Urmila Goel, sie sind in Deutschland aufgewachsen. War Identität für sie ein Thema?
Goel: Ich habe mich lange nicht besonders mit Indern beschäftigt. Aber wir wachsen in einer Welt auf, in der man auf Wurzelsuche getrieben wird. Ich glaube, dass das auch in der nächsten Generation so bleibt. Einige Autoren des Buchs haben Kinder, die seit zwei Generationen in Deutschland leben und trotzdem als die „Anderen“ ausgemacht werden. Aber ich glaube, wir haben dieses Buch gerade für unsere Töchter und Söhne gemacht.
Prasad: Mir als junge Frau hätte das geholfen. Ich war immer heimlich auf der Suche nach anderen InderKindern.
Goel: Ja, es ist gut, wenn man dann etwas lesen kann, was den Begriff füllt und gleich wieder dekonstruiert.
Die ersten indischen Migranten kamen schon in den 50er Jahren in die BRD. „Heimat in der Fremde“ und „InderKinder“ erzählen zum ersten Mal ihre Geschichten. Warum so spät?
Urmila Goel (43) ist Kultur- und Sozialanthropologin, Trainerin mit den Schwerpunkten Migration, Rassismus, Postkolonialismus und Heteronormativität in Berlin und bloggt unter andersdeutsch.blogger.de. Nivedita Prasad (46) ist Professorin an der Alice-Salomon Hochschule Berlin und Trägerin des „Anne-Klein -Frauenpreises“ für ihr Engagement in der Beratungsstelle des „Ban Ying e.V.“ gegen Menschenhandel
Goel: Es wird einfach wenig über Migrationsgeschichten gesprochen. Auch in den Familien. Mein Vater zum Beispiel erzählt nicht gern. Vieles über meine indische Familie weiß ich von meiner deutschen Mutter.
Prasad: Es geht eher darum, die Hochkultur zu vermitteln.
Hochkultur?
Prasad: Ja. Bei uns lag immer die „Times of India“ zu Hause herum. Es gab indisches Fernsehen, klassische indische Musik. Das fand ich als Kind natürlich furchtbar. Ich glaube mein Vater hat gedacht: Ich bin zum Studieren hergekommen und geblieben. Ist doch nichts dabei.
Goel: Ich forsche seit Ende der neunziger zu Migration aus Südasien. Dass das Eigene, das Persönliche, eine gesellschaftliche Bedeutung haben kann, glauben viele nicht. Dabei haben diese Geschichten ja auch die nächste Generation geprägt.
Was sind das für Geschichten?
Prasad: Mein Vater ist in den 50ern als Student gekommen. Letztens hat er meiner Tochter erzählt, dass er das Schachspiel vom ägyptischen Meister gelernt hat. Die beiden haben sich auf der Überfahrt von Indien nach Deutschland eine Kabine geteilt und hatten Langeweile. Er ist damals drei Wochen lang mit dem Schiff gefahren und hat kiloweise Linsen und Gewürze mitgebracht, weil es in der BRD noch keine indischen Lebensmittelläden gab. Solche Geschichten haben wir als Kinder nie gehört.
Worum geht es in „InderKinder“?
Goel: Deutschland neigt dazu, Migrationsgeschichten zu vergessen. Wir wollen sie dokumentieren. In „Heimat in der Fremde“ geht es um die erste Generation. Für InderKinder haben wir die zweite Generation Migranten zusammengetrommelt. Ihre Autobiografien werden diesmal durch rassismuskritische Essays ergänzt.
Ist „InderKinder“ nicht auch ein rassistischer Begriff?
Prasad: Also wenn eine Weiße auf mich zugekommen wäre und gesagt hätte: „Ich mache ein Buch über InderKinder“, hätte ich mich schnell verabschiedet. Bei Urmila fand ich es witzig. Solche Begriffe müssen von innen kommen.
Goel: „Inder“ ist eine Konstruktion. Das schreibt auch Paul Mecheril in seinem Beitrag für „InderKinder“.
Inwiefern?
Prasad: Indien ist ein riesiges, diverses Land. Wenn man in Europa über Inder spricht, sind häufig die Nordinder gemeint. Das ist auch eine Frage der Hautfarbe: Südinder sind viel dunkler. Auch in Indien spielt das eine große Rolle.
Goel: Eigentlich hätten wir „als indisch markierte“ als Kategorie nehmen müssen. Das können Sri Lankis und Bangladeshis oder Menschen aus Kenia sein. Eben alle, die so aussehen, wie man sich hier einen Inder ausmalt.
Prasad: Die Familie einer Mitautorin kommt aus Südindien, spricht Malayalam, ist christlich. Wir beide haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Religion und auch unsere Essensangewohnheiten sind doch deutlich unterschiedlich. Trotzdem werden wir beide unter der Kategorie „Inderinnen“ zusammengefasst.
