Älterwerden in Deutschland

Lebenssituationen von Senioren mit Migrationshintergrund

Senioren mit Migrationsgeschichte werden immer mehr zu einem festen Bestandteil unserer Bevölkerung. Die Annahme, dass sie nach dem Erwerbsleben in ihre Herkunftsländer zurückkehren, hat sich als falsch erwiesen. Entsprechend groß ist die Versorgungslücke.

Laut einer statistischen Erhebung von Mikrozensus besitzen rund 20 Prozent aller Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, vor allem in Ballungsräumen und im Westen der Bundesrepublik. Die meisten MigrantInnen haben ihre Wurzeln in Europa. Davon stammt die größte ethnische Minderheit in Deutschland aus der Türkei, insgesamt ist jeder sechste Migrant türkischstämmig. Schon heute hat ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund, in Ballungsräumen sind es sogar bis zu 60 Prozent.

„Wir müssen uns auf die bunte Vielfalt, die wir heute schon leben, auch im Gesundheitssystem einstellen“, sagt Dr. Elif Cindik-Herbrüggen, Ärztin und Gesundheitsexpertin, bei ihrem Vortrag im Fachforum des BayernForums der Friedrich-Ebert-Stiftung in München. Auch die Anzahl von Menschen im hohen Alter mit Migrationshintergrund wird weiter ansteigen. Insgesamt besitzen circa zehn Prozent aller Menschen über 64 Jahre einen Migrationshintergrund, das sind rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland. Im Jahr 2030 wird sich diese Zahl bereits verdoppelt haben. „Daraus resultiert natürlich eine Zunahme von Patienten mit Migrationshintergrund. Vor allem in den Fächern Orthopädie, Psychiatrie und in den Fächern, in denen Volkskrankheiten behandelt werden, wie Herzprobleme beispielsweise.“

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Healthy-Migrant-Effekt
Bislang ist nach Ansicht von Cindik-Herbrüggen im deutschen Gesundheitssystem zu wenig geschehen, um sich auf Migrantinnen und Migranten im Alter einzustellen. Ein Grund dafür sei der ‚Healthy-Migrant-Effekt‘. Die Tatsache, dass diejenigen Männer und Frauen, die vor 50 Jahren als GastarbeiterInnen nach Deutschland kamen, streng auf ihre körperliche Tüchtigkeit hin untersucht wurden. Sie waren alle ausnahmslos jung und gesund. Erst heute benötigen immer mehr MigrantInnen ärztliche Betreuung und Pflege, da sie im Verlauf der Jahre alt und bedürftig geworden sind und so im Gesundheitssystem erstmals sichtbar werden.

Dr. Elif Cindik-Herbrüggen, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Master of Public Health, sowie SPD-Landtagskandidatin in Erding und stellv. Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Bayern.

Obwohl ältere Migrantinnen und Migranten als Gruppe sehr heterogen sind, lassen sich laut Dr. Cindik-Herbrüggen auch Gemeinsamkeiten und Trends feststellen. Die Statistik zeigt beispielsweise, dass überdurchschnittlich viele ältere MigrantInnen in Armut leben, da ihre Rente nicht ausreicht und sie somit auch oft im Gesundheitsbereich wenig finanziellen Spielraum besitzen. Je älter die Menschen werden, desto mehr sinken in der Regel auch ihre Deutsch-Sprachkenntnisse und können eine Behandlung durch einen Arzt erschweren. Positiv ist, dass ältere Migranten im Vergleich zu deutschen Seniorinnen und Senioren seltener allein leben. Sie leben oft bei ihren Familien, in sogenannten Mehrgenerationenhaushalten. Für die ärztliche Versorgung sei das viel wert, da immer auch die Kinder der PatientInnen in die Behandlung miteingebunden werden können, so Cindik-Herbrüggen. „Wenn eine demente Frau nicht mehr weiß, wie sie ihr Medikament nehmen soll, dann kann ich die Kinder darum bitten, dass sie dafür sorgen, dass sie das richtig macht.“ Bei der Vorsorge lässt sich beobachten, dass Migranten noch immer unterrepräsentiert sind, sei es bei Impfungen, Reha oder Zahngesundheit. Eine besondere Herausforderung im Gesundheitssektor birgt auch die transnationale Ruhestandsgestaltung vieler älterer Menschen mit Migrationshintergrund. Indem sie zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland pendeln, ergeben sich viele gesundheitsrechtlichen Fragen und Schwierigkeiten. „Sobald diese Menschen älter werden, über 75 Jahre, entscheiden sie sich meistens dafür hier alt zu werden und dann kommt das Pflegeproblem.“

