War Hitler hochbegabt? Macht Schule dumm? Diese und andere Fragen zum Thema Intelligenz versuchte ein Spiegel-Redakteur kürzlich zu klären, indem er den Begabungsforscher Detlef Rost um Auskunft bat. Neun solcher Mythen wurden locker abgearbeitet, bis es zum Ende hin plötzlich ernst wurde: Mythos Nummer zehn lautete nämlich: „Bei Fragen der Intelligenz gibt es keine Tabus.“
Detlef Rost schien sofort zu wissen, worauf das Stichwort „Tabu“ abzielte. „Ob es Unterschiede zwischen Ethnien gibt, ist ein weithin erforschtes Feld“, so Rost. „Aber ich werde hier nicht einmal fremde Ergebnisse wiedergeben, geschweige denn meine Meinung sagen. Sonst müsste ich fürchten, dass ich in der Vorlesung mit Eiern beworfen werde.“ (Der Satz wurde inzwischen aus dem Netz genommen.)
Detlef Rost ist eine der wichtigsten deutschen Quellen von Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, und Rost sprang dem ehemaligen Berliner Finanzsenator in der öffentlichen Debatte des Jahres 2010 zur Seite. Die „Sarrazin-Methode“, sich als Opfer von Tugendterror und Zensur darzustellen, beherrscht offenbar auch er. Doch ist die Forschungslage tatsächlich so eindeutig, wie Rost suggeriert?
Nebulöse Andeutungen
Dass es Menschengruppen und Ethnien gibt, die bei IQ-Tests besser abschneiden als andere, bestreitet niemand. Ob es sich dabei wirklich um Intelligenzunterschiede handelt, ist allerdings durchaus umstritten. Selbst prominente Intelligenzforscher wie der Neuseeländer James Flynn vertreten die Ansicht, dass IQ-Tests nicht die Intelligenz messen, sondern eher schwach mit ihr korrelieren. Offenbar hat zudem jede Kultur, jedes Milieu und jede Generation ganz eigene Vorstellungen davon, was Intelligenz ist.
Die im Zuge der Sarrazin-Debatte populär gewordene Idee von der „Erbdummheit“ bestimmter Bevölkerungsgruppen lässt sich mit den Mitteln der Intelligenzforschung schon gar nicht untermauern. Die den Erblichkeitsschätzungen der Intelligenzforschung zugrunde liegende Methode ist nämlich lediglich geeignet, Aussagen zur Erblichkeit individueller Unterschiede innerhalb einer Gruppe zu treffen. Über die Erblichkeit von Unterschieden zwischen Gruppen sagt der Erblichkeitskoeffizient nichts aus. 1
Ein schlichter Hinweis auf die begrenzte Aussagekraft der Intelligenzforschung hätte einem Artikel, der den Anspruch erhebt, „Intelligenzmythen“ zu enttarnen, gut angestanden. Doch statt aufzuklären, präsentierte der Spiegel-Redakteur seinen Lesern nebulöse Andeutungen über „Forschungsergebnisse“, die zu brisant sind, um darüber sprechen zu können.
Dabei ist der Streit über „race and intelligence“ schon ziemlich alt – und wird von den Amerikanern in schonungsloser Offenheit und Härte geführt. Im Jahr 1994 erschien in den USA ein Buch, das ähnliche Thesen vertrat wie Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Die US-Autoren Charles Murray und Richard J. Herrnstein warnten in ihrem Bestseller „The Bell Curve“ vor einer Verdummung der Gesellschaft durch die überdurchschnittliche Vermehrung von Unterschichten und Afro-Amerikanern. Auch in den USA schlugen die Wellen der Empörung hoch. Doch anders als die deutschen Medien im Fall Sarrazin sahen es die US-Journalisten als ihre Aufgabe an, die Quellen des Buches zu überprüfen.
Charles Lane wies in einem Artikel für die New York Review of Books nach, dass sich die Argumentation des US-Bestsellers zu weiten Teilen auf die Publikationen eines (pseudo-)wissenschaftlichen Netzwerks stützt, das vom Pioneer Fund finanziert wurde, einer 1937 vom Nazi-Anhänger Wickliffe Draper zum Zwecke der „Rassenverbesserung“ gegründeten Stiftung. Die vom Pioneer Fund geförderten Wissenschaftler betreiben fast ausschließlich rassistisch-eugenische Studien, in denen die Überlegenheit des gebildeten weißen Bürgertums nachgewiesen werden soll.
