Kümmert euch um eure eigene Politik!

Das Erdoğan-Bashing der deutschen Leitmedien nervt

Seit Wochen berichten hiesige Medien über die Demonstrationen am Taksim-Platz in Istanbul. Angeprangert wird vor allem der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan. Unter den Türkeistämmigen sind die Meinungen geteilt, Mustafa Esmer ist genervt.

Titel wie „Türkischer Frühling“ oder „Die Wut der Türken gegen das System Erdoğan“ zeugen nicht einzig von der Inkompetenz deutscher Redakteure, sondern von eindeutiger Einmischung in die türkische Innenpolitik, durch unhinterfragte Parteiergreifung. Seit Wochen erzeugen die deutschen Medien, durch undifferenzierte Berichterstattung, ein Zerrbild des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan. Er wird als Despot, als Diktator oder bei den ganz kreativen Redakteuren als Sultan beschrieben. Dass man damit lediglich die Zuschreibungen bestimmter oppositioneller Gruppen wiedergibt, scheint unwichtig.

Wer, außer den Volksvertretern, soll denn sonst die Macht innehaben?
Ich als Enddreißiger kenne die Türkei vor der AKP-Regierung. Daher stoßen Aussagen wie, dass es in der Türkei, unter der Erdoğan-Regierung, eine Einschränkung der Freiheitsrechte gibt, bei mir auf taube Ohren. Politik ist jedoch ein Prozess und diese Rechte müssen auch für die Zukunft bewahrt, sogar ausgebaut werden.

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Zu allererst müsste den deutschen „Experten“ auffallen, dass die türkische Republik mit einer Junta-Verfassung vom 7. November 1982 regiert wird. Diese sprach dem türkischen Präsidenten immense Macht zu und die Arbeit der großen türkischen Nationalversammlung (TBMM) fand unter dem Damoklesschwert des Militärs statt. Die stets von der Opposition kritisierten Gesetzesänderungen der Regierung stärkten den TBMM und die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes. Dieses als Konzentrierung von Macht zu beschreiben ist bedauerlich!

Die Dominanz des Militärs wurde eingeschränkt und die Rechte des Individuums gestärkt. Weitere Beispiele für einen positiven Wandel sind die Abschaffung der Todesstrafe, die Aufhebung der Benachteiligung von Frauen im Erbrecht, die Aufhebung der Strafmilderung für „Ehrenmorde“ und der Strafbarkeit unehelicher Beziehungen. Außerdem wurden die Rechte, der in der Republik lebenden Minderheiten gestärkt. Ein sehr gutes Gesundheitssystem aufgebaut, das Bildungswesen modernisiert und die an das 20. Jahrhundert, zu Zeiten des Kalten Krieges, erinnernden Militärparaden, an nationalen Feiertagen, abgeschafft.

Gleiches Recht für alle!
2005 wurden in der Türkei Anti-Terror-Gesetze verabschiedet, die wesentlich die Handschrift des Militärs und der türkischen Opposition tragen. Diese Gesetze legitimieren heute die Anklagen der Staatsanwaltschaften und haben zu den ganzen Inhaftierungen der letzten Jahre geführt. Selbst Erdoğan hat die Justiz dafür mehrfach kritisiert. Schließlich war er selbst, oft genug, Opfer der türkischen Justiz. Das Problem in der Türkei ist, dass jeglicher Reformversuch der Regierung, beispielsweise der Justiz, an der Opposition scheitert. Mit populistischen Kampagnen werden Vorwürfe wie Landesverrat, Islamisierung und so fort erhoben und eine negative gesellschaftliche Spannung erzeugt.

Man kann sich gerne die Zusammensetzung der Kommission für die neue Verfassung anschauen. Obwohl die AKP mehr als 50 % der Sitze im TBMM, innehat, ist sie selbst, mit der gleichen Anzahl an Mitgliedern vertreten, wie alle anderen im TBMM vertretenen Parteien auch, selbst die BDP (Politischer Arm der PKK), die nur einige Direktmandate hat.

Die Oppositionsparteien könnten zur Abwechslung auch mal am Tisch sitzenbleiben und gemeinsam mit der Regierung diese notwendigen, sorry, dringend notwendigen Reformen durchführen!

