Brückenbauer

Ein Plädoyer für die Moderne

„Ich bin schwul und das ist auch gut so“. Mit diesem Satz begeisterte Klaus Wowereit nicht nur seine Parteifreunde, sondern auch all die Menschen, die ihn wegen seinem Mut und seiner Entschlossenheit bewundert haben. Das Besondere an dem Satz ist, dass er bei der breiten Masse der (nicht immer) heimlich homophoben deutschen Gesellschaft mit aller Deutlichkeit angekommen war. Es machte deutlich, dass die öffentliche Auslebung homosexueller Identität zu einem der Merkmale der gesellschaftlichen Vielfalt und damit zum Markenzeichen der Moderne geworden ist. Eine Errungenschaft, die Minderheiten gleichermaßen betrifft.

Für wie selbstverständlich wir Veränderungen in westlichen Industriestaaten halten, zeigt sich besonders deutlich beim technischen Fortschritt und an unserer stetig steigenden Erwartungshaltung. Als Verbraucher möchten wir immer schnellere Autos, immer leistungsfähigere Handys und Notebooks, mehr Komfort am Arbeitsplatz, im Dienstleistungsbereich und überhaupt im täglichen Leben. Die Veränderungen, die mit unseren Ansprüchen und den damit verbundenen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen einhergehen, lassen sich immer wieder in bestimmten zeitlichen Abständen beobachten.

So besteht ein enormer Leistungsunterschied zwischen einem Produkt von vor zehn Jahren und dem aktuellen der gleichen Marke. Kaum ist ein Produkt auf dem Markt, ist es veraltet und es wird ein leistungsfähigeres Nachfolgemodell angeboten. Diesen Prozess betrachtet man wirtschaftlich gesehen als Innovation bzw. Modernisierung. Er ist quasi die treibende Kraft für die Entstehung hochkomplexer Technologien und ein wichtiges Charakteristikum für alle Teilbereiche der modernen Gesellschaft. Entsprechend dieser Veränderungsfähigkeit unserer Gesellschaft, die Hand in Hand mit der Modernisierung voranschreitet, wollen wir die Etablierung der ethnischen und religiösen Minderheiten und die Überwindung der Frauendiskriminierung ebenfalls als Teil des Modernisierungsprozesses begreifen. Betrachten wir den Zeitgeist im Nachkriegsdeutschland, als Homosexuelle sowie Frauen der alltäglichen Diskriminierung durch den hetero- und männerdominierten Mainstream ausgesetzt waren, stellen wir fest, welch einen sozialen Wandel die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten erfahren hat.

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Zu einer weiteren wichtigen Folge dieses gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zählen auch die Entwicklung der hart erkämpften Rechtsstaatlichkeit und die individuenfreundliche Struktur unseres Rechtsstaates. Durch sie können wir eben begründen, dass die Existenz verschiedener Lebenswirklichkeiten, das Erkämpfen unserer eigenen Rechte und die öffentliche Auslebung unserer Individualität überhaupt möglich geworden sind. Das Besondere aber, was die Struktur des modernen Staates von anderen, autoritären und nicht demokratischen, Staaten unterscheidet, ist die Fähigkeit zu sogenannten administrativen Veränderungen und zur Anpassung an bürgerliche Forderungen.

Veranschaulichen lässt sich dies an der Frauenbewegung der 1960er und 70er Jahre in Deutschland, die, wie die Schwulenbewegung, eine Reihe von Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft sowie im Bildungs- und Rechtssystem nach sich zog. Eine der bedeutenden Errungenschaften dieser Bewegung war das 2001 verabschiedete Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG), das bundesweit die Einrichtung von Stellen für Gleichstellungsbeauftragte als wichtiges Gremium in Gemeinden, Hochschulen, Unternehmen und Behörden vorsieht. Die genderbezogene Quotenregelung wurde auf Verlangen der Frauen über Jahre quer durch alle Parteien und etliche Interessenverbände gefordert und in der Politik kontrovers diskutiert, bis es zu einer gesetzlichen Verankerung kam. Daher ist dies nicht nur eine Errungenschaft engagierter Frauen, sondern auch ein gesamtgesellschaftlicher Erfolg hinsichtlich der Funktionalität unseres Rechtssystems und weiterer o. g. Bereiche und deren harmonischen Zusammenspiels.

