Vom Antisemitismus ohne Antisemiten

„Ich mag dich, auch wenn du Jüdin bist“

Zwei Studien belegen, dass antisemitische Einstellungen bei mehr als einem Viertel der Bevölkerung in Deutschland vorhanden sind. Die öffentlich geführten Antisemitismusdebatten konzentrieren sich fälschlicherweise auf rechtsmotivierte Handlungen und Gewalttaten oder entladen sich als empörte Schuldzuweisungen gegenüber Einzelpersonen, ohne den alltäglich anzutreffenden, unterschwelligen Antisemitismus als ein gesellschaftsimmanentes Kernproblem europäischer Mittelschichten zu erkennen.

„Aber, die sind doch selbst schuld, die Juden. Schau doch mal, was die in Israel machen. Da brauchen die sich nicht zu wundern.“ Sven drückt seine Zigarette aus und räuspert sich. Er ist Mitte 30, ein charmanter, etwas vorlauter Versicherungsmakler und ein „Dortmunder Original“, wie er gern betont.

„Du bist ein Antisemit“, sagt Sara und lässt sich in die Kissen ihres roten Schlafsofas fallen. Die 26-jährige ist gebürtige Ukrainerin und studiert Psychologie in Essen. Hinter den beiden, auf dem Fensterbrett, steht eine Menora, deren Lichter das Dachgeschosszimmer in warmes Halbdunkeln tauchen. Es ist Freitagabend, es ist Schabbat.

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„Ich bin doch kein Rassist!“, erwidert Sven, seine Stimme zittert. „Ich bin nicht judenfeindlich aus rassistischen Gründen und schon gar nicht rechtsradikal. Und dich meinte ich damit doch gar nicht, Kleines. Ich meine die Anderen.“

Im Privaten einer Dortmunder Studentenwohnung, in einer Stadt, die durch starke Präsenz der rechten Szene einen zweifelhaften Ruhm als Nazi-Hochburg erlangt hat, entsteht plötzlich ein facettenreicher Mikrokosmos aus jahrhundertealten und neuer Vorurteilen gegenüber den Juden.

In einer 2013 durchgeführten, nicht-repräsentativen Online-Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte unter Juden aus acht europäischen Ländern gaben 76 Prozent der Befragten an, dass ihrer Wahrnehmung nach der Antisemitismus in ihren Heimatländern in den letzten fünf Jahren zugenommen hat, nur fünf Prozent sahen eine stagnierende Entwicklung. In Deutschland waren es insgesamt 32 Prozent der Befragten, die sich über eine deutliche Zunahme der Judenfeindlichkeit sorgten. Sind diese Sorgen nur subjektiv und unbegründet? Sind antisemitische Anfeindungen nur ein Instrument gesellschaftlicher Randgruppen, bekennender Rechtsradikaler, rechtsorientierter und gewaltbereiter Fußballfanatiker oder verkennen wir durch die Abschiebung der Problematik in bestimmte Milieus unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung und überhören die latent judenfeindlichen Botschaften im Alltäglichen?

Die letztes Jahr erschienene Studie „Die Mitte im Umbruch – Rechtextreme Einstellungen in Deutschland 2012“ der Friedlich-Ebert-Stiftung diagnostiziert, dass rechtextreme Einstellungen von 28 Prozent der Bevölkerung in Deutschland geteilt werden und die Zustimmung zu allen in der Studie vorgelegten Einzelaussagen deutlich über dem Bevölkerungsanteil manifest antisemitischer Personen (8,7 %) liegen.

Die Studie unterscheidet zwei Formen, die historisch bedingte primäre sowie die moderne sekundäre Form des Antisemitismus. Die Zustimmung zum sekundären, verstecktem Antisemitismus ist mit 23,8 % wesentlich höher als zum primären (11,5%) und stellt heute die Hauptform des Antisemitismus dar.

Der heutige Antisemitismus
In Gegensatz zu der historischen primären Ebene des Antisemitismus, die direkte Vorurteile und die negativen Eigenschaften der Juden als rassische Gruppe in den Vordergrund stellt, bedient sich die sekundäre Ebene eines Vorurteilssystems mit antiamerikanistischen sowie antiisraelischen Stereotypen und dient dazu, durch die Umkehrung der Täter-Opfer-Konstellation den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu relativieren, um die Frage nach der deutschen Kollektivschuld abzuwehren. Die Stigmatisierung des Judentums, jüdische Mitschuld am Holocaust und Ausnutzung der Schuldgefühle für ihre heutige Interessen sowie die negative Einschätzung Israels und Relativierung antisemitischer Aussagen durch Aufzählung von „guten Juden“ gehören zu den gängigsten Argumentationsmustern der sekundären Ebene.

Diese Ebene gewinnt in modernen westlichen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung, da antisemitische Ressentiments nach 1945 nicht verschwunden, sondern aufgrund der vorherrschenden Meinung nicht öffentlich thematisiert wurden und korreliert stark mit nationalistischen Überzeugungen. Durch das Hintertürchen stellvertretender Kritikäußerungen der sekundären Ebenen können also Sanktionen, die der primäre Antisemitismus nach sich nachziehen würde, umgangen werden.

„Niemand möchte als Antisemit gelten, aber die Ressentiments sind allgegenwärtig.“, sagt Sarah nachdem Sven gegangen ist. „Es ist einfacher, einen bekennenden Rechten auszumachen als jemanden, dessen Selbstbild mit den eigenen Einstellungen divergiert, zu entlarven.“

Was ist mit Israel?
Selbstverständlich muss die Siedlungspolitik Israels kritisch hinterfragt werden können, genauso wie der Bürgerkrieg in Syrien oder die permanenten Menschenrechtsverletzungen in Russland, ohne automatisch dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt zu sein. Wenn die internationale Gemeinschaft Druck ausübt und Deutschland als Zivilmacht dazu beitragen kann, dass Menschenrechtsverletzungen eingedämmt werden, sind dies richtige Schritte. Für die etwa 200.000 in Deutschland lebenden jüdisch stämmigen Menschen ist Israel aber nicht der identitätsstiftende Teil ihrer Kultur und das Bekenntnis zum Judentum besitzt für die Juden in Deutschland vielschichtige sozio-kulturelle Gründe, die um die Frage der eigenen Identität, das Leben in der Diaspora und auch um die Integration und Assimilation in Deutschland kreisen.

In Deutschland haben die Bürger das große Glück in einer demokratischen, weitestgehend sicheren und entmilitarisierten Gesellschaft zu leben. Oft nehmen sie diese Werte als selbstverständlich wahr und versuchen „von oben“ herabschauend anderen Nationen diese Werte zu diktieren, verkennend, dass andere Arten von Weltanschauungen ebenfalls ihre subjektive Berechtigung haben und nur im Diskurs erfasst und verändert werden können. Positiv zu bewerten sind der wachsende interkulturelle Austausch zwischen Deutschen und Israelis, die durch steigende Zahlen deutscher Reisender nach Israel belegt werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, der Antisemitismus ist nie aus der gesellschaftlichen Mitte verschwunden, sondern hat neue Formen gefunden, um salonfähig zu bleiben. Deshalb gilt es, alte Vorurteile auszumerzen und eine konstruktive Diskussion anzustoßen, anstatt die Schuldfrage vorangegangener Generationen immer wieder auf den Tisch zu bringen. Denn nur, wer sich seiner Einstellung bewusst ist, kann diese hinterfragen.