Replik

Von deutsch-türkischen Politikern im Stich gelassen?

"Lieber eine ehrliche CDU und FDP wählen, anstatt eine heuchlerische SPD und Grüne." Ahmet Edis hält diesen Wahlaufruf für verantwortungslos und schizophren. "Sollte wieder eine schwarz-gelbe Regierung gebildet werden, können wichtige Themen der Migranten in den nächsten vier Jahren getrost beerdigt werden", so Edis.

Von Ahmet Edis Mittwoch, 24.07.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 26.07.2013, 3:48 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Der Dichter und Übersetzer Christoph Martin Wieland sagte einst „Es ist als ob die närrischen Menschen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen könnten; sie suchen was ihnen vor der Nase liegt, und was sie bloß deswegen nicht finden, weil sie sich in einer Art von Schneckenlinie immer weiter davon entfernen.“ Diese oder ähnliche Gedanken umtrieben mich als ich den Merve Güls Gastbeitrag im Deutsch Türkischen Journal las.

Die Ereignisse rund um den Istanbuler Gezi-Park boten in den letzten Wochen für viele verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen wie auch Politikerinnen und Politikern im In- und Ausland eine Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge in der Öffentlichkeit darzustellen. Die Meinungen gehen hier weit auseinander und über die eigentliche Problemstellung wird ohnehin nicht mehr konstruktiv diskutiert.

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Fakt ist und bleibt jedoch, dass die massive Gewaltanwendung der Polizei gegen friedliche DemonstrantInnen in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zu tolerieren ist. Dies gilt überall auf der Welt. Hier darf man nicht mit zweierlei Maß messen. In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass sich auch deutsch-türkische PolitikerInnen zu Wort melden, da sie ebenfalls innige, familiäre Beziehungen in ihre Heimat bzw. in die Heimat ihrer Eltern pflegen.

Deutsch-türkische VolksvertreterInnen werden gewiss auch an ihrem politischen Einsatz für MigrantInnen und Migranten in Deutschland gemessen. Sie sollten sich im Idealfall für Chancengleichheit und gegen Ausgrenzung einsetzen sowie als Mediator zwischen beiden Ländern fungieren. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, die Augen vor der Realität zu verschließen.

Wie wir alle wissen, ist insbesondere die türkischstämmige Community in Deutschland sehr heterogen. Wenn man zu Recht darüber klagt, dass in der Öffentlichkeit immer von „den“ Türken gesprochen wird, dann sollte man auch nicht pauschal „die“ deutsch-türkischen PolitikerInnen stereotypisieren. Hier gilt es, zu differenzieren, sich auch unangenehmen, kontroversen Diskussionen zu stellen, einen Dialog auf Augenhöhe zu suchen, Recht als Recht, Unrecht als Unrecht zu bezeichnen und nicht bei jeglicher Kritik zu mauern, Andersdenkende nicht zu stigmatisieren beziehungsweise zu kriminalisieren, Kritik nicht als Kriegserklärung zu verstehen oder sich beleidigt zurückzuziehen.

Ob das immer und allen Beteiligten gelingt, ist eine andere Frage. Ein erstrebenswertes gemeinsames Ziel wäre es doch, zumindest hier in Deutschland eine Diskussionskultur zu etablieren, die durch gegenseitigen Respekt geprägt ist.

Zurück nach Deutschland
Am 22. September 2013 stehen Bundestagswahlen an, die für alle Menschen mit Migrationshintergrund richtungsweisend sein werden. Die Situation ist so ideal wie schon lange nicht mehr. Am 5. Juli hat der Bundesrat nach mehreren Anläufen mit seiner rot-grünen Mehrheit ein Gesetz über die Zulassung zur Mehrstaatigkeit und zur Abschaffung der Optionspflicht beschlossen, das aufgrund der schwarz-gelben Bundestagsmehrheit keine Realisierungschance hatte. Zuletzt scheiterten in den letzten Sitzungswochen des Bundestages Anträge von Grünen, SPD und Linken an der Blockadehaltung der Regierungskoalition aus CDU und FDP. Bis auf die CDU haben alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien die Doppelte Staatsbürgerschaft, die Abschaffung des Optionszwangs sowie das kommunale Wahlrecht in ihre Parteiprogramme aufgenommen.

