Die Flüchtlingspolitik Deutschlands und der Europäischen Union ist aufgrund der hundertfachen Todesfälle vor Lampedusa erneut unter massive Kritik geraten. Auch die innereuropäischen Fluchtbewegungen insbesondere von Roma aus Osteuropa nimmt einen zentralen Punkt in der Diskussion ein. Um sich ein Bild von der Situation der Roma in Serbien zu machen, reiste der niedersächsische Landtagsabgeordnete Belit Onay vom 4. bis 8. Oktober nach Belgrad.
Landung am Samstagmorgen auf Nikola-Tesla-Flughafen in Belgrad. Gleich meine ersten Stunden sind schon von solch gegensätzlichen Eindrücken überflutet, wie es auch die nachfolgenden Tage sein werden. Nach meiner Ankunft nehmen mich zwei Organisatoren der „Internationalen Jugendbegegnung von Roma und Nicht-Roma“ in Empfang. Die niedersächsische Roma-Organisation Romane Aglonipe hatte zu diesem Zweck jugendliche Roma und Nicht-Roma aus Deutschland und Serbien zusammengebracht. Bevor es ins nördlich gelegene Beška ging, fahren wir noch in die Innenstadt von Belgrad, da wir einige weitere serbische TeilnehmerInnen abholen sollen.
Gleich hinter Prada beginnt das Elend
Belgrad ist eine wunderschöne und bunte Stadt. Schöne klassische Altbauten reihen sich an wuchtige Bauten sozialistischen Stils. Wie Mahnmale stehen noch Gebäude mit Beschädigungen von den NATO-Bombardements aus dem Kosovokrieg an verschiedenen Stellen der Stadt. Die Sonne scheint auf schöne Menschen, die die breiten Alleen mit ihren aufwendigen Schaufenstern und großen Namen von weltbekannten Marken entlang flanieren. Eine Corvette donnert an uns vorbei. An einer Ecke biegen wir ab Richtung Karaburma. Dort liegt eine der so genannten Mahalas, eine Roma-Siedlung.
Weg in Karaburma © Belit Onay
Nachdem wir von der Prachtstraße abfahren sind wir wie in einer anderen Welt. Hinter einer schmalen, klapprigen Brücke geht es steil bergauf. Rechts und links sieht man Haufen aus gesammelten Plastikflaschen. Überall hängen Teppiche zum trocknen. Kleine Kinder sehen unser Auto, springen vom Müllberg herunter, rennen auf uns zu und schauen uns interessiert an. Auf Albanisch erkundigen sie sich, wer wir sind. Viele der hier lebenden Roma stammen aus dem Kosovo und sind während der Kriegswirren nach Serbien geflüchtet.
Eindrücke aus Karaburma © Belit Onay
Ein paar der jungen Roma, die an der Jugendbegegnung teilnehmen werden, begrüßen uns. Die Vertreter von Romane Aglonipe haben einige Kisten mit Nahrungsmitteln und Kleidung mitgebracht. Wir laden das Mitgebrachte aus und bringen es in eine der Baracken. Im Innenhof sitzen einige Frauen, die uns herzlich begrüßen. Auch dort wäscht man gerade einen Teppich, um ihn für den Winter sauber in die Baracke zu bringen.
Mit 13 Personen fahren wir mit unserem Neunsitzer los nach Beška. Dort soll die Jugendbegegnung stattfinden. Der Ort liegt in der nord-serbischen Vojvodina, einer autonomen Provinz, die vielen verschiedenen Volksgruppen eine Heimat bietet.
Wir kommen zu unserem Tagungshotel, das direkt an der Beška-Brücke an der Donau liegt. Eine malerische Kulisse. Eine Busladung mit Studierenden aus Hannover und Hildesheim und Mitgliedern von Romane Aglonipe ist bereits in den frühen Morgenstunden angekommen und klatscht und tanzt zu den Liedern einer Roma-Musikkapelle, die sich schon einmal auf eine serbische Hochzeit am Abend einstimmt.
Roma-Kapelle für die serbische Hochzeit © Belit Onay
Nach einer Kennenlernrunde und der Besprechung des Programmablaufs geht es zum Abendessen, wo eine weitere Gruppe von Roma-Musikern die Essenden unterhält. Viele der Lieder kommen mir vertraut vor von Roma-Liedern, die ich aus der Türkei kenne. Die Musik ist beschwingt, fröhlich und hebt die Stimmung. Meinen Tischnachbarn frage ich nach den Liedtexten. Die meisten der Lieder sind in Romanes, der Sprache der Roma. Entgegen der munteren Melodie sind die Texte eher sorgenvoll und fast melancholisch. So geht es in einem Lied um einen Mann, der sein Elend besingt. Er habe alles verloren: sein Auto, sein Geld, sein Glück. Seine Frau sei schwer krank und wie solle er jetzt mit den Kindern über die Runden kommen. Und das alles zu einer Melodie, die klingt wie „Disco Partizani“. Diese skurrile Mischung ist aber sinnbildlich für die Lebensfreude und Leichtigkeit, dieses leidgeprüften Volkes.
