Rechtsstaat

Faires Verfahren für Russen?

Wenn es um die Verurteilung russischer Oppositioneller in ihrer Heimat geht, sind deutsche Medien und Politiker schnell mit Vorwürfen bei der Hand. An der Kritik mag ja etwas dran sein, aber wer sie erhebt, sollte es selbst besser machen. Ein Erfahrungsbericht.

Wenn es um die Verurteilung russischer Oppositioneller in ihrer Heimat geht, sind deutsche Medien und Politiker schnell mit Vorwürfen bei der Hand, es mangle an Rechtsstaatlichkeit und die Gerichte seien nicht unabhängig. An der Kritik mag ja etwas dran sein, aber wer sie erhebt, sollte es selbst besser machen. Stellt sich die Frage, wie deutsche Behörden und Gerichte mit Russen umgehen, wenn diese beispielsweise Schadensersatz wegen Pannen im Visumsverfahren verlangen. Aber der Reihe nach:

Langem hat meine Frau eine enge Freundin aus dem Fernen Osten Russlands eingeladen, uns zusammen mit Mann und Sohn, dem Patenkind meiner Frau, in Deutschland zu besuchen. Die Freundin, nennen wir sie Mascha, ist studierte Deutsch-Lehrerin und war während des Studiums vor mehr als einem Jahrzehnt ein Jahr Sprachassistentin an einem deutschen Gymnasium. Seither ist sie nicht wieder hier gewesen, die Reise ist zu weit, zu teuer, zu beschwerlich.

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Alles wird gut?
Weihnachten 2011 soll es aber so weit sein. Bereits im Sommer beginnen wir mit der Planung, vor allem wie man die Visumsbeschaffung organisiert. Sie bekommen die Erlaubnis, das Visum abweichend in Moskau statt in Novosibirsk zu beantragen, und einen Termin für Montag, 12. Dezember. Am Donnerstagvormittag um halb 11 geht ihr Flug nach Deutschland, die Zeit ist also knapp. Eventuell müssen sie Expresszuschlag für die Visumsbearbeitung zahlen, meint die Botschaft, statt 35 dann 70 Euro – pro Person, also mal Drei. Ich sage Mascha, sie soll das Geld mitnehmen und bezahlen, wenn es verlangt wird. Natürlich.

Die Bearbeiterin am Schalter sagt gleich: „Warum stellen Sie einen Expressantrag?“ Alle Erklärungen, die weite Anreise aus dem Fernen Osten etc. will sie nicht gelten lassen, und quittiert alles mit einem „Na, und?“. Dann aber akzeptiert sie die rasche Bearbeitung und sagt den Dreien, sie sollen am Mittwochnachmittag ihre Pässe abholen. Alles wird gut. Mascha fragt mehrmals nach den Gebühren, denn man verlangt nur die normale Gebühr von 35 Euro pro Person von ihr. Das sei in Ordnung, wird ihr mehrfach versichert.

Interventionen sind zwecklos
Aber als sie wie besprochen zur Passabholung erscheint, sind die Pässe nicht da und man vertröstet sie auf den kommenden Donnerstag früh um acht. Das bedeutet aber, dass sie den Flug nicht schaffen können. Moskau ist viel zu groß, als dass man da eine Chance hätte, von der Botschaft rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, außer mit einem Hubschrauber.

Interventionen sind zwecklos, die Pässe sind nicht da und niemand sucht nach ihnen. Telefonisch ist in der Botschaft niemand zu erreichen und im Auswärtigen Amt auch nicht, dort ist an diesem Nachmittag Personalversammlung. Am nächsten Tag sind die Pässe da. Sie waren auch am Tag davor schon fertig, nur sind sie durch ein Versehen nicht zur Ausgabe gelangt und natürlich sucht niemand, wenn so eine hergelaufene Russenfamilie weinend vor der Deutschen Botschaft steht und gerade mühsam zusammengesparte tausend Euro in den Wind gehen sieht, nur weil niemand dort sich erweichen lässt, einmal nachzuschauen, wo ihre Pässe liegen könnten. Da könnte ja auch jeder kommen und wo kämen wir da hin.

Das Auswärtige Amt weigert sich
Mascha kauft also neue Tickets für knapp 1000 Euro – zum Glück hat sie noch welche bekommen, so kurz vor Weihnachten ist das ja nicht selbstverständlich. Am Flughafen begrüße ich sie mit den Worten: „Zu diesem Flug hat sie der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland eingeladen!“ Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat und der haftet für Schäden, die seine Beamten im Dienst anrichten.