Die Aufdeckung dieser Quellenlage verhinderte, dass sich die Botschaft von „The Bell Curve“ als durch objektive wissenschaftliche Erkenntnisse untermauerter Tabubruch verkaufen ließ. Wer das Buch öffentlich verteidigte, wusste, in welch dubiose Gesellschaft er sich begab.
Muslime statt Afro-Amerikaner
Für „Deutschland schafft sich ab“ tauschte Thilo Sarrazin lediglich die Afro-Amerikaner gegen „muslimische Migranten“ aus – folgte ansonsten aber getreulich der Argumentation von „The Bell Curve“ und zog auch dasselbe Netzwerk rassistischer Pioneer-Fund-Forscher als Quellen heran. Die Verbindung zu „The Bell Curve“ wurde in den Medien des Öfteren erwähnt. Doch eine Recherche zum Hintergrund des Buches und damit auch zu den nachweisbaren Bezügen ins rechtsextreme Milieu fand nicht statt.
Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz
Die fachliche Argumentation des nebenstehenden Artikels wird im 2012 erschienenen Buch „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz“ weiter ausgeführt. In die- sem Sammelband werden die Denk- muster und -fehler von Sarrazins Nie- dergangsszenarien aus Sicht verschie- dener Wissen- schaftsdisziplinen untersucht.
„Unbedingt lesenswert!“, urteilte Spektrum der Wissenschaft. www.von-galton-zu-sarrazin.de
Das Versagen der deutschen Medien im Fall Sarrazin lässt sich exemplarisch am Leitmedium Spiegel zeigen. Das Nachrichtenmagazin druckte (zeitgleich mit der Bild-Zeitung) vorab Auszüge aus „Deutschland schafft sich ab“. Das sei keine leichte Entscheidung gewesen, erläuterte der damalige Spiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron im Interview mit der Taz (27.8.2010). „Wir haben darüber intensiv in der Redaktion debattiert. Auch ich habe lange mit mir gerungen.“ Aber: Die Debatte müsse geführt werden – und der Spiegel werde dazu beitragen.
Verblüffend geringer Rechercheehrgeiz
Tatsächlich wurde ein kenntnisreicher Artikel des Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech zur „Mär von der vererbten Dummheit“ nachgeschoben, doch ansonsten zeichnete sich die Spiegel-Berichterstattung über Sarrazins Thesen durch verblüffend geringen Rechercheehrgeiz aus.
Der Spiegel, der für andere Themen ganze Rechercheteams abstellt, brachte weder ausreichend Zeit noch Kompetenz auf, um Sarrazins Quellen nachzuspüren und den ideengeschichtlichen Bezügen seiner Argumentation auf den Grund zu gehen. Die Diskussion darüber, ob Sarrazin tatsächlich rassistisch und eugenisch argumentiert, hätte sich durch die Abklärung der Quellenlage vermutlich schnell erledigt.
Auch historische Recherchen wären aufschlussreich gewesen. Sarrazins zentrales Argument, moderne Gesellschaften würden immer dümmer, weil die Minderintelligenten überdurchschnittlich viele Kinder bekämen, lässt sich mit sozialwissenschaftlichen Methoden überprüfen. Erstmals formuliert wurde sie nämlich bereits im Jahr 1869 von Francis Galton, auf den Sarrazin sich ausdrücklich bezieht. Was ist seither geschehen? In allen westlichen Gesellschaften stieg das Qualifikations- und Bildungsniveau der Bevölkerung stark an. Sarrazin hat also eine historisch überkommene Zukunftsprognose wiederbelebt, die sich längst als unzutreffend erwiesen hat. Wenn man wie Sarrazin der Ansicht ist, dass IQ-Tests die Intelligenz messen, sollte man mit dem alten Verdummungs-Dreisatz erst recht vorsichtig sein: Bei IQ-Tests hat bisher jede Generation besser abgeschnitten als die Generation zuvor („Flynn-Effekt“).
Dass die Journalisten diese historische Dimension ausgeblendet und Sarrazins Dreisatz als neue, provokante These aufgeblasen haben, gehört zu den Absurditäten des Medientheaters um den Bestseller „Deutschland schafft sich ab“.