Seit Jahrzehnten werden Migrantinnen und Migranten in Deutschland bei diesen aber auch bei weiteren wichtigen Themen extrem benachteiligt. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist auch ein Ausdruck für Anerkennung, die bis dato der größten migrantischen Community in Deutschland vehement verwehrt wurde. Zudem gibt es weltweit kein anderes Land, wo die Optionspflicht praktiziert wird. Danach müssen sich Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden, zwischen 18 und 23 Jahren für einen Pass entscheiden. In dieser Situation stecken aktuell über 40.000 junge Menschen, die neben der deutschen größtenteils auch einen türkischen Pass haben. Stellt sich die Frage: Wenn Jugendliche bis zum 23. Lebensjahr beide Pässe haben dürfen und dies nichts Negatives bewirkt, warum sollte das danach anders sein? Das ist unsäglich, sinnlos und alles andere als integrationsfördernd.

Zudem ist die Mehrstaatigkeit schon lange keine Ausnahme mehr. Die Doppelmoral bei dem Doppelpass veranschaulicht ein prominentes Beispiel. Im Juli 2010 wurde ein gewisser David McAllister als erster Minister mit doppelter Staatsbürgerschaft vereidigt. Der ehemalige CDU-Minister hatte neben seinem deutschen auch den britischen Pass. So weit, so gut. Aber wenn ein bestens integrierter und in Deutschland verwurzelter türkischer Staatsbürger, das gleiche Recht einfordert, blockiert dies hauptsächlich die CDU und FDP auf Bundesebene. Als braver mündiger Steuerzahler, Arbeitgeber, Auszubildender, Akademiker gern gesehen, aber beim Thema Gleichstellung hinsichtlich Doppelpass und Optionszwang als Bittsteller und Integrationsverweigerer abgekanzelt. So sieht die Realität aus.

Aufgrund dieser unerträglichen Situation empfand ich den indirekten Wahlaufruf „lieber eine ehrliche CDU und FDP wählen, anstatt eine heuchlerische SPD und Grüne“, nicht nur anmaßend, sondern auch verantwortungslos und schizophren. Wenn die Autorin wirklich gegen den Doppelpass, gegen die Abschaffung des Optionszwanges, gegen das kommunale Wahlrecht, gegen den EU-Beitritt der Türkei, gegen eine Erleichterung bei der Familienzusammenführung und vieles mehr ist, ist es durchaus legitim, dagegen zu argumentieren und eine „ehrliche“ CDU und FDP zu wählen. Wenn aber nach dem 22. September wieder eine schwarz-gelbe oder große Koalition entsteht und somit all jene wichtigen migrationspolitischen Punkte pulverisiert werden, sollte sich Frau Gül nicht bei der hiesigen Politik brüskieren oder sich von den „deutsch-türkischen Politikern im Stich gelassen“ fühlen.

Appell zum Schluss
Laut einer Umfrage der türkischen Zeitung Zaman lag die Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl unter allen wahlberechtigten Deutsch-Türken bei circa 20 Prozent – erschreckend wenig. Zum Vergleich: Die Wahlbeteiligung insgesamt lag bundesweit bei über 72 Prozent.
Bevor wir anfangen, die Politik zu kritisieren, muss sich jeder Einzelne hinterfragen, was man tun kann, um bestimmte Dinge in Deutschland zu verändern. Hierzu gehört auch die Verpflichtung eines jeden Demokraten und einer jeden Demokratin, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Es reicht aber auch nicht mehr aus, einfach nur wählen zu gehen. Vielmehr gilt es, seine Stimme bewusst einzusetzen.

