts. In Istanbul will er einen Kurzfilm drehen über den Dichter Gerhard Falkner, der mit ihm in Tarabya wohnt.

Rakete schlendert durch den Palmenhain, am Tennisplatz vorbei, auf dem er manchmal mit Falkner spielt und denkt über die Kunstszene nach. „In dem Moment, wo eine Sache ihre Bühne hat, entwickelt sie sich“, sagt Rakete und zieht an seiner Pfeife. „Ob jemand auf dem Tennisplatz spielt oder nicht, ist dann eine Frage der Energie, die in der Gesellschaft herrscht. Aber erst muss der Platz da sein.“ Auf Istanbuls Tennisplatz ist das Spiel in vollem Gange.