Brückenbauer

Die Kultur der Ebenbürtigkeit

Die Geschichte des Menschen ist die Geschichte seiner Suche nach einer Identität. Und er verirrte sich auf dem Weg der Suchenden, so dass aus einer gemeinsamen menschlichen Identität viele wurden, die mittlerweile den Menschen in seinem Menschsein gefährden. Eine der Gefahren ist der Überlegenheitsanspruch. Der Anspruch wertvoller, nutzvoller und einfach besser zu sein.

Ein kleiner Junge kam zu seinem Vater und wollte mit ihm spielen. Der aber hatte keine Zeit für seinen Sohn und auch nicht wirklich Lust dazu. Also überlegte er, womit er seinen Knaben beschäftigen könnte. Er fand in einer Zeitschrift eine komplizierte und detailreiche Abbildung der Erde. Dieses Bild riss er aus und zerschnippselte es dann in viele kleine Teile. Die gab er dem Jungen und dachte, dass der nun mit diesem schwierigen Puzzle wohl eine ganze Zeit beschäftigt sei. Der Sohnemann zog sich in eine Ecke zurück und begann mit dem Puzzle. Nach wenigen Minuten kam er zu seinem Vater und zeigte ihm das fertig zusammengesetzte Bild. Der Vater konnte es nicht glauben und fragte seinen Sohn, wie er das denn so schnell geschafft habe. Das Kind sagte: „Ach, auf der Rückseite war ein Mensch abgebildet. Den habe ich richtig zusammengesetzt. Und als der Mensch in Ordnung war, war es auch die Welt.“

Es ist der Mensch, um den sich die Existenz dreht. Dieses vernunftfähige Wesen, das sich von den anderen Lebewesen in rationalen und emotionalen Dimensionen unterscheidet, bestimmt über die Ordnung der Erde und ihr Wohlbefinden, denn der Mensch war und ist es, der alles Existierende, seinem Dienst und Befehl unterstellt oder es zumindest versucht.

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Dieser Mensch, der liebt und hasst, der baut und zerstört, der bekriegt und befriedet, ist seit jeher damit beschäftigt, seine Beziehungen und seine Verhältnisse zu anderen Menschen zu definieren und zu regeln. Sein Verständnis von sich und folglich vom anderen ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Mensch in der von ihm selbst verfassten Geschichtsschreibung nicht gut wegkommt.

Die Geschichte des Menschen ist die Geschichte seiner Suche nach einer Identität. Und er verirrte sich auf dem Weg der Suchenden, so dass aus einer gemeinsamen menschlichen Identität viele wurden, die mittlerweile den Menschen in seinem Menschsein gefährden. Eine der Gefahren ist der Überlegenheitsanspruch. Der Anspruch wertvoller, nutzvoller und einfach besser zu sein.

Und dieser Anspruch der Völker, sich voneinander in Rang und Würde zu unterscheiden, muss mit allen Mitteln abgelehnt werden. Es ist nicht die Erinnerung an vergangene Tragödien, sondern die Warnung vor neuen. Denn auch im gegenwärtigen internationalen Diskurs ertönen laute Stimmen, die Teile der Erde als unzivilisiert deklassieren und einen Hoheitsanspruch formulieren, der mit dem Export und der Etablierung eigener Normvorstellungen einhergeht. Als Parameter des Entwicklungsgrades und Grundunterscheidungsmerkmal werden von den Anhängern chauvinistischer Weltbilder die technische Entwicklung und der materielle Wohlstand angeführt.