Info: Diese Kolumne fokussiert einen Gedanken aus dem Buch „Brücken bauen – Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland“ (Bertelsmann-Stiftung 2013). In diesem Sammelwerk beleuchten junge AutorInnen – teils wissenschaftlich, teils erzählerisch – einige verschiedene Lebensrealitäten in Deutschland. Das Buch ist eine Einladung an alle, sich auf die Spurensuche nach den Brückenbauern von heute und morgen zu begeben.

Nicht nur Homosexuelle und Frauen, egal welcher sexuellen Orientierung, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund und andere demokratiekonforme Subkulturen können von derartigen Etablierungsmöglichkeiten profitieren, die von Staat und Gesellschaft eingeräumt werden. Zwar wird die Chancengleichheit durch die umstrittene Diskriminierung in der Schule oder am Arbeitsplatz immer wieder infrage gestellt und dem Staat wenig Engagement bei der Förderung ethnischer Minderheiten nachgesagt. Fakt ist aber, dass unsere moderne Gesellschaft Vertreterinnen und Vertreter bestimmter ethnischer, sexueller oder religiöser Minderheiten befähigt, von ihrer Individualität, Karriere und gerade auch ihrer Andersheit Gebrauch zu machen und damit ein Vorbild für andere zu werden. In welchem Umfang dies möglich ist, haben bereits einige vorgemacht. Neben Aygül Özkan, Cem Özdemir, Celia Okoyino da Mbabi, Klaus Wowereit, Wladimir Kaminer, Alina Bronsky, Nikeata Thompson, Feridun Zaimoglu oder Lena Gorelik treten bislang noch unbekannte Protagonisten in den Vordergrund, wie der Schriftsteller Abbas Khider, der auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse von den Medien entdeckt wurde. Wenn Serdar Somuncu genüsslich Hitlers „Mein Kampf“ vorliest, vergisst man als Zuhörer, wie surrealistisch seine Aufführung einem NS-gesinnten Deutschen vorgekommen wäre, der die Nachkriegszeit nicht erlebt hat. Sie alle aber stehen heute für die Etablierung alternativer Lebensformen und gesellschaftlicher Vielfalt, die inzwischen einen besonderen Stellenwert in der deutschen Einwanderungsgesellschaft einnimmt.

Angesichts ihrer Mehrdeutigkeit und Kontextabhängigkeit ist die gesellschaftliche Vielfalt ein komplexes Phänomen. Mit Blick auf ihren hohen Stellenwert in der deutschen Einwanderungsgesellschaft sehe ich sie als positiven Umgang mit Differenzen und als gegenseitige Toleranz auf persönlicher, gemeinschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene. Kulturspezifische Verhaltensmuster – seien es Kopftuch, homosexueller Dresscode, marokkanischer Kaftan, gemeinsamer Gebets- oder Diskogang, ohrenbetäubendes Night-Cruising von Jugendlichen oder sogenannte Crazy Lenses mit White-Monster-Motiv von Vertretern der deutschen Gothicszene – sind Ausdrucksformen individueller Lebenswirklichkeiten der Gesellschaftsvertreter, die mit ihrer persönlichen geistigen und kulturellen Auffassung bestimmte Lebensformen pflegen. Sie bilden zwar unterschiedliche Lebensformen heraus, verbringen möglicherweise in unterschiedlichen Subkulturen ihre Freizeit, weisen ein voneinander abweichendes gruppenspezifisches Muster der Organisation des alltäglichen Lebens auf, sind aber dennoch integrierte bzw. etablierte Gesellschaftsmitglieder.