Die Behauptung „Erdoğan lässt knüppeln“ suggeriert doch in sich schon, dass es in der Türkei ein Sultanat gibt, wo der Ministerpräsident alles bestimmt.
Der Oberbürgermeister Istanbuls Kadir Topbaş, Architekt, der dies sicherlich eher entscheidet, ist seit 2004 im Amt und er war vorher Berater von Erdoğan, als dieser selbst noch Oberbürgermeister Istanbuls war. Ruft der dann bei Erdoğan an und fragt, ob er die Umweltschützer niederknüppeln lassen soll? Hat Erdoğan nichts Wichtigeres, worum er sich kümmern muss? Hüseyin Avni Mutlu, der Gouverneur von Istanbul, Jurist, hat lange Jahre die gleiche Tätigkeit im Südosten der Türkei, in Siirt und Diyarbakir, ausgeübt. Er kennt sich also mit gewaltbereiten Protestierenden aus. Ob seine Vita einen Einfluss auf seine Entscheidung bezüglich der Härte des Polizeieinsatzes hatte, kann ich nicht beurteilen. Es sollte dennoch festgehalten werden, dass er, als Gouverneur, die politische Verantwortung für die Ereignisse am Taksim-Platz trägt.

Mich stört, dass die meisten Erdoğan-Gegner – viele studieren oder studierten Wirtschaft oder Sozialwissenschaften – bei der Betrachtung der türkischen Innenpolitik ihre Bildung vergessen aufgrund einer ideologischen Verblendung.
Fördert die Regierung den Handel mit dem „Westen“, dann verkauft sie das Land und sie sind Verräter. Wird der Handel mit den vorwiegend islamischen Nachbarstaaten gefördert, islamisieren sie das Land. Werden Entscheidungsfindungsprozesse de-olligarchisiert und dem TBMM mehr Macht gegeben, versucht Erdoğan Sultan zu werden. Man nehme zum Beispiel das Präsidialsystem, das von Erdoğan favorisiert wird?

Jetzt mal ganz ehrlich! Wie viele Erdoğan-Gegner, die dieses Argument benutzen, haben sich mal angeschaut, wie es gestaltet werden soll? Wie viele haben recherchiert und wissen, wogegen sie sind? Wie viele haben die inhaltliche Validität ihrer Anklage wirklich untersucht?

Es ist die Absurdität der Vorwürfe, die mich ärgert. Natürlich brauchen wir den Handel mit den islamischen oder türkischen Staaten, weil wir kein eigenes Öl oder Gas haben und der Verbrauch, mit steigendem Wohlstand, steigt. Natürlich müssen wir Handel mit dem Westen betreiben, wie auch mit allen anderen Regionen in der Welt. Natürlich ist die USA, gerade in unserer Region ein wichtiger Bündnispartner.

Globalisierung bedeutet in der Türkei das Gleiche wie hier in Deutschland, das sollte jedem bewusst sein.
Mir gefällt’s! Es findet keine Islamisierung statt, was sich im Straßenbild widerspiegelt. Die Menschen dürfen seit den letzten Jahren erst offen zeigen, dass sie Muslime sind, ohne verhöhnt zu werden. Weil sie das tun, fällt auf, das es mehr sind als vorher. Richtig! Aber kämpft man nicht für Freiheiten? Es wird viel von der Symbolik der baulichen Änderungen am Taksim-Platz gesprochen, die man als Indiz für eine Islamisierung und einer Abkehr von Atatürk deutet. Ich frage mich, ob auch nur ein deutscher Journalist das Projekt kennt, wenn Aussagen der Protestler publizistisch reproduziert werden? Dieses Projekt ist bereits 2011 verabschiedet worden und trägt nicht nur die Unterschrift der AKP, sondern auch die Unterschrift, der damals vom Projekt begeisterten und heute dagegen protestierenden Oppositionspartei CHP.

Anders als die Vielen vor ihm setzt Erdoğan um, was er verspricht.
Er mag größenwahnsinnig sein und seine Projekte unvorstellbar. Diese schaffen aber Arbeitsplätze und bedeuten Aufträge für die heimischen Handwerks- und Industriebetriebe. Alles in allem wird dadurch der Konsum … ähem, die Binnenwirtschaft angetrieben. Das Ganze wird von einer guten Geldwertstabilität-Politik begleitet und man erkennt schnell, dass die Verantwortlichen, in der Politik, nicht nur Wirtschaft studiert haben, sondern auch verstanden. Er setzt um, was er sagt. Man kennt seine Vorstellungen und das macht ihn berechenbar. Mehr verlange ich nicht von einem Politiker. Die Anderen scheitern bereits an diesem Anspruch.