Best-Practise-Beispiel Vojvodina
Am nächsten Tag bilden sich Diskussionsforen in kleinen Workshops. Neben vielen Studierenden aus Deutschland sind auch einige Roma, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, und Roma aus Serbien dabei. Die Gruppe wird geleitet von Jelena Jovanovič. Sie ist vom Regional-Ministerium für nationale Minderheiten in der autonomen Region Vojvodina. Während der Diskussion sprechen viele in der Gruppe die oft sichtbare Kluft zwischen Arm und Reich und breite Spanne von Lebenssituationen in Serbien an. Gleich neben hippen Ausgehvierteln gebe es „Häuser aus Müll“, berichten die Teilnehmenden. Das Land sei insgesamt geplagt mit einer hohen Arbeitslosenquote von fast 30 Prozent, die insbesondere der Jugend massiv zusetze.
Frau Jovanovič berichtet über zusätzliche, teilweise strukturelle Probleme der Roma. So hätten viele Roma Probleme bei der Krankenversicherung, da sie ohne eine reguläre Wohnung nicht gemeldet seien. Diesem wolle man mit Stellvertretungen des Sozialamts als direkte Ansprechpartner vor Ort begegnen. Gleichzeitig hätten knapp 50 Prozent der Roma nicht einmal eine geringe Schulbildung genossen. Dies liege auch an den Schulgebühren, die für viele Roma-Familien nicht zu stemmen seien. So müsse man mit monatlich mindestens 60 Euro Schulkosten rechnen, das Kindergeld betrage jedoch lediglich 20 Euro im Monat. Gleichzeitig versuche man allerdings, zum Beispiel an Universitäten mit Kontingenten und Befreiungen von Studiengebühren, mehr Roma an die Hochschulen zu bekommen.
Im Umgang mit Roma sei die Provinz Vojvodina ein regelrechtes Best-Practise-Beispiel. Demnach würden an den Schulen der Provinz Pädagogen zur Umsetzung der Inklusion eingesetzt. Zudem gebe es an Schulen mit Roma-Kindern mindestens zwei Stunden pro Woche herkunftssprachlichen Unterricht in Romanes.
Doch auch über die schulische Bildung hinaus versuche man aufzuklären, wie beispielsweise bei gesundheitlichen Fragen oder bei speziellen Problemen von Mädchen, die teilweise von ihren Familien nicht in die Schule geschickt würden. Gerade Mädchen aus sehr armen Familien würden frühzeitig verheiratet, die Männer hingegen würden zu Musikern ausgebildet.
Mit diesen positiven Bemühungen habe die Provinz Vojvodina allerdings ein Alleinstellungsmerkmal in Serbien. In Gesprächen sagt man mir, dass das vor allem daran liege, dass die Roma hier eine autochthone Minderheit seien. In anderen Landesteilen gebe es viele Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo.
Belgrad, die Zweite
Am darauffolgenden morgen Fahren wir zu einer Exkursion nach Belgrad. Als erstes macht unsere Gruppe Halt an dem Mahnmal des Konzentrationslagers Sajmište. Dort hatten die deutschen Besatzer auf der gegenüberliegenden Uferseite der Donau vor den Augen der Belgrader Bevölkerung Juden, Roma und Widerstandskämpfer zusammengepfercht und vergast.
Mahnmal KZ Sajmište © Belit Onay
Mit der Aufarbeitung dieser Zeit tue man sich noch immer sehr schwer in Serbien. Bis Anfang der 90er habe man das Thema ganz totgeschwiegen. Das Leid der Roma während des Holocaust spiele auch heute noch keine Rolle.
Graffiti in Belgrad © Belit Onay
Auf dem Weg in die Altstadt gewinnt man den Eindruck, Belgrad sei die wahre Stadt der Liebe. Überall entlang des Donauufers haben die Belgrader in riesigen Schriftzügen ihre Liebesbekundungen für ihre Geliebten verewigt. „Volim te…“-Graffitis (dt.: „Ich liebe dich…“) und Herzen dominieren die Promenade.
Vorbei am modernen Belgrad erklimmen wir den Hügel, auf dem der Burgplatz Kalemegdan (vom türkischen „Kale meydanı“) errichtet ist. Hier sieht man die historischen Spuren dieses Vielvölkerstaates. Neben serbischen Denkmälern steht noch immer die Türbe, das Mausoleum, des türkischen Pascha Damat Ali. An diesem Platz wird ganz deutlich, wie sich hier die verschiedenen Völker Europas begegneten, bekriegten und vermischten.
Karaburma – der schwarze Ring
Vom Burplatz fahre ich mit den Organisatoren der Jugendbegegnung nach Stara Karaburma, dem alten Karaburma. Auch dort befindet sich ein Roma-Viertel. Dieses sei in noch viel schlimmeren Zustand, als die anderen. Karaburma ist türkisch und bedeutet schwarzer Ring. Es bezeichnet einen Ort, den man lieber meiden sollte. Wenn man ihn mit eigenen Augen sieht, weiß man warum.