Ich führe in diesem Zusammenhang den Begriff „Etablierung“ ein, den ich von „Integration“ abgrenze. Im Vergleich zur Integration, die sich heutzutage kaum mehr verwenden lässt, ohne mit „Assimilation“ assoziiert zu werden, verstehe ich unter Etablierung den eigendynamischen Prozess der Selbstbehauptung, die Eigeninitiative, die Entschlossenheit, die Vertrautheit mit der Provokation und die Demonstration von eigenem gesellschaftlichen Nutzen und eigener Stärke. Daher scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis aus einem verdrängten Phänomen – das öffentliche Ausleben von Homosexualität war in der deutschen Nachkriegsgesellschaft lange verboten – ein selbstverständliches, gesamtgesellschaftlich akzeptiertes wird.

Die Frauen- oder Schwulenbewegung stellt seit Anfang der 60er Jahre – vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges – eine nationenübergreifende Synchronisierung der Protestbewegung gegen die Ausgrenzung von Frauen und Homosexuellen dar, untermauert durch den jährlich weltweit stattfindenden Christopher Street Day ihre Anerkennung und macht immer wieder auf soziale Ausgrenzung jeglicher Art aufmerksam. Dass jede auf Wandel abzielende Aktion als Provokation in der Öffentlichkeit verstanden wurde und wird, liegt an dem Aufbrechen vorherrschender gesellschaftlicher Normen und der vermeintlichen Kampfansage an den Mainstream. Aber ist diese Art der Provokation nicht demokratischer Natur? Sie ist doch ein friedliches Mittel der Andersdenkenden, ihre Mitmenschen, die ihrerseits auch verschiedene Subkulturen vertreten oder divergierende Lebensformen pflegen, mit eigenen Überzeugungen und Lebensformen zu konfrontieren und zum Nachdenken anzuregen.

Im Vergleich zu der Frauen- und Schwulenbewegung gab es in Deutschland aber keine kulturellen Strömungen oder ähnliche Protestbewegungen, die so unmittelbar auf das Einfordern der Rechte von Einwanderern abzielten. Insofern gab es auch keine nennenswerten innergesellschaftlichen Kontroversen, durch die mehr Toleranz gegenüber den Einwanderern hätte reifen können. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn neue Lebensformen der Menschen mit Migrationshintergrund als parallelgesellschaftliche Erscheinungen abgetan werden. Das hat eher damit zu tun, dass die Gesellschaft noch nicht reif ist, Fremdenfeindlichkeit, also die Diskriminierung der Migranten, zu überwinden. Dies erkennt man etwa bei den öffentlichen Debatten um das Kopftuch oder den Moscheebau in Köln, oder bei den diversen blamablen Untersuchungsausschüssen zum sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). All das wirft ein Licht auf die Notwendigkeit einer administrativen bundesweiten Umstrukturierung, um dem staatlichen Versagen bei der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit künftig entgegenzuwirken.

Aus den gesellschaftlichen Umwälzungen im Nachkriegsdeutschland wissen wir, dass nicht nur ethnische, sondern auch alle anderen längst etablierten Minderheiten denselben steinigen Weg gegangen sind, um ihre soziale Anerkennung zu erlangen und ihre Rechte einzufordern. Wenn wir verstehen, warum sich die durch Schwulen und Frauenbewegung erprobte deutsche Gesellschaft mit der Migration immer noch so schwer tut, werden wir auch verstehen, dass die Überwindung des Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nur eine Frage der Zeit ist.

Wie reif sich die Gesellschaft in Deutschland im Umgang mit der geschlechterspezifischen Andersartigkeit inzwischen zeigt, sehen wir eben an der öffentlichen Begeisterung über Klaus Wowereits Äußerung. Ein Statement, das auch Menschen mit Migrationshintergrund ermutigen sollte, mehr Entschlossenheit zu zeigen: „Ich bin ein Neudeutscher und das ist auch gut so“.