Halime Bulut

„Ich werde nie eine Deutsche sein“

Dem deutschen Staat, ihrem Staat, hat sie nie vertraut. Seit der NSU-Mordserie lebt Halime Bulut in Angst. Nun überlegt sie, in ihr Geburtsland zurückzukehren. Treffen mit einer, die sich in Istanbul umsieht.

Zum Beispiel in der Geschichtsstunde im Gymnasium. Der Lehrer fragt die Schüler über das Osmanische Reich aus. Er schaut Halime an, kommt auf sie zu und sagt: „Als Türkin müsstest du das doch wissen.“ Da hat die Tochter türkischer Gastarbeiter schon weit mehr als die Hälfte ihres Lebens in Köln verbracht, hat hier Lesen und Schreiben gelernt, sich das erste Mal verliebt. Heute, mehr als 20 Jahre später, sagt die 40-Jährige: „Man kann nicht beides perfekt sein. Türkisch und deutsch. Das geht einfach nicht.“ Sie sagt es fast entschuldigend. Andere Sätze klingen anklagender: „Deutschland hat es nicht geschafft, dass ich mich deutsch fühle.“

Halime Bulut heißt eigentlich anders. Sie möchte ihren Namen nicht in einem Online-Magazin lesen, weil sie befürchtet, durch ihre Äußerungen zur Zielscheibe für Rechtsradikale zu werden. Seit der NSU-Mordserie lebt sie in Angst.

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Halime ist vier, als sie mit den Eltern von Anatolien nach Köln zieht. Der Vater stellt in einer Fabrik Automotoren her, die Mutter ist Hausfrau. Vier jüngere Geschwister werden geboren, zwei Schwestern und zwei Brüder. Weil die Eltern kaum Deutsch sprechen, muss Halime sie bei Amtsbesuchen begleiten. Sie erlebt dort, wie launisch Beamte die Härte des Gesetzes walten lassen. Das Bild des hilflosen Papas, der gebückten Mama, prägen die kleine Halime.

Wenige Deutsche ebnen ihr den Weg. Eine ist die Grundschullehrerin. „Sie musste meine Eltern überreden, mich ans Gymnasium zu schicken, weil kein Kind unserer Bekannten dorthin ging.“ Sie lernt fleißig, bemüht sich. So als ob sie denken würde, „wenn du gut sein willst, musst du besser sein als die Deutschen.“ Sie schafft es an die Universität, studiert Betriebswirtschaftslehre, finanziert sich ihr Studium, in dem sie beim Steuerberater arbeitet. Halime fügt sich in das deutsche System ein, ihr Leben, sagt sie, ist trotzdem keine Erfolgsgeschichte.

Servus, Bosporus! Im April dieses Jahres reisten zwölf Schüler der Zeitenspiegel-Reportageschule nach Istanbul. Zehn Tage lang recherchierten sie in der türkischen Metropole für ihre Geschichten. Darin wollten sie vor allem die besonderen Beziehungen zwischen Menschen in Istanbul und Deutschland in den Fokus stellen. Aus den Geschichten ist „Servus, Bosporus!“ entstanden, ein Onlinemagazin, in dem sich die Vielfalt der Metropole Istanbul aber auch die Vielfalt journalistischer Erzählformen wieder findet. Einige der Artikel veröffentlichen wir in einer losen Reihe auch im MiGAZIN.“

„Erzählungen von zu Hause wurden immer beurteilt.“ Für das, was tausende Kilometer weit entfernt in der Türkei passiert, muss sich Halime in Deutschland rechtfertigen. Warum ist es für Brüder eine Ehre, ihre Schwester zu ermorden? Ihre beste Freundin ist Afghanin. Hatice verliebt sich in Türken und Iraner. Nie in einen Deutschen. „Es kam irgendwie nicht in Frage“, sagt sie heute. Als Halime die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, feiert sie, anders als ihre Freundinnen, nicht. „Ist doch nur ein Papier.“ Auf den türkischen Pass verzichtet sie.

Sie lernt ihren späteren Mann kennen, einen Istanbuler, der in Maastricht lebt. Mit ihm zieht sie an das Dreiländereck nach Vaals, findet Arbeit in Aachen. Mit 36 wird sie Mutter. Seither überlegt Halime: Soll meine Tochter so aufwachsen? „Sie wird niemals eine Deutsche sein. Sie hat keinen deutschen Namen und kein deutsches Aussehen, das wird man ihr immer bewusst machen.“ Halime glaubt, dass viele Deutsche ein Problem mit selbstbewussten Migranten haben. „Der Großteil möchte, dass wir untertänig wie unsere Eltern sind.“ Sich überlegen zu fühlen, sei ein typisch deutsches Gefühl. Die Deutschen, sagt sie, entscheiden alles mit dem Kopf, auch die Liebe. Gibt es denn gar nichts Positives an ihnen? „Doch. Ich schätze ihre Ehrlichkeit, Verlässlichkeit.“ Vielleicht pauschalisiere sie auch. Sie gibt dem Leben in Deutschland die Schuld dafür. Ein ehemaliger Chef sagte einmal zu ihr: „Hättest du Kopftuch getragen, ich hätte dich nicht angestellt.“

Die NSU-Mordserie hat sie noch mehr ins Grübeln gebracht. „Der Alltagsrassismus nimmt zu.“ Dass die Deutschen ihre eigene Geschichte aufgearbeitet haben, hält sie für ein Märchen. „Der deutsche Staat deckt die Rechtsradikalen“, sagt sie. „Nach dem Motto: Das sind unsere frechen Jungs, die sich austoben.“ Das Wort „unsere“ betont sie. Halime fühlt sich nicht sicher in Deutschland. Daher der Gedanke, in die Türkei zurückzukehren. „Aber kann ich mich hier wieder einleben?“ Da sei doch einiges deutsch an ihr, „der Perfektionismus, die Pünktlichkeit“. An die Nagelbombe, die der NSU in der Kölner Keupstraße legte, muss sie oft denken. „Viele Male war ich dort.“ Halime will nicht denken, zum Glück ist mir nichts passiert. „Wenn jemand umkommt, weil er Türke ist, bin ich auch davon betroffen.“