Unterschiedliches Gesundheitsverhalten
Mediziner müssen sich bei der Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund zudem auf ganz andere Krankheitshäufigkeiten und -risiken einstellen. „Es gibt viele Erkrankungen, die von deutschen Ärzten gar nicht erkannt werden, weil sie einfach nicht daran denken. Wie beispielsweise das Mittelmeerfieber, das sehr viel häufiger bei Menschen aus anderen Kulturräumen gibt oder bestimmte Bakterien oder Viren, die PatientInnen aus dem Urlaub daheim mitgebracht haben können.“ Nach Ansicht der Gesundheitsexpertin muss die Ausbildung der Ärzte und Pflegekräfte dahingehend dringend verbessert werden.

Zusätzlich muss davon ausgegangen werden, dass sich das Gesundheitsverhalten von Migrantinnen und Migranten unterscheidet. „Die Art wie man Schmerzen oder Krankheiten ausdrückt, ist beispielsweise bei nichtdeutschen Frauen ohne Schulabschluss besonders körperlich und sehr stark.“ Viele deutsche Mediziner würden das nicht verstehen, so die Ärztin. Ein Hinweis für eine schlechte Arzt-Patient-Kommunikation sei auch, dass bei MigrantInnen mindestens zehn Prozent mehr diagnostische Untersuchungen gemacht werden. „Natürlich will der Arzt helfen. Wenn er nicht versteht, was das Problem ist, schiebt er den Patienten durch die ganze Diagnostikmaschinerie um zu sehen, ob es irgendwo einen auffälligen Wert gibt.“ Das Geld könnte laut Cindik-Herbrüggen anders besser genutzt werden, zum Beispiel um davon Dolmetscher zu bezahlen. „Das machen wir aber nicht, da immer nur von der Bringschuld der Migranten gesprochen wird. Nicht von der konkreten Versorgung einer Person, die seit 40 Jahren in die Kasse eingezahlt hat.“

Das Typische hilft nicht
Auch im Pflegebereich braucht es Anpassungen um der Pflegebedürftigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund gerecht zu werden. Ein ganz wichtiges Problem sieht Cindik-Herbrüggen zum Beispiel im Umgang mit Demenz. „Ein Migrant kann extrem gut Deutsch sprechen, doch wenn er dement wird, kann es leicht sein, dass er nur noch seine Muttersprache spricht.“ Typische Demenzübungen, wie sie in deutschen Altenheimen gemacht werden, beispielsweise das Vervollständigen deutscher Sprichwörter, helfen hier nicht. „Eine türkische Frau kann bei solchen Übungen nicht mitmachen und fühlt sich natürlich ausgegrenzt.“ Es fehlt nach Ansicht der Ärztin an alternativen Konzepten für die bislang monokulturell arbeitenden Altenheime, in denen eine interkulturelle Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund gewährleistet werden sollte.

Ferner gibt es laut Cindik-Herbrüggen einen dringenden Bedarf an interkulturell ausgerichteten Pflegediensten in Bayern. Während es diese in Berlin, Hamburg und Hannover schon gebe, hinke Bayern den Entwicklungen in diesem Aspekt weit hinterher. Nicht einmal bei ‚Essen auf Rädern‘ gebe es muslimisches, das heißt schweinefleischfreies Essen im Angebot.

Interkulturelle Öffnung
Letztlich ist nach Meinung der Gesundheitsexpertin dringend eine interkulturelle Öffnung in den deutschen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen nötig. „Wir brauchen nicht nur einen Türken im Team, der sich um alle Türken kümmert, sondern eigentlich müsste das Fachpersonal so kultursensibel ausgebildet sein, dass es sich um alle Migranten kümmern kann.“ Insgesamt müsste sich der Gesundheitssektor mehr an Menschen mit Migrationshintergrund und deren Lebensrealität orientieren. Das beginne bereits bei der Öffentlichkeitsarbeit. „Ich erwarte, dass man in den Gesundheitsprospekten auch Bilder von Migranten sehen kann, die pflegen, die im Krankenbett liegen oder von Frauen mit Kopftuch, die eine Hotline anrufen sollen. Migranten in Deutschland müssen endlich dazugehören, damit sie sich nicht falsch ethnisiert und ausgeschlossen fühlen.“