Mascha hat die Sache innerlich eigentlich schon abgehakt und schaut mich ungläubig an, als ich ihr eröffne, dass sie Schadensersatz verlangen kann. Das Auswärtige Amt weigert sich natürlich. Es habe keine Pflicht zur pünktlichen Rückgabe der Pässe gegeben und schließlich sei kein „Expressvisum“ beantragt worden. Das sehen wir freilich anders und die Sache kommt vor Gericht. Um die Kosten niedrig zu halten, klagen wir erst einmal Maschas Ticket für knapp 300 Euro ein. Das Verwaltungsgericht erweist sich als unzuständig, die Sache muss vors Landgericht. Ein privater Schadensersatzprozess würde vorm Amtsgericht geführt, will man vom Staat auch nur einen Euro ersetzt bekommen, muss man zum Landgericht und braucht einen Anwalt. Sonst könnte ja jeder kommen.

Das Übersehen
Also beantragt Mascha Prozesskostenhilfe, um sich einen Anwalt nehmen zu können, schließlich verdient sie als Erzieherin in einem Kindergarten nicht genug, um das bezahlen zu können. Darauf passiert gar nichts. Auf Nachfrage teilt das Landgericht unter Verweis auf die Anwaltspflicht mit, es könne nicht tätig werden, weil ein solcher ja bislang nicht beigezogen wurde. Der Anwaltszwang gilt allerdings nicht für den Antrag auf Prozesskostenhilfe, denn mit der soll ja der Anwalt bezahlt werden. Der Weg ist also, erst über die Prozesskostenhilfe zu entscheiden. Wenn die bewilligt ist, kann ein Anwalt tätig werden und die erforderlichen Anträge beim Gericht stellen.

Man habe übersehen, dass in dem Schriftsatz, mit dem die Abgabe ans Landgericht erbeten wurde, ein Prozesskostenhilfeantrag enthalten war. Ich sehe mir den Schriftsatz an: „Antrag auf Prozesskostenhilfe“ steht deutlich oben drüber. Der könne formlos nicht bearbeitet werden, es müsste eine Erklärung über die wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem vorgesehenen Vordruck eingereicht werden. Das ist richtig. Nur schickt üblicherweise das Gericht dem Antragsteller den amtlich Vordruck zu. Hier schreibt man einer Russin einfach, sie solle gefälligst den gesetzlich vorgesehenen Vordruck einreichen, ohne ihr zu sagen, wie sie an so ein Formular kommen kann.

Der Rechtsweg muss offen stehen
Ich recherchiere das also nach, finde ihn im Internet und schicke ihn per E-Mail an Mascha. Wir haben inzwischen Herbst 2012 – zu Weihnachten kommt die Schwiegermutter und kann die Formulare mitbringen. Wir bitten das Gericht um eine Frist bis Anfang Januar 2013. Pünktlich bekommt es alle Unterlagen. Das Auswärtige Amt ist indessen der Meinung, die Sache habe keine Aussicht auf Erfolg und deshalb könne die Hilfe nicht bewilligt werden. Es meint, Mascha könne das alles nicht beweisen, was sie da behauptet.

Das aber ist Sache des eigentlichen Gerichtsverfahrens, Beweise zu erheben und den Sachverhalt einer Würdigung durch das Gericht zu unterziehen. Das kann man nicht so Weiteres im Verfahren zur Prozesskostenhilfe klären. Es ist durchaus möglich, dass Mascha das Gericht von ihrer Version wird überzeugen können und die Sache gewinnt. Sicher ist das nicht, aber der Rechtsweg muss ihr offen stehen – in einem Rechtsstaat, der sich diesen Namen verdienen will.

Recht auf ein faires Verfahren
Der Vorsitzende Richter bittet um Rückantwort auf das Auswärtige Amt. Mascha legt genau das dar und bitte erneut um die Bewilligung. Darauf lässt der Richter überflüssigerweise wieder das Auswärtige Amt „abschließend“ Stellung nehmen, dann ist wieder Mascha „abschließend“ dran. So vergehen Wochen und Monate. Nach mehreren solchen Runden, in denen immer wieder sinnlos dieselben Argumente ausgetauscht werden, fragt der Vorsitzende, welcher Rechtsanwalt denn die Sache übernehmen wolle. Natürlich will kein Anwalt so einen Prozess übernehmen. Der Streitwert ist gering, daran ist so gut wie nichts zu verdienen. Dafür gibt es aber viel Arbeit, müssen vor allem Beweisanträge gestellt und begründet werden. Das weiß natürlich auch der Richter nur zu genau und hofft wohl, die Sache an vergeblicher Anwaltssuche doch noch scheitern lassen zu können. Denn die Prozesskostenhilfe muss er wohl bewilligen, daran kommt er kaum vorbei, die Vorgaben aus Karlsruhe sind eindeutig. Aber vermutlich gibt er Mascha schon jetzt keine Chance.

