Türkei

Auf der Suche nach einem Demokratieförderer

Die regierungskritischen Proteste in der Türkei untermauern, dass das Land vor großen demokratischen Herausforderungen steht. Im OECD-Vergleich nimmt die Türkei bei der Demokratiequalität sogar den letzten Platz ein. Brüssel muss das türkische EU-Beitrittsgesuch ernst nehmen, um demokratische Reformen voranzubringen, sagt Hakan Demir.

Seit Juni strömten Tausende Menschen auf die Straßen der türkischen Städte und protestieren gegen die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und ihren Premierminister Recep Tayyip Erdoğan. Die Unruhen zählen zu den schlimmsten seit Jahren.

Was zunächst mit einer kleinen Demonstration im Gezi-Park in Istanbul anfing, löste bald in fast allen Städten des Landes große Unruhen aus. Es begann Ende Mai mit Protesten gegen den Bau einer Nachbildung einer osmanischen Kaserne in der Nähe des am Taksim-Platz gelegenen Gezi-Parks. Die Proteste entwickelten sich zu größeren Unruhen, als die Polizei eine Gruppe Demonstranten angriff und mit Tränengas und Wasserwerfern auseinandertrieb.

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Bislang sind mindestens fünf Menschen gestorben und rund 8000 verletzt worden. Zu den Toten und Verletzten kommen rund 800 Demonstrierende, die kurzzeitig in Untersuchungshaft gelandet sind, hinzu. Unter ihnen sind auch Ärzte und Juristen. Wie viele Menschen genau sich zur Zeit in Polizeigewahrsam befinden, ist unklar.

Der zivilgesellschaftliche Protest richtet sich nicht nur gegen die Zerstörung des Gezi-Parks, sondern ist ein Kampf für mehr Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Außerdem sprechen sich die Menschen gegen Erdoğans zunehmend autoritären Regierungsstil aus.

Der Türkei fehlen demokratische Strukturen
Der Türkei-Bericht der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann-Stiftung stellt fest, dass für die türkische Regierung „die zentrale Ordnung und direkte Kontrolle wirksamer als das Zusammenspiel und die Kooperation zwischen Verwaltung und ökonomischen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren” ist. Die Ereignisse im Gezi-Park sind dafür ein Beleg: Vertreter der Zivilgesellschaft wurden auch hier nicht in die Entscheidungsprozesse der lokalen Verwaltung in Istanbul eingebunden. Deshalb erstaunt es nicht, dass die Türkei bei der Bewertung der Demokratiequalität innerhalb der OECD den letzten Platz belegt. Ein weiterer Grund hierfür ist, dass das Land einen Friedhof für politische Parteien darstellt. Seit 1961 wurden 25 Parteien aufgrund ihrer islamischen oder separatistischen Politik verboten. Zudem stellt die Zehn-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen ein großes Hindernis für eine faire Interessensvertretung dar. Die AKP hat nicht die Absicht, dieses Überbleibsel aus der Verfassung der Militärjunta von 1983 abzuschaffen.

Auch die Unabhängigkeit der Medien ist nach Angabe der Bertelsmann-Studie aufgrund „ökonomischer und finanzieller Beziehungen zwischen Regierung und Medienunternehmern“ in der Türkei nicht garantiert. Zu Beginn der Unruhen zeigten türkische Medien Pinguine oder Kochshows anstatt über die Ereignisse auf dem Taksim-Platz zu berichten. Die Demonstrierenden nutzen jedoch erfolgreich soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, um diese (Selbst-)Zensur zu umgehen.

Eine 2,3 Milliarden Dollar Strafe gegen die Doğan Media Gruppe zeigte bereits im Jahr 2009 den Druck, dem Medien in der Türkei durch die Regierung ausgesetzt sind. Die Gruppe gehörte zu den größten Regierungskritikern des Landes.

Bereits vor den Protesten im Gezi-Park konnten regierungskritische Meinungsäußerungen von Journalisten auch zu Gefängnisstrafen führen. Im April 2012 saßen nach Angabe eines Berichts der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) 95 Journalisten in Haft. Bis zum 5. Juni 2013 wurden 29 Menschen wegen Twitter-Nachrichten verhaftet.

2012 stellte der Europäische Gerichtshof 160 Menschenrechtsverstöße der Türkei fest
Wie schwach die türkische Demokratie ist, zeigen auch die Zahlen der Menschenrechtsverstöße. In den ersten zehn Monaten von 2012 stellte die Menschenrechtsstiftung der Türkei 397 Fälle von Folter und Misshandlungen fest. Jedoch existiert keine juristische Aufklärung innerhalb der Polizei, wie die Europäische Kommission in ihrem Fortschrittsbericht der Türkei von 2012 mitteilt. Überdies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in 160 Fällen die Türkei des Verstoßes gegen Menschenrechte für schuldig gesprochen. Bei rund 16.000 Klagen stand das Urteil im September 2012 noch aus.

Vor ernsten Problemen stehen in der Türkei auch ethnische, religiöse und Sprachminderheiten. Obwohl die Gespräche mit dem Führer der kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, den Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung vorerst stoppen konnten, gibt es im Südosten des Landes weiterhin Unruhen.

Ende Juni marschierte beispielsweise eine Gruppe von rund 200 Personen auf eine Baustelle in der Stadt Diyarbakir, auf der ein Außenposten des Militärs gebaut werden sollte. Das führte zu gewaltsamen Zusammenstößen mit vielen Verletzten. Die Türkei hat noch einen langen Weg vor sich, um die Rechte der Kurden, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung von rund 74 Millionen ausmachen, zu stärken.

Darüber hinaus ist die alevitische Religionsgemeinschaft in der Türkei Diskriminierungen ausgesetzt. Ihre Gebetsstätten, die Cem-Häuser, sind weiterhin nicht offiziell vom Staat als solche anerkannt und die Regierung in Ankara erschwert den Bau von neuen Häusern.

Wer kann die Demokratie in der Türkei fördern?
Trotz des übermäßigen und unverhältnismäßigen Gewalteinsatzes der türkischen Polizei während der jüngsten Proteste, hat die Europäische Union am 25. Juni 2013 die Öffnung eines neuen Kapitels in den Beitrittsverhandlungen der Türkei beschlossen. Das gab es seit drei Jahren nicht mehr und ist ein richtiger Schritt. Denn Brüssels Interesse am türkischen EU-Beitritt hat bereits in der Vergangenheit wichtige demokratische Reformen in der Türkei angestoßen.

Die Proteste rund um den Gezi-Park sind unterdessen zu einem Symbol einer wachsenden und starken Zivilgesellschaft in der Türkei geworden. Sie will nicht nur alle vier Jahre wählen, sondern an den Entscheidungsprozessen im Land teilnehmen. Das ist ein wichtiger Beweis für den demokratischen Willen der Türkei. Doch das Land braucht einen Demokratieförderer. Die EU könnte dieses Vakuum füllen, wenn es den türkischen Beitrittsprozess ernsthaft anginge.