Würde man unter den in Deutschland lebenden Türkeistämmigen eine Umfrage machen, was Sie an Deutschland am meisten schätzen, würde die Rechtsstaatlichkeit einen der vordersten Plätze annehmen. Wie aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Linkspartei hervorgeht (liegt der MiGAZIN-Redaktion vor), fällt Deutschland ausgerechnet hier durch.
Darin hatte sich die Linksfraktion nach der richtigen Umsetzung von EU-Recht erkundigt. Konkret geht es um die Einhaltung eines Vertrages zwischen der Türkei und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahre 1963. Dieser Vertrag wurde in den Siebzigern und Achtzigern erweitert. Ziel war es, die Türkei an die Europäische Union (EU) heranzuführen für einen späteren Beitritt.
Verschlechterungsverbot
Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem sogenannten Verschlechterungsverbot zu. Sie verbieten den Vertragsstaaten die Einführung „neuer Beschränkungen“ in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit von türkischen Staatsangehörigen. Dazu gehören laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auch aufenthaltsrechtliche Regelungen.
Im Klartext bedeutet dieses sogenannte Assoziationsrecht, dass für türkische Staatsbürger immer noch die Rechtslage aus den Jahren 1973 bzw. 1980 gilt, wenn die damalige Rechtslage für sie günstiger war. Sämtliche Änderungen, die später in Kraft getreten sind und die für den türkischen Staatsbürger nachteilig waren, sind laut diesem Vertrag europarechtswidrig und damit nicht anwendbar. Und weil es sich um EU-Recht handelt, gilt dieses vorrangig – unabhängig davon, was das deutsche Ausländergesetz vorschreibt.
Bundesregierung bleibt stur
Das ist unter Rechtswissenschaftlern unumstritten. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hatte im Juni 2011 darauf hingewiesen, dass zahlreiche Regelungen des deutschen Aufenthaltsgesetzes auf türkische Staatsbürger nicht anwendbar sind – darunter auch die Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug oder die Frage, ob türkische Staatsbürger überhaupt Visum benötigen, da beide Regelungen nach dem Verschlechterungsverbot eingeführt wurden. Die Niederlande und Österreich haben bereits reagiert und Türken zumindest von den Ehegattennachzugsregelungen ausgenommen.
Nur die Bundesregierung bleibt stur. Nicht ohne Grund. Würde sie sich an das EU-Recht halten, müssten nahezu alle Verschärfungen im Aufenthaltsrecht der letzten Jahre in Frage gestellt werden. Und weil die meisten Gesetzesänderungen mit dem Begriff „Integration“ begründet wurden, müsste die Bundesregierung eingestehen, dass der wesentliche Teil ihrer Integrationspolitik rechtswidrig war.
Das registriert zunehmend auch der EuGH. „Auffällig oft landen bei uns derzeit Fälle, bei denen es um die Einhaltung des Assoziierungsabkommens mit der Türkei geht. In einer Zeit, als man türkische Arbeitnehmer dringend gesucht hat, wurden ihnen die Rechte versprochen … Jetzt, wo diese Rechte fällig werden, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr davon wissen“, so EuGH-Richterin Maria Berger in einem Interview mit Die Presse im September 2011.
Abwälzung der Verantwortung
Inwieweit die Rechte türkischer Staatsbürger aus dem Assoziationsrecht in Deutschland tatsächlich missachtet werden, könne die Bundesregierung – so jedenfalls die bisherige Auskunft – nicht sagen. Und darum geht es in der aktuellen Großen Anfrage an die Bundesregierung. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, diese Informationslücke mittels einer Umfrage in den Bundesländern zu schließen.
Das aber verweigert die Bundesregierung. Die Umsetzung des Verschlechterungsverbots des Assoziationsrechts falle nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung. Und sie müsse auch nicht von ihrem Aufsichtsrecht Gebrauch machen. Sie habe einen Ermessensspielraum bei der Frage, wie sie die Länder bei der Ausführung von Bundesgesetzen beaufsichtige. Zwingender Handlungsbedarf bestünde nur, wenn eine Vielzahl von Rechtsverstößen durch die Länder vorläge, wofür es aber keine Anhaltspunkte gebe.
Innenministerium gibt Auslegung vor
Dem widerspricht Sevim Dağdelen, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion. Anhaltspunkte gebe es zuhauf: „Nach Auffassung vieler Experten, nicht zuletzt des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, sind maßgebliche Gesetzesverschärfungen im Aufenthaltsrecht der letzten Jahre auf türkische Staatsangehörige schlicht nicht anwendbar. In der Praxis geschieht dies dennoch, etwa bei Sprachanforderungen im Aufenthaltsrecht. Vom EuGH wird die Bundesregierung regelmäßig wegen ihrer restriktiven Rechtsauffassung gerügt.“
Kurios ist auch: Das Bundesinnenministerium gibt selbst den Rahmen vor, wie das Assoziationsrecht in den Amtsstuben der Bundesländer angewendet werden soll – in den Anwendungshinweisen aus dem Jahre 2002! Diese mehr als zehn Jahre alten Hinweise sind im Zuge der Rechtsprechung des EuGH in den letzten Jahren aber praktisch wertlos. Im Mai 2011 erklärte die Bundesregierung, die Anwendungshinweise würden „derzeit überarbeitet“; ein Jahr später hieß es unverändert, die Anwendungshinweise würden „derzeit überarbeitet“ – und es sei auch „noch nicht absehbar, wann die Überarbeitung abgeschlossen sein wird“. Randnotiz: Die Anwendungshinweise haben einen Umfang von 36 Seiten.
Bundesregierung widersprüchlich
Diese Verzögerung scheint seinen Grund zu haben: Die Behörden sollen sich weiterhin an den veralteten Anwendungshinweisen orientieren, in der Rechte türkischer Staatsbürger im Vergleich zur aktuellen Rechtsprechung des EuGH massiv beschnitten werden. Das wiederum wäre ebenfalls Anhaltspunkt genug für einen massiven Rechtsverstoß in den Behörden.
Dağdelen: „Die Abwälzung der Verantwortung auf die Bundesländer ist ein Skandal.“ Die Beachtung höherrangigen EU-Rechts und der EuGH-Rechtsprechung ist nach Überzeugung von Dağdelen Pflicht der Bundesregierung. So sieht es auch der EuGH: Die föderale Struktur eines Mitgliedstaates ist keine Entschuldigung dafür, EU-Recht nicht umzusetzen.
Zwang-Politik gescheitert
Dağdelen weiter: „Die Bundesregierung missachtet im Umgang mit türkischen Staatsangehörigen EU-Vorgaben. Sie scheut offenbar keinen Affront, wenn es darum geht, türkischen Staatsangehörigen die ihnen zustehenden Rechte zu verweigern.“ Nach Auffassung der Linkspolitikerin ignoriert die Bundesregierung seit Jahren schon die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Nun missachte sie auch noch das parlamentarische Fragerecht, „weil kritische Debatten zu diesem Thema offenbar unerwünscht sind“.
Offenkundig wolle die Bundesregierung kritische Fragen und störende Debatten zu ihrem europarechtswidrigen Handeln vermeiden. „Letztlich weiß sie, dass sie vor dem EuGH Schiffbruch erleiden wird. Ihre Politik der steten Gesetzesverschärfungen und des Zwangs ist damit im Kern bereits jetzt gescheitert; die Bundesregierung will es nur noch nicht eingestehen“, so Dağdelen abschließend. (es)