Wie die Hauptsache ausgeht, bleibt trotzdem abzuwarten. Richter wechseln oder ändern ihre Meinung auch, jedenfalls ist es zu früh, um aufzugeben. Mascha hat ihn in mehreren Schriftsätzen um ein faires Verfahren und Rücksicht auf ihre ungleich schwächere Position gegen das mächtige und mit allen juristischen Wassern gewaschenen Auswärtige Amt gebeten. Sie hat ihn auch darauf hingewiesen, dass sie es als Russin und gelernte Deutsch-Lehrerin mit großem Interesse verfolgt, wie man in Deutschland mit Klagen gegen den Staat wie ihrer umgeht, die bei ihr zu Hause kaum vorstellbar wären. Das scheint am Landgericht Berlin aber keinen zu beeindrucken, über die Außenwirkung scheint sich niemand dort im Klaren zu sein.

Dann herrscht eben staatliche Willkür
Dabei geht es nicht darum, wie man in der Sache letztlich entscheidet. Es geht darum, wie man das Verfahren führt, ob man Mascha eine faire Chance gibt und entsprechend agiert. Die die Kaltschnäuzigkeit und die permanenten Rückfragen nach Dingen, die längst vorgetragen und geklärt sind, lassen nicht darauf schließen, dass am Landgericht Berlin jemand ein Interesse hat, diesen Streit in einem sorgfältig und gründlichen Verfahren zu prüfen und zu entscheiden. Dabei geht es ja nicht um Maschas 300 oder 900 Euro, sondern darum, ob man als Visumsantragsteller sich alles gefallen lassen muss. Ob man sich auf Zusagen einer Botschaft verlassen darf, ob die Mitarbeiter dort sich unbarmherzig zeigen dürfen und ihre Bequemlichkeit andere viel Geld kosten dürfen. Es kann sein, dass man juristisch am Ende tatsächlich zu diesem aus unserer Sicht unerfreulichen Ergebnis kommt – aber einen Anspruch, dass das sorgfältig geprüft wird, haben wir doch. Oder aber wir verzichten künftig auf die Behauptung, bei uns herrsche uneingeschränkte Rechtsstaatlichkeit. Dann herrscht eben kein Rechtsstaat mehr, wenn Ausländer Visa wollen. Dann herrscht da eben staatliche Willkür. Kann man machen, darf dann aber nicht mehr so scheinheilig tun, wenn andere Staaten sich ebenfalls das Recht hin und her biegen, wie es gerade passend scheint.

In unserem Fall hatte sich trotz miserablen finanziellen Aussichten ein befreundeter Anwalt von Anfang an aus Überzeugung bereit erklärt, die Sache zu übernehmen, sobald über die Prozesskostenhilfe entschieden ist.

Funkstille
Und das stand ebenfalls im Antrag bereits deutlich drinnen mit Namen und Anschrift des Anwaltes und eine Vollmacht für ihn hat Mascha auch längst am Landgericht eingereicht. Die hämische Frage des Vorsitzenden, welcher Rechtsanwalt das denn übernehmen wolle, ist also reichlich merkwürdig und zeugt nur davon, dass der Richter Maschas Anliegen möglichst abwimmeln möchte und dabei mehrfach Dinge übersieht, die in der Akte kaum zu übersehen sind. Freudsche Fehlleistungen nennt man so etwas. Ist ja auch noch schöner. Diese Russin soll doch froh sein, dass man ihr überhaupt gnädig ein Visum erteilt hat. Und dann kommt die auch noch an und will Schadensersatz, weil sie ihren Flieger verpasst hat. Und ob ihr das zusteht, will sie in einem teuren Gerichtsverfahren auf Staatskosten klären lassen? Wo kommen wir da hin? Rechtsstaatsgarantien wie effektiven Rechtsschutz schön und gut, aber doch wohl nicht für irgendwelche dahergelaufenen Russen.

Die Frage nach dem Anwalt ist nun schon wieder viele Monate her und wurde von uns postwendend beantwortet. Seither herrscht Funkstille am Landgericht Berlin. Vermutlich philosophiert man dort noch darüber, ob man Bürgern rückständiger Länder wie Russland überhaupt unseren hohen Rechtsschutzstandart angedeihen lassen muss.