Buchtipp zum Wochenende

Berliner Liebesfluchten

Der Roman von Murat Ham geht zurück bis in die 20er-Jahre in Deutschland und der Türkei und mündet in der Gegenwart. Parallel verlaufen verschiedene Entwicklungen: Beispielsweise die Gründung der Republik und das Wirken Atatürks. MiGAZIN bringt einen Auszug aus dem Buch – exklusiv.

Halb sieben. Ein eiskalter Morgen im Januar 2013. Eine Haustür an der Tersane Caddesi in Galata im Stadtteil Beyoglu öffnet sich knarrend und ein noch immer gut aussehender älterer Herr tritt heraus. Er ist alkoholisiert und taumelt ein wenig. Die letzten Nachtschwärmer streifen ihn nur kurz mit ihren Blicken und gehen vorbei. Kemal hat weder Mantel noch Mütze und Handschuhe an, aber der Weg zur Brücke ist nicht weit. Seine Fitness wird ihn auch auf seinen letzten Metern nicht im Stich lassen, auch wenn er deutlich zu dünn bekleidet ist. Er hat beschlossen, es draußen zu machen, an der frischen Luft, damit sein Sohn Kenan und seine Frau Zuhal ihn nicht entdecken.

Die Galatabrücke verbindet den alten Teil Istanbuls mit dem neueren Stadtviertel Galata. Nur wenige Menschen sind da, als er sie erreicht. „Benim Karaköy, mein Karaköy“, murmelt er den heutigen Namen seines Stadtteils vor sich hin während er auf das Geländer zugeht. „Ich bin alt, müde, habe genug von allem. Das Wasser liegt ruhig unter ihm. Nur noch wenige Schritte.

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Ein paar Jahre zuvor stand er an einem anderen Ort mit einem Päckchen Rizin. Vor Jahrzehnten hatte er das giftige Pulver aus dem Labor mitgenommen, in dem er damals beschäftigt war. Er glaubte, der Tod wäre damit in Notfällen absolut sicher. Kurz und schmerzlos. Seinen Körper wollte der Chemie-Professor der Wissenschaft vermachen. Weder Grabstein noch Predigt. Damals siegte seine Angst vor dem Tod – und er spülte das Päckchen in der Toilette weg.

An dem eisigen Morgen beginnt Istanbul nun langsam zu erwachen. Vereinzelt huschen Menschen an ihm vorbei. Ein Sesamkringel-Verkäufer kommt mit seinem mobilen Mini-Laden vor­ bei und will Kemal einen Simit, ein ringförmiges Hefeteiggebäck mit Sesam-Körnern auf der Kruste, schenken. Kemal schüttelt den Kopf und lehnt dankend ab. Er kann seine Hände nicht mehr spüren, aber seine Nase nimmt einen süßlichen Geruch von Lokum, ein in Puderzucker gewälztes türkisches Fruchtgummi, auf. Als er sich umdreht läuft der Straßenhändler schnell an ihm vorbei.

Gedankenverloren zieht er die Handschuhe an, die ihm ein Passant reicht. Die Kälte wird unerträglich. Wehmut ergreift ihn. Dieser Geruch erinnert ihn an ein Essen mit seinem Kind, Bilder steigen in ihm auf, wie er gutgelaunt auf einer sonnenüberfluteten Wiese am Berliner Wannsee die Leckerei isst. Ein Kopfkino beginnt sich bei ihm abzuspulen: Immer wieder Berlin und Istanbul. Er erinnert sich auch an die Familien-Köchin Süheyla, wie sie für Kenan vorbei an der Mutter Lokum ins Haus eingeschleust hat. Denn seine Frau Zuhal lehnt Süßigkeiten dieser Art ab. „Süheyla, dikkat et, pass bitte auf“, diesen Satz hat Kemal oft gesagt. Das Wasser unter ihm ist immer noch ganz ruhig. Aber plötzlich ganz fern. Er hebt seine Brieftasche wieder auf, die ihm beim Taumeln herunter gefallen ist. Zwei Fotos sind auf der Brücke liegen geblieben. Seine Eltern Osman und Perihan. Auf dem einen Bild sein Vater noch in jungen Jahren und auf dem anderen seine Mutter mit hübschen langen schwarzen Haaren. Die Gedanken begeben sich auf eine Reise zwischen Orient und Okzident. Er schweift ab in seine Kindheit.

Der Autor: Murat Ham ist gebürtiger Braunschweiger, Diplom-Politikwissenschaftler und ausgebildeter Journalist, besitzt langjährige Berufserfahrung als Redakteur bei namhaften Print-, Online- und Funkmedien sowie als Redaktionsleiter in der Unternehmenskommunikation. Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht – unter anderem erschien im Jahr 2009 sein Buch „Jung, erfolgreich, türkisch“ mit einem Vorwort vom Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble. Im Jahr 2011 ist sein für den Karlsruher Buchpreis 2012 nominiertes Werk „Fremde Heimat Deutschland – Leben zwischen Ankommen und Abschied“ mit einem Grußwort von Klaus Wowereit erschienen. Im Herbst 2012 publizierte Murat Ham ein weiteres Buch „Suche nach Glück: Leben mit der zerrinnenden Zeit“.

Als er auf die Welt gekommen ist, hat sich ein ganz Großer von der Lebensbühne verabschiedet. Einen Tag nach seiner Geburt in Istanbul ist Mustafa Kemal Atatürk, „Vater der Türken11 am 10. November 1938 an den Folgen einer Leberzirrhose gestorben. Zuvor hat er am 29. Oktober 1923 die Republik Türkei ausgerufen und deren Hauptstadt von Istanbul nach Ankara verlegt. Seine Eltern Osman und Perihan sind der Nach­ wuchs einer alt-osmanischen Geschäftsfamilie, die zu Sultanszeiten in Istanbul bereits bekannt gewesen sind. Sie haben hautnah den faktischen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches erlebt, das im ersten Weltkrieg an der Seite des Deutschen Reiches gekämpft hat. Eine Zeit, in der Kernals Familie Zeugen tiefgreifender Reformen im politischen und gesellschaftlichen System geworden sind.

Atatürk hat die Türkei entschlossen zu einem modernen, säkularen und am Westen orientierten Staat geformt. 1922 wird das Sultanat abgeschafft, ein Jahr später das Kalifat. 1924 ist die neue Verfassung in Kraft getreten. Religiöse Gerichte werden ebenso abgeschafft. 1925 wird im Zusammenhang mit der Hutreform der Fez, die traditionelle türkische Kopfbedeckung der Männer, verboten. Kurze Zeit später wird der Schleier für Frauen untersagt. Ebenso wird die islamische Zeitrechnung ad acta gelegt, parallel der Rumi-Kalender abgeschafft, der Gregorianische Kalender eingeführt.

Die vielen Reformen haben wenig an der gesellschaftlichen Stellung von Kemals Familie geändert, die sich aus den politischen Kämpfen immer geschickt herausgehalten hat. Osman und Perihan haben Ansehen bei bekannten griechischen, jüdischen, armenischen und türkischen Kaufleuten genossen. Der Umgang mit diesen Geschäftsleuten hat dafür gesorgt, dass der Familienname auch im damaligen Konstantinopel sehr bald an Einfluss gewonnen hat. Den Grundstein haben bereits seine Großmutter Halide und sein Großvater Levent gelegt. Sie sind jedoch Opfer der rasanten Modernisierung Konstantinopels geworden. Das Tempo der Stadt hat sich verändert. Raser sind bereits zu der Zeit keine Seltenheit mehr im Verkehr.