„Er weiß, wovon er redet“
Das Unvermögen oder der Unwille, auf eigene Faust zu recherchieren, zog sich wie ein roter Faden durch die Spiegel-Berichterstattung über die von Sarrazin aufgebrachten Themen. „Der Begabungsforscher Detlef Rost ist ein Mann, der es wissen muss“, heißt es demütig in dem bereits erwähnten Artikel über die zehn Mythen der Intelligenz. „Er weiß, wovon er redet.“
Auch vor dem mittlerweile 81-jährigen Historiker Hans-Ulrich Wehler haben die Spiegel-Redakteure offenbar gehörigen Respekt. Er habe Sarrazin in der öffentlichen Debatte verteidigt, weil dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ viele gesellschaftliche Fehlentwicklungen richtig beschrieben habe, sagt Wehler in einem Spiegel-Interview vom 9. Februar 2013. Denn: „Im Gegensatz zu vielen Spaniern, Griechen oder Italienern, die als Gastarbeiter kamen und ihre Kinder bald auf weiterführende Schulen schickten, sind die Türken erstaunlich resistent geblieben gegen jede Form von Aufstiegsdenken oder Weiterbildungsangeboten.“
Diese Aussage gehört zu den populären Überzeugungen, die sich als Nachwirkung der Sarrazin-Debatte im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt haben. Vom Spiegel gegenrecherchiert wurde sie nicht. Nun hätte der Interviewer zumindest mal nachfragen können, auf welche Belege sich diese Behauptung stützt. Er tat es nicht.
Da sich in Wehlers Büchern nichts Substantielles zum Thema findet und er auf diesbezüglichen E-Mail-Anfragen nicht reagiert, wird man davon ausgehen können, dass es solche Belege nicht gibt. Was der Spiegel da weiterverbreitete, waren Ressentiments.
Ähnliche Bildungsstruktur
Ein junger Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität hatte das Thema im Zusammenhang mit der Sarrazin-Debatte längst aufgearbeitet: Personen mit italienischem und türkischem Migrationshintergrund weisen demach in Deutschland eine ganz ähnliche Bildungsstruktur auf. 2
Es kommt beim Bildungserfolg offenbar nicht auf Religionszugehörigkeit, sondern auf sozio-strukturelle Faktoren an. Iranische Flüchtlinge beispielsweise sind mit hohen Qualifikationen eingewandert – und geben ihre bildungsrelevanten Ressourcen an die nachfolgenden Generationen weiter. Die Kinder klassischer Arbeitsmigranten hingegen haben in der Schule mit Startnachteilen zu kämpfen – egal ob es sich um türkisch- oder um italienischstämmige Deutsche handelt oder um mexikanische Einwanderer in den USA.
Was auch immer die Gründe sein mögen: Im Zusammenhang mit den Thesen von „Deutschland schafft sich ab“ beschränkte sich der Spiegel überwiegend darauf, Prominenten und Experten ein Megaphon hinzuhalten. Durch den Vorabdruck von Auszügen aus „Deutschland schafft sich ab“ hat das Nachrichtenmagazin nach Kräften dazu beigetragen, Sarrazins Thesen zu popularisieren. Kein anderes Sachbuch erhielt in Deutschland jemals eine so große mediale Aufmerksamkeit, keines verkaufte sich so gut, keines war derart wirkungsmächtig. Doch diese Verantwortung hat den Spiegel bislang keineswegs zu außergewöhnlichen Rechercheleistungen angestachelt. Im Gegenteil: Was die Causa Sarrazin betrifft, grenzt die Haltung des einstigen deutschen „Sturmgeschützes der Demokratie“ beinahe an Arbeitsverweigerung. Das ist eines Nachrichtenmagazins mit diesem Aufklärungsanspruch nicht würdig.
Lesen Sie hierzu auch den Hintergrundartikel „Sarrazins wichtigste Fehler im Überblick“
- Siehe dazu beispielsweise Elsbeth Stern: „Warum Haut- und Haarfarbe nichts mit genetisch bedingten Intelligenzunterschieden zu tun haben“ sowie Andreas Heinz: „Intelligenz versus Integration?“. Beide Aufsätze in: Andreas Heinz / Ulrike Kluge: „Einwanderung – Bedrohung oder Zukunft?“ Frankfurt 2012.
- Coskun Canan: „Über Bildung, Einwanderung und Religionszugehörigkeit“. In: Michael Haller / Martin Niggeschmidt (Hg): „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz“, Wiesbaden 2012