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Von Vorteilen einer großen Minderheit und Privilegien der Rarität

„Off to Chicago“ deklariere ich noch schnell via Facebook in der Wartehalle des Flughafens Tegel. Genau ab hier – zwischen den Check Inn Schaltern und dem Flugzeug – hat man offiziell den Status eines Reisenden. Ab hier ist man in einem privilegierten Zustand eines willkommenen Fremden.

In den USA fühle ich mich mehr als willkommen. Schon im Flugzeug der amerikanischen Fluggesellschaft bin ich für die Stewardess „Honney“. Das gefällt mir, und auch gegen das amerikanische Lächeln, auch wenn als oberflächlich bekannt, habe ich nichts einzuwenden. Das Willkommenserlebnis bestätigt sich auch auf dem amerikanischen Boden: Alles locker, alles easy, how are you?, are you o.k.?, no problem! Höre ich überall und gerne.

Und wo bleibt denn das Gefühl des Fremdseins, das man auch als willkommener Tourist in der Regel – wenn auch minimal – in fremden Ländern hat? Wie sagt man so schön: Man muss lange gehen, um anzukommen. Das mag stimmen. Diesmal ist es der längste Umweg, der mich in meine Heimat bringt, denn zu meiner großen Überraschung höre ich in Chicago so oft meine Muttersprache. Die ausgewanderten Litauer sind hier zahlreich und überall präsent. Hier ist eine der größten Communities in der Diaspora lebender Litauer.

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Interessant und zugleich gewöhnungsbedürftig, plötzlich keine Rarität, sondern ein Teil einer größeren Minderheit zu sein. Plötzlich bin ich eine von einer Million – so groß ist die geschätzte Zahl in Chicago lebenden litauischen Auswanderern. Während man in Berlin die vertrautesten Geheimnisse in meiner Muttersprache laut ausplaudern kann, ohne dabei einen einzigen Gedanken verschwenden zu müssen, jemand könnte es verstehen, ist es in Chicago ganz anders. In Supermärkten, Läden, auf den Straßen – sehr oft hört man irgendwo litauische Unterhaltung. Viel mehr sogar. Ich stelle fest, dass man fast alles erledigen kann, ohne dabei nur ein einziges Wort auf Englisch sprechen zu müssen.

Ich bin dabei, eine Geburtstagsfeier vorzubereiten. Die Geburtstagstorte, der Friseur, Snack Bestellungen und mehr erledigt – alles bei den Landsleuten und in der Muttersprache. Es gibt litauische Läden, Restaurants, Logistikfirmen, Ärzte, Rechtsanwälte, Entertainer, Wochenendschulen etc. Ziemlich alles, was man zum Leben braucht.

Bei der litauischen Geburtstagsfeier in Übersee kamen 40 Menschen zusammen. Die meisten von ihnen leben seit ca. 10 Jahren in den USA. Und jetzt wird es spannend. Raten Sie mal! Wie viele von 40 waren keine Litauer? Ich hätte es nie geglaubt: ein Einziger. Jeff, der Freund meiner ausgewanderten Landsmännin, ein gebürtiger US-Amerikaner, in Chicago geboren und aufgewachsen, ist in dieser Party eine absolute Minderheit in seiner Heimatstadt.

Das litauische Folk hat eine lange Diasporatradition. Nach dem Ersten und im Zuge des Zweiten Weltkriegs landeten über europäische Umwege viele meiner Landsleute in den USA. Die Auswanderer von damals haben uns, den in der Heimat lebenden, mit sehnsüchtiger Diaspora-Poesie überschüttet. Sie waren das, die uns zum großen Teil lehrten, was Heimat bedeutet. In ihren Gedichten stieg der Wert der zurückgelassenen Heimat. Die Nostalgie fand Ausdruck in poetischen Worten. Die litauische Erde haben die Dichter personifiziert, wie zu einer Geliebten aus der Ferne haben sie zu ihr gesprochen. Dicke Poesie Bände voller zerrissener Gefühle, voller Trennungstrauer und von Jahr zu Jahr steigender Nostalgie haben sie verfasst.

Die von ihnen beschriebenen Heimatbilder waren aber längst nicht mehr dieselben und ihre Erinnerungen hatten mittlerweile mit der vorherrschenden Realität nichts mehr zu tun. Genauso wie ihre Weihnachtsgeschenke an die Verwandten – von Firmen vorgefertigte Päckchen, die unter anderem Salz beinhalteten. Als hätte uns daran gefehlt. Die Päckchen waren trotzdem süß, auch wenn im wahrsten Sinne des Wortes übersalzen. Der laute Patriotismus aus der Ferne – ebenso.

Eine ganze Volksgruppe war das, deren Zeit bei den Vergangenheitserinnerungen stehen geblieben war und irgendwann bedarf es Reintegration in das eigene Volk. Viele Auswanderer kamen zum Sonnenuntergang des Lebens zurück, viele wollten in eigener Erde die ewige Ruhe finden. Zwischen den Rückkehrern und den nie Ausgewanderten lag aber die Kluft der auseinandergelebten Zeit.

Die Auswanderer von heute haben noch keine Nostalgie-Bände verfasst. Vielleicht sind das die zahlreichen Möglichkeiten, am Geschehen der Heimat Teil zu haben. Vielleicht ist ein Jahrzehnt nicht lange genug für das Lautwerden der Nostalgie. Die heutige Migration ist eben anders. Sie lässt die Zeit mit dem Auswanderungsjahr nicht stoppen und lässt keine so große Kluft mit den Landsleuten und der Heimat entstehen, wie es vor einigen Jahrzehnten war. Dennoch war und bleibt Migration eine komplizierte Angelegenheit, die einen Migranten zu einem Jongleur macht, der mit den Begriffen „Heimat“ und „Ausland“ jonglieren darf. Ein guter Jongleur findet die goldene Mitte, bei der weder Kluft zur Heimat noch zur Einwanderungsgesellschaft entsteht.

Nur in der Haut von Jeff möchte ich nicht stecken. Er ist zwar kein Migrant, dennoch fühlte er sich an dem besagten Abend sichtlich alles andere als einheimisch. Mit was sollte er denn noch jonglieren, wenn er selbst in eine Kluft zwischen seiner eigenen Heimat und der der Geburtstagsgesellschaft geriet?

Zurück in Berlin angekommen vermisse ich die Vorteile der großen Minderheit. Andererseits will ich das Privileg, einer Rarität anzugehören, nicht missen. Denn sie haben den Vorteil, frei sowohl von Mehrheiten als auch von Minderheiten zu sein. Und vor allem den Vorteil, in einer seltenen Sprache über Geheimnisse laut plaudern zu können.