In konkreten Worten sind es eurozentrische Anschauungen, die versuchen, Gemeinwesensreglementierungen einiger „westlicher“ Staaten und deren Wirtschaftsmodelle in Länder der sogenannten Dritten Welt zu transferieren. Es ist kein Transfer im Rahmen der Völkerverständigung, wo im gleichberechtigten Dialog gemeinsam nach Lösungen für Probleme geforscht wird, sondern des Öfteren eine zwangsweise Etablierung und Durchsetzung. Es mangelt zweifelsfrei an einer Reflexionsfähigkeit im Westen, die zum einen die Historie und zum anderen die gegenwärtige Angemessenheit des eigenen Normensystems hinterfragt. Sollte das „westliche“ Normensystem ein allgemeingültiges sein und eine Lösung für alle Völker der Erde, so muss man anerkennen, dass es im Westen einen Prozess gab, an dessen Ende die gegenwärtigen Gesellschaftsformen entstanden sind. Das Recht auf das Durchleben eines individuellen Prozesses sollte man den Völkern der Erde einräumen. Dieses Argument greift aber nur, wenn wir anerkennen, dass die im Westen etablierten Formen den Ansprüchen und Bedürfnissen der Völker der Erde genügen und gerecht werden können.

Info: Diese Kolumne fokussiert einen Gedanken aus dem Buch „Brücken bauen – Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland“ (Bertelsmann-Stiftung 2013). In diesem Sammelwerk beleuchten junge AutorInnen – teils wissenschaftlich, teils erzählerisch – einige verschiedene Lebensrealitäten in Deutschland. Das Buch ist eine Einladung an alle, sich auf die Spurensuche nach den Brückenbauern von heute und morgen zu begeben.

Ich möchte nicht die politischen Theorien hinterfragen und den Wert der einzelnen Wirtschaftsmodelle analysieren. Im Rahmen zunehmender internationaler Vernetzung und stetiger Globalisierung ist die Frage nach den Lösungen für die Probleme der Zeit, allerdings eine, die von allen beantwortet werden muss. Die Exklusion weiter Teiler der Erde aus diesem Prozess ist nicht zukunftsfähig und keinesfalls gerecht. Der Dialog der Völker der Erde, der nun auf Augenhöhe stattfinden muss und sich an der Prämisse orientiert, dass es im Dialog der Völker keinen alleinigen Sieger, sondern nur Gewinner gibt, ist heute notwendiger denn je. Konfessionelle und religiöse Spaltungen, Grenzen zwischen Arm und Reich und Konflikte in allen Kontinenten, die uns die Gefahr der Zwangsveränderung des „anderen“ vor Augen führen, sind Gründe für einen Dialog der Rückbesinnung; und dieser muss heute beginnen.

Sein Startthema sollte lauten: Hin zur Anerkennung des globalen Menschen. Der globale Mensch, der das Mosaik seiner Identität selbst bastelt, der globale Mensch, der jegliche Form der Fremdzuschreibung ablehnt und nicht in kulturellen und ethnischen Kategorien denkt. Dann, wenn der Mensch sich seines Menschseins besinnt, das darin besteht anzuerkennen, dass der andere, auch wenn dieser nicht dasselbe Identitätsmuster aufweisen kann oder will, ebenbürtig ist. Die Kultur der Ebenbürtigkeit aller hebt Fronten und Gräben auf, sorgt für Empathie der Völker miteinander. Cicero sagte bereits, dass es nichts Hässlicheres gibt, als die Vorstellung, dass der Wohlhabendste der Beste ist. In seiner natürlichen Veranlagung lehnt der Mensch Ungerechtigkeit ab und das nicht nur, wenn er selbst betroffen ist. Proaktiv ist der Mensch, der in seinem Menschenbild nicht qualitativ unterschiedet, im Dienst des anderen.

Er wird nicht über seine Sättigung sprechen, wenn ein Hungernder anwesend ist. Er wird nicht über seinen Wohnort sprechen, wenn der andere ohne Obdach ist. Er wird nicht über seine Gesundheit berichten, wenn der andere krank ist. Er wird sich dadurch keinesfalls auf einer höheren menschlichen Stufe sehen. Bestenfalls setzt er sich zur Abschaffung dieser Missstände ein und das über die Grenzen der Religionen, Länder und Ethnien hinaus. Obwohl ich Kategorien ablehne, öffne ich nun eine große Schublade und sage, wie es Ali ibn Abi Taleb tat: der Beste ist der, der sich in den Dienst der Menschen stellt.