Ich appelliere an alle Migrantinnen und Migranten, geschlossen ihre Rechte einzufordern, Parteien anzuschreiben, DirektkandidatInnen zu kontaktieren und diese bei migrationspolitischen Themen in die Pflicht zu nehmen. Alleine auf vertraute türkisch-klingende Namen zu schauen, reicht da schon lange nicht mehr aus, da auch mittlerweile konservative Parteien wie die CDU die migrantische Wählerschaft erkannt haben und versuchen, trotz ihrer widersprüchlichen Integrationspolitik auf Stimmenfang zu gehen.

Migrantenselbstorganisationen, Verbände und Vereine sollten zudem als Interessensvertreter und Sprachrohr für ihre Mitglieder, alle Parteien mit wichtigen Fragen durchlöchern, ihnen sogenannte Wahlprüfsteine zukommen lassen, sie zwingen, auch Stellung zu unbequemen Fragen zu nehmen – Gedenken Sie die natürliche Mehrsprachigkeit bzw. den muttersprachlichen Unterricht zu fördern? Was wollen Sie gegen das Kopftuchverbot unternehmen? Was wollen Sie konkret tun, damit die Sicherheitsbehörden nicht wie beim NSU-Skandal wieder komplett versagen? Nur in dieser Form können Rückschlüsse gezogen werden.

Wer die doppelte Staatsbürgerschaft, die Abschaffung des Optionszwangs, das kommunale Wahlrecht, den EU-Beitritt der Türkei, die Bekämpfung von Rechtsextremismus fordert, sollte alle Parteiprogramme studieren und diese miteinander vergleichen. Soviel sei gesagt: Wenn sich wieder eine schwarz-gelbe Regierung konstituieren sollte, können wichtige Themen der Migranten in den nächsten vier Jahren getrost beerdigt werden. Aktuell Meinung

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  1. Lilalaunebär sagt:

    Ich verstehe die Diskussion um die Optionspflicht nicht. Wie kommt man überhaupt an eine doppelte Staatsbürgerschaft? Braucht man die? Nein, finde ich. Soweit mir bekannt gibt es die Optionspflicht in anderen Ländern nicht. Wer in Frankreich geboren wird, ist Franzose – zumindest dem Pass nach. Was die Identität angeht, sieht es anders aus. Ich habe das Gefühl, die Gegner der Optionspflicht möchten die doppelte Staatsbürgerschaft, um ihre migrantische Identität zu pushen. Ist doch so, oder nicht?

    Wer hier geboren wurde und gut integriert ist, braucht auch keine Migrationspolitik. Grüne und SPD betreiben Opferpolitik. Dass die Leute noch immer glauben, das linke Lager hofiere Migranten, weil die Themen ihnen am Herz liegen, ist reichlich naiv. Auch da geht es nur um Zielgruppen und Wählerpotential – daher auch das kommunale Wahlrecht und Wahlrecht ab 16. Deshalb bin auch ich der Meinung: „Lieber eine ehrliche CDU und FDP wählen, anstatt eine heuchlerische SPD und Grüne“

  2. Skeptizist sagt:

    @Lilalaunebär Wie ist der Ministerpräsident von Niedersachsen, Herr McAllister eigentlich zu seinem Doppelpass gekommen?
    Liegt es daran, dass er CDU Mitglied ist?
    Mit welchem Recht verweigert die CDU den türkisachstämmigen Bürgern, ja sogar deren hier im Lande geborenen Kindern , was sie einem Politiker aus ihren Reihen zugesteht?
    Mein Vorschlag: Herr Mc Allister geht mit gutem Beispiel voran und gibt seine n britischen Pass ab.
    Danach können wir weiter diskutieren, wer hier im Lande die Heuchler sind.

  3. Gast sagt:

    Wer schon zu Anfang der Autorin eine Schizophrenie diagnostiziert, den kann ich leider nicht ernst nehmen ^^
    Lieber sollte sich der Grünen-Mann bei seinen zukünftigen Versuchen der Analyse darauf konzentrieren, warum sich jemand für eine andere Partei entscheidet, anstatt einen persönlichen Angriff daraus zu stricken…

  4. Matthias sagt:

    @Skeptizist:

    Die doppelte Staatsangehörigkeit (Mehrstaatigkeit) ist bei EU – Bürgern erlaubt, bei Türken nur in besonderen Ausnahmenfällen. Deswegen kann Herr Mc Allister auch zurecht zwei Staatsangehörigkeiten haben.