Was ist euch als AutorInnen denn dann gemeinsam?
Goel: Die Migrationsgeschichten. Es gibt zum Beispiel die große Gruppe derjenigen, deren Mütter als Krankenschwestern angeworben wurden und bei denen später die Männer nachkamen.
Prasad: Alle denken immer: Migration, da kommen erst die Männer und dann die Feminisierung. Aber es gibt Migrationsströme bei denen es komplett anders läuft. Bei den Phillipinas, den Koreanerinnen, den Südinderinnen. Das weiß hier keiner. Dabei stellt es auch infrage, was wir über Geschlechterverhältnisse in Indien annehmen.
Warum?
Goel: Weil das Konzept, dass erst die Frauen reisen dürfen und die Männer nachkommen, für eine ganze Generation normal war und sehr gut funktioniert hat. Das zeigt auch unser Buch.
Nivedita Prasad, Sie sind als Kind mit ihren Eltern migriert.
Prasad: Genau. In meiner indischen Schule hat man uns erzählt die Deutschen wären wohlerzogene, Goethe lesende Menschen. Und dann kam ich mit 13 nach Deutschland, in eine Berliner Realschule und war entsetzt. Wirklich.
Warum?
Prasad: In Indien war es so: wer einigermaßen gebildet war, sprach Englisch. Die Vorstellung, dass Lehrer kein Englisch sprechen, war absurd. Dann kam ich nach Berlin und kaum jemand konnte Englisch.
Haben Sie sich als Inderin gefühlt?
Prasad: Ich fand es ja schlimm genug, dass alle anderen sagten: das ist die Inderin. Ich habe eher einen emotionalen Hintergrund: die Sprache, das Essen, ich schaue auch die Filme und so. Aber ich definiere mich damit nicht nach außen. Man hat mich zur Inderin gemacht als ich nach Deutschland kam.
Was war denn Ihre Identität?
Prasad: Die der Migrantin. Ob Südafrikanerin oder Türkin war mir egal. Ich habe mit Kommilitoninnen die erste schwarzfeministische Gruppe gegründet. Da war eine Frau iranischer Herkunft, eine ecuadorianischer Herkunft, May Ayim, also eine afrodeutsche Frau. Und unsere Erfahrungen ähnelten sich, obwohl unsere Herkunft so unterschiedlich war. Da habe ich gedacht: das hat ja mit Indien gar nichts zu tun. Das sind koloniale Bilder, die es hier gibt.
In den Autobiografien in „InderKinder“ wird Rassismus aber selten als Problem genannt.
Goel: Naja. Manche erzählen, wenn sie in einen Laden gehen, wird ab und zu nachgeschaut, ob sie etwas geklaut haben. Sie erklären das aber individuell.
Prasad: Mir fällt keine Geschichte ein, wo Rassismus keine Rolle gespielt hat. Aber viele, in denen es nicht erwähnt wurde. Das kenne ich auch aus der Generation unserer Eltern. Viele berichten über Exklusion in der Schule, über Partnerschaften oder das Studium. Aber das Wort Rassismus kommt nicht vor, nur manchmal ganz vorsichtig „Ausländerfeindlichkeit“. Dabei sind die meisten Autoren keine Ausländer, sondern in Deutschland geboren und aufgewachsen.
Goel: Die indische Community sieht sich manchmal als „Model Minority“. Das ist auch so ein Problem. Es befördert den rassistischen Diskurs.
Model Minority?
Goel: Wir Inder sind die guten Migranten – Sarrazin sagt das auch. Migranten aus Südasien sind oft Mittelklassefamilien und haben Ressourcen, die es ihnen hier leichter machen: Bildung, Schicht, Religion, und ökonomische Ressourcen. Aber darüber wird nicht gesprochen.
Prasad: Ich kenne das aus meiner Familie. Rassismus erleben auch nur die anderen: die Türken, die Pakistani. Ich glaube nicht, dass der normale Rassist auf der Straße da unterscheidet.
Goel: Viele Migranten wollen keine Opfer sein. Wenn man sich mit Rassismuskritik konfrontiert, muss man die eigene starke Position aufgeben. Deswegen gibt es Mechanismen. Wird man exotisiert, kann man sagen: Hey das ist nur Neugier, Interesse an mir. Wenn die Struktur rassistisch wäre, würde das schließlich mein ganzes Leben infrage stellen.
Prasad: In der Berliner Schule saß hinter mir ein Junge, von dem ich eines meiner ersten Worte gelernt habe: Kanacke. Das stand in keinem Wörterbuch also habe ich zu Hause meine Mutter gefragt. Die sagte: Don’t worry, its just a bad word. Ich dachte: Vielleicht hat er was gegen mich? Vielleicht habe ich was falsch gemacht? Das wurde nicht als Rassismus eingeordnet.