Ja, Erdoğan ist direkt, forsch im Auftreten, nicht nett, wirkt autoritär, ist streng gläubig und praktizierender Muslim. Na und?
Er ist ein guter Politiker. Bei den ganzen Intrigen, Kampagnen und so fort muss man vielleicht so sein, um dieses Land regieren zu können. Haben jene, die sich über seinen Ton ärgern, mal ihren Eigenen gehört? Alleine im letzten Jahr? Selbst seine kürzlich verstorbene Mutter ist seinen Kritikern nicht heilig. Die Protestierenden beschreiben sich als die Soldaten Atatürks?! War Atatürk nett? Die Kemalisten, gruppiert in der CHP, erzählen was von der notwendigen Reformation des Islam und sind nicht imstande, ihre 1930 konservierte Ideologie abzulegen. Ist dieses alte, elitäre System wirklich die Alternative zum Jetzigen? Welche Alternativen sind sonst noch geboten. Die BDP bietet den marxistischen Stalinismus an, die MHP den Nationalismus und die Kemalisten den existierenden Etatismus.

Lässt sich mit einer der Alternativen die moderne Türkei dauerhaft regieren? Nein! Mit einer konservativen und wirtschaftsliberalen AKP auch nicht!
Ich möchte betonen, dass ich der aktuellen Regierung wirklich dankbar für den bis dato vollzogenen gesellschaftlichen und systemischen Wandel bin. In der Türkei wird jedoch eine knallharte, wirtschaftsliberale Politik betrieben. Was vielleicht zum Aufbau und zur Bildung einer stabilen, ökonomischen Grundlage notwendig war, kann auf Dauer nicht akzeptiert werden. Ich finde und fand die ganzen sozialen Aktionen der AKP-Gemeinden, wo den ärmeren Bürgern Essenskörbe und Kohle für den Winter gegeben wurde/wird, gut. Ziel sollte jedoch sein, dass jeder Haushalt ausreichend mit finanziellen Ressourcen versorgt wird, damit dies nicht notwendig ist. Genauso leidenschaftlich wie ich das Recht auf Glauben verteidige, verteidige ich auch das Recht auf Ungläubigkeit. Eine systematische Umkehr der früheren Diskriminierung der Muslime ist nicht akzeptabel. Ich betrachte die Gentrifizierung, konkret in Istanbul, kritisch, und wenn man ins Detail geht, kann man viele Punkte ausführen, wo ich die AKP-Sicht nicht teile. Zu konservativ, zu wirtschaftsliberal, selbstverständlich! Rechtfertigt das die heftigen Proteste? Nein!

Zu den deutschen Medien
Ich frage mich seit Tagen, warum die deutschen Leitmedien, ähnlich den türkischen Linksextremen und Kemalisten, die Proteste derart personalisieren. Die Frage, warum man dem Fehlverhalten der Polizei bei „Frankfurt-Occupy“ nicht angemessen Raum gibt und stattdessen lieber dem Fehlverhalten der Polizei in der Türkei, bleibt unbeantwortet. Statt Innenpolitik berichtet man lieber Mutmaßungen aus der Türkei, im Konjunktiv.

Erstens: AKP ist nicht Erdoğan. Er ist nur der Charismatischste. Der Führungskader reguliert sich ganz gut untereinander und besteht aus intelligenten Menschen, wie Abdullah Gül, Bülent Arınç, Ahmet Davutoğlu, Cemil Çiçek et Al.

Zweitens: Am 27. Oktober 2013 finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Man wird an der Wahlurne sehen, wie die Mehrheit des türkischen Wahlvolkes über Erdoğan denkt. 2015, falls das Präsidialsystem noch nicht eingeführt wurde, wird Erdoğan, aufgrund der AKP-Parteisatzung, nicht erneut antreten und wahrscheinlich das Amt des Präsidenten, der türkischen Republik, übernehmen. Das Amt wird zum ersten Mal per Direktwahl besetzt und auch da hat die türkische Bevölkerung die Möglichkeit ihren Willen zum Ausdruck zu bringen.
Das ist mehr echte Beteiligung, als die türkische Nation je hatte!