  5. Shirin sagt:

    Sehr guter Artikel Danke Ahmet

    ich habe mich über diese „ehrliche CDU/FDP“ Politik Glosse nicht nur geärgert , sonder empfand es auch als anmaßend.
    Jeder hat das Recht das zu Wählen was er will, auch eine „Ehrliche“ CDU/FDP Anti Migranten Haltung, aber dann bitte nicht mehr jammern wenn es um Migranten Fragen geht, nicht mehr beleidigt sein wenn mal wieder die Türkei kritisiert wird und sich vor allem nicht Beschweren wie Frau Gül es tat ,dass andere Deutsch- Türkische Politiker nicht mehr für die eigene Trägheit einspringen

  6. Gast 2.0 sagt:

    @Gast
    Es wird nicht der Autorin Schizophrenie attestiert, sondern der Auffassung, dass wenn man eine ehrliche CDU & FDP wählt, sich dies zum Vorteil der Migranten auswirkt. Das ist ein Unterschied

  7. Skeptizist sagt:

    @Gast Haben Sie vielleicht ausser der Kritik am Gebrauch des Wortes „schizophren“ irgendwelche Argumente vorzubringen , die gegen die Thesen des Autors sprechen?
    Wenn sie genau hingeschaut hätten, wäre Ihnen klar geworden, dass der Autor keinesfalls eine psychiatrische Diagnose stellen wollte, sondern nur die Widersprüchlichkeit der Argumentation deutlich machen wollte.

  8. Erkan sagt:

    Sehr geehrter Edis,

    ich unterstütze auch die These, dass man weniger SPD und Grüne zu wählen, zumindest in bestimmten Gebieten Kandidaten mit türkischen Namen, die Ihr Land offensichtlich ideologisch begründet in den Dreck zieht.Das hat nichts damit zutun, dass jemand objektiv aus humanitären Gründen eine faire Beurteilung der Situation macht.Wer nicht blind und blöd ist und zugleich nur Bild und desgleichen liest, weiß dass diese Politiker einfach nur bewußt übertrieben Ihr Land kritisiert haben.Das konnte man gar nicht anders verstehen.Wer so in die Öffentlichkeit tritt, wird wohl die Konsequenzen ebenso tragen müssen.Deshalb finde ich es vollkommen verständlich, wenn sich die Menschen Entscheidungen deshalb treffen, weil sie sich von solchen Stereotypen vollkommen falsch vertreten und sogar hintergangen fühlen.Und es sind nicht wenige.Findest du all diese Menschen sind zu naiv, um die Situation objektiv zu bewerten?

  9. deutscher Staatsbürger sagt:

    Die doppelte Staatsbürgerschaft hin oder her. Nicht eimal die einfache Staatsbürgerschaft hat man hinbekommen. In den Behörden herrschen dospotische Verhältnisse. Menschen werden als Terroristen gesehen. Gesetze werden gegen unschuldige Menschen ausgelegt…die reinste Willkür wird praktiziert. Aber lasst uns ruhig eine Pseudodiskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft führen. Unverschämt.

  10. Skeptizist sagt:

    @ Dass her McAllister seinen zweiten Pass der Tatsache verdankt, dass er EU Bürger ist, habe ich wohl verstanden.
    können Sie vielleicht einen Grund nennen warum die Gesetzeslage so ist und warum sie nicht geändert werden
    kann?
    Wieso sollte es bei Nicht -Eu-Bürgern Probleme geben, wennsie mehrere Pässe haben umnd bei EU Bürgern nicht?
    Im übrigen gibt es auch Nicht:EU-Länder die ihre Bürger grundsätzlich nicht aus der Staatsbürgerschaft entlassen, z.B. Iran.
    Und soviel ich weiss, lässt Deutschlan in diesen Fällen die Mehrstaatigkeit zu. Warum nicht bei anderen Ländern?