Von der Bushaltestelle gehen wir einen Weg bergab. Der Weg sei erst neu asphaltiert worden, erzählt man mir. Als wir zu einer Biegung kommen, hört der Asphalt auf und bildet so eine Grenze; ab hier beginnt die Mahala. Wir gehen weiter auf dem Weg, der einem Acker gleicht. Am Straßenrand liegt Müll. Große Teile des Weges liegen unter Wasser, das aus den umliegenden Fabriken stammt. Diese braune Brühe sei auch im Sommer da. In diesem industriell verdreckten Wasser spielten die Kinder, wenn es im Sommer zu heiß werde.
Die „Asphaltgrenze“ vor Karaburma © Belit Onay
Die Luft ist durchtränkt von den Immissionen der Industrieanlagen. Ein beißender Geruch, durch den sich ein unangenehmer, betäubender Film auf die Schleimhäute legt. Wir treffen den Schwager eines unserer Gastgeber. Auf dem Weg zu seiner Bleibe, treffen wir Kinder, manche mit nur einem Schuh oder barfuß, andere mit zerrissenen Kleidungsstücken. Sie lächeln uns an und fragen wer wir sind. Als sie hören, dass wir aus Deutschland kommen, rufen sie „Bayern München“ oder „Auf Wiedersehen“.
Der Schwager bringt uns zu seiner Baracke. Wie auch alle anderen Unterkünfte hier sind die Häuschen aus den verschiedensten Materialien zusammengesetzt. Die besseren Bleiben haben Wände aus Stein oder Blech, manche auch nur aus Stoff, Teppichen oder Pappe. In dieser Unterkunft lebt ein Ehepaar mit ihrem Kind. Im eigentlichen Wohnraum läuft ein Fernseher, der mit dem angezapften Strom von der Überleitung betrieben wird. An der Wand hängt ein Bild der Kaaba in Mekka. Auf dem Sessel liegt ein kleiner Junge. Er sei schwer krank erzählt uns sein Vater. Er habe Probleme mit den Beingelenken, weshalb er wuchtige Schienen tragen müsse. Außerdem sei seine Lunge angegriffen. Durch die schlechte Luft hier sei kaum Besserung möglich.
Willkommen im „Roma-Club“
Zu uns gesellt sich der Neffe unseres Gastgebers. In akzentfreiem Hochdeutsch erzählt er uns seine Geschichte. Er sei mit zwei Jahren das erste Mal als Gastarbeiterkind nach Deutschland gekommen. Dann sei die Familie kurz zurück ins Kosovo gekehrt. Als der Krieg losbrach sei man wieder nach Deutschland geflüchtet, weshalb er im Grunde nichts anderes als Deutschland kenne, seine Heimat.
Mit 32 Jahren habe er dann „Scheiße gebaut“. Darum sei er nach Prishtina ins Kosovo abgeschoben worden. Eine für ihn lebenslange Strafe. Die erste Zeit sei unfassbar schwer gewesen: „Ich hatte 3000 € in der Tasche und bin plötzlich in einem fremden Land gelandet, das ich überhaupt nicht kannte. In Belgrad hatte ich ein paar Verwandte. Darum bin ich gleich hierher nach Belgrad. Als ich das erste Mal sah, wie die Leute hier leben, habe ich einen Schock bekommen.“
Er habe versucht mit dem Geld, das er aus Deutschland noch bei sich hatte, eine Wohnung anzumieten. „Aber als Roma kriegst du hier überhaupt nichts. Keiner will dir eine Wohnung oder eine Arbeit geben. Du hast keine Chance, hier rauszukommen.“ Notgedrungen habe er sich bei seinen Familienangehörigen in der Mahala einquartiert: „Ich wollte eigentlich auf der Straße schlafen, aber das geht als Roma nicht. Die schlagen dich zusammen, die bringen dich um, wenn sie dich alleine erwischen.“ Gewalt gegen Roma sei keine Ausnahme, teilweise durch die Polizei, teilweise durch rassistische Gruppen.
Um ein wenig Geld für das Nötigste zu verdienen, habe er anfangen müssen, Müll zu sammeln. „Als ich das erste Mal in einen Müllcontainer gekrochen bin, um nach Brauchbarem zu suchen, habe ich angefangen zu weinen. Ich hab es einfach nicht ausgehalten. In Deutschland hatte ich doch ein ganz normales Leben. Ich kann es noch immer nicht ertragen. An so etwas wie hier kann man sich nicht gewöhnen.“ Als er davon erzählt füllen sich seine Augen.
Er begleitet uns später noch zurück zur Bushaltestelle. Auf dem Weg sehen wir zwischen all den Baracken einen Funken Normalität. Inmitten dieser unwirtlichen Gegend steht eine Baracke mit offener Tür zu einer Art Kiosk oder Kneipe. Voller Trotz gegen alle Widrigkeiten prangt über dem Eingang der Schriftzug „Roma-Club“.