Ankommen im 21. Jahrhundert

Mehrstaatlichkeit im Einwanderungsland

Die Optionspflicht ist ein fauler Kompromiss aus dem Jahr 1999. SPD, Grüne, Linke und selbst der Urheber dieser Regelung, die FDP, sehen das mittlerweile ein. Nur einige ländlich-konservative Unionspolitiker sind immer noch nicht angekommen im 21. Jahrhundert.

Einen „faulen Kompromiss“ nennen Beobachter die Optionspflicht zur doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland. Die 1999 beschlossene Regelung zwischen der damaligen rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und der Opposition sieht vor, dass ein in Deutschland geborenes Kind ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit neben der Staatsangehörigkeit der Eltern erhält, wenn sich ein Elternteil seit mindestens acht Jahren in Deutschland aufhält. Das Kind muss sich jedoch nach Eintritt der Volljährigkeit entweder für die Staatsangehörigkeit seiner Eltern bzw. des Elternteils oder für das Land, in dem es geboren wurde, entscheiden. Fällt die Entscheidung nicht bis zum 23. Lebensjahr, geht die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verloren.

Ausgenommen sind Kinder und Jugendliche aus EU-Staaten und der Schweiz. Diese Regelung, die nach Willkür und Ausgrenzung riecht, trägt bei der großen Mehrzahl der türkischen Jugendlichen und deren Eltern zur Verunsicherung bei. Viele Mädchen und Jungen, die vor allem verwandtschaftliche Beziehungen in die Türkei haben, möchten gerade beide Staatsangehörigkeiten behalten, weil sie sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland heimisch und wohlfühlen. Diese Jugendlichen sind hier geboren, aufgewachsen, sozialisiert und loyale Bürger dieses Landes. Sie pflegen aber auch eine besondere, vor allem emotionale Verbundenheit mit dem Land ihrer Eltern und Großeltern. Daher ist zu beobachten und festzustellen, dass diese Jugendlichen nicht in „entweder oder“, sondern in „sowohl als auch“ Kategorien denken und fühlen.

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Menschen in eine einzige Identität hineinpressen zu wollen, ist scheinheilig. Der indische Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Soziologe Amartya Sen bezeichnet diesen Vorgang als „Identitätsfalle“. Auch die Frage, zu wie viel Prozent man sich als Deutscher und zu wie viel Prozent als Türke, Araber oder einer anderen Ethnie zugehörig fühlt, ist absurd. Man kann sich 100 Prozent als Türke fühlen und ebenso zu 100 Prozent als Deutscher, aber auch zu 100 Prozent als Bayern München-Fan oder als Umweltaktivist. Diese eindimensionale Denkweise scheint aber für manche „alten“, konservativen Köpfe immer noch als Maßstab zu gelten. Deutschland ist aber ein Land, das sich wandelt. Ein Land, das dabei ist, vielfältiger zu werden und mehrdimensional zu denken. Dies sollten gerade auch die Parteien berücksichtigen, die in letzter Zeit, z.B. bei den Wahlen in Niedersachsen, nur sehr knapp verloren haben.

Laut Informationen der Bundesregierung sind derzeit 16 Fälle bekannt, in denen junge Menschen gegen ihren Willen den deutschen Pass verloren haben. Allein in diesem Jahr werden noch 3.300 Mehrstaatler das Optionsverfahren durchlaufen, sich also für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. In den kommenden Jahren soll diese Zahl gar auf 7.000 anwachsen. Einer Prognose des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll es im Jahre 2018 etwa 40.000 Optionspflichtige geben, die möglicherweise ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren werden.

Eine weitsichtige Politik darf die Menschen nicht zwingen, sich für ein Land entscheiden zu müssen. Im Wettbewerb mit anderen Nationen, wo es um nationale aber auch europäische Interessen geht und vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, kann Deutschland gerade von der doppelten Staatsbürgerschaft profitieren. Aus Doppelstaatlern können vorzügliche Brückenbauer werden. Bekir Alboğa (DITIB) ist ein gutes Beispiel für so einen Brückenbauer. Er hat kürzlich die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten. Dies ist ein Beweis dafür, dass Menschen sowohl dem Land, in dem sie leben als auch ihrem Herkunftsland nützlich sein können. Falls man dies aber verhindern möchte, bleiben Verlautbarungen von Regierungsvertretern, dass Vielfalt unser Land bereichere oder dass es hier eine Willkommenskultur gebe, lediglich unbedeutende und wertlose Lippenbekenntnisse.

Es war ein Fehler der damaligen rot-grünen Bundesregierung, diesem Optionsmodell zuzustimmen. Doch sowohl die SPD als auch die Grünen scheinen aus ihren Fehlern gelernt zu haben, sodass beide Parteien bereits 2011 einen leider gescheiterten Versuch unternommen haben, diesen Fehler zu revidieren. Die Politiker erinnern sich sicherlich noch an ihre Wahlversprechen der letzten Landtagswahlkämpfe. Sie haben Lösungsansätze zu diesem Thema unterbreitet und versprochen, sich der Thematik nach einer Regierungsübernahme zu widmen.

Nachdem Rot-Grün nach den Landtagswahlen in Niedersachsen die Mehrheit im Bundesrat bekommen hat, käme ein erneuter Vorstoß in dieser Frage der doppelten Staatsbürgerschaft sowie der Abschaffung der Optionspflicht gerade jetzt, vor den Bundestagswahlen, überaus gelegen. Die große Mehrheit der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsbiographie würde dies bei den Bundestagswahlen sicher nicht unhonoriert lassen.

Auch die Bemühungen der FDP bei diesem Thema sind nicht von der Hand zu weisen und werden registriert. SPD, Linke, Grüne und FDP könnten Mut zeigen und das Thema groß auf die politische Agenda setzen und verfolgen, damit das Problem endlich eine nachhaltige Lösung findet. Die Union dagegen muss sich selber die Frage stellen, ob sie sich den Positionen der ländlich-konservativen Parteikollegen unterordnet oder die großstädtischen, migrantischen und vielfältigen Realitäten dieses Landes anerkennt. Kurz: Die Union muss sich fragen, ob sie im 21. Jahrhundert ankommen möchte.