Kısmet

Geben und Nehmen

Baba vergleicht die Familie gerne mit einem Mantel. Unter ihm findet man Schutz und Wärme, aber er kann auch mal kratzen oder etwas enger sitzen. Dies geschieht vor allem dann, wenn es Sorgen zu besprechen gibt. Wobei ich mich dann eher um den Blutdruck mancher Familienmitglieder sorge, deren Gesichter rot anlaufen.

Es ist allerdings so, dass nicht nur die freudigen Momente geteilt werden, sondern auch die weniger erbaulichen. Und das ist gut so. Denn unsere Familie ist keine Komfortzone, sondern kann auch unbequem werden, weil das Wohl aller im Vordergrund steht.

Manchmal ist es nicht einfach, bei fünf Menschen, die durcheinander reden, den Überblick zu bewahren. Baba wirft drohend den Finger in die Luft und schimpft, Anne sitzt mit zusammengekniffenen Lippen und verschränkten Armen in Habachtstellung und ärgert sich darüber, dass Baba verärgert ist. Meine Freundin diskutiert mit Baba, der aber gerade etwas ganz anderes adressieren will und sie kaum beachtet, was ihrer inneren Ruhe nicht zuträglich ist, während mein Schwager und meine Schwägerin wiederum in einen lautstarken Disput verwickelt sind, der sich scheinbar autark zu den anderen Themen verhält Um es nicht zu vergessen: obendrein läuft der Fernseher in einer Lautstärke, die es locker mit allen Organen aufnehmen kann. Die arme Sprecherin in der Glotze kann sich jedoch anstrengen wie sie will, hier findet sie kein Gehör mehr. Hastig wird in Baklava gebissen und ein Schluck Tee herunter gekippt, bevor die nächsten Wortsalven in die Menge geworfen werden. Diskussionen werden nicht nur lebhaft, sondern auch ausschweifend geführt. Ich habe den Faden längst verloren, sitze auf der Couch und versuche möglichst nicht aufzufallen, weil die „Konversationen“ aus der Distanz schon anstrengend genug sind. In meiner Familie sind Angelegenheiten schnell Allgemeingut. Aber das ist nicht tragisch. Denn auf jede Kontroverse kommen mindestens zwei bis drei Momente, in denen die Familie gemeinsam wie ein Fels in der Brandung steht. Das einzige was in meiner türkischen Familie noch intensiver ist als die Streitgespräche, ist der Zusammenhalt.

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Ich erinnere mich wieder. Die Diskussion hatte begonnen, weil wir zu spät kamen, während mein Schwager und meine Schwägerin mit dem Essen auf uns warteten. Sie hatten den Tisch mit Köstlichkeiten übersät. Dolma, Köfte, Kisir und vieles mehr. Wir holten noch meine Schwiegereltern ab, um gemeinsam zu schmausen. Meine Mutter war leider verhindert, wäre aber sicher auch unpünktlich gekommen. Beim Dessert entlud sich dann doch der Frust über unsere Verspätung, was ich etwas paradox finde, da eigentlich immer alle zu spät kommen. Wenn es um Pünktlichkeit geht, ist der deutsche Part meiner Familie (vielleicht abgesehen von meiner Mutter) schon wesentlich penibler, ohne Klischees bespielen zu wollen. An Geburtstagen wird selbst unter der Woche um 17:30 Uhr mit dem Essen begonnen. Unpünktlichkeiten werden auch nicht mit entsprechenden Wortgefechten kommentiert, sondern mit kleinen Anspielungen hingenommen. Eine Familie intakt zu halten, erfordert Disziplin. Auch wenn das bedeutet, sich mal richtig die Meinung zu geigen. Das gab es bei uns zuvor nicht. Anfangs waren diese fühlbaren Mentalitätsunterschiede der Familienstränge für mich und meine Freundin mit Anspannung verbunden. Meine Mutter hatte meinem Empfinden nach ebenso damit zu kämpfen, sich an das Temperament zu gewöhnen und nicht zu viel in rot angelaufene Gesichter hineinzuinterpretieren. Heute fährt sie auch mal bei meinen Schwiegereltern vorbei, weil sie sich mit der Teekultur und einem kleinen Plausch ganz gut anfreunden kann. Zudem genießt sie diese konsequente Art des Zusammenhalts zunehmend. Sie hat sogar gelernt, in der Runde mal auszuteilen, statt sich aus den Gesprächen zurückzuziehen (davon profitiert sie nicht nur beim türkischen Teil unserer Familie). Aber ebenso hat sie ihre Freude daran, meinem Schwager einen seiner geliebten Käsekuchen zu backen – einfach mal so – oder meiner Nichte eine kleine Überraschung mitzubringen. Meine Freundin ist der Meinung, dass meine Mutter noch öfter zu ihren Eltern fahren könnte. Türken sind eben Familienmenschen und das macht sich im Zusammenleben bemerkbar. Besuche stehen zwar nicht an der Tagesordnung, aber haben schon eine gewisse Regelmäßigkeit. Bei uns war das eher Anlassbezogen. Mittlerweile sitzen alle gerne zusammen und klönen (auch wenn die Zusammenkunft in großer Runde nach wie vor bei Festlichkeiten stattfindet), es gibt schließlich genug zu erzählen.

Ohne Worte war meine Freundin hingegen, als sie zu Beginn unserer Beziehung meine Tante auf der Straße traf und sie nur kurz im Vorbeigehen winkte und ihr ein knappes Hallo entgegenwarf. Selbst wenn wir einen unserer entfernten Bekannten auf der Straße zufällig treffen, ist dies im Grunde stets erst einmal mit einem langen Gespräch verbunden. Es wird gelacht, getratscht, geschimpft und dann bemerkt, dass man eigentlich schon wieder viel zu spät ist. Meine Freundin fand sich daher von meiner Tante zurückgesetzt. Nun hat sie wohl einen besseren Draht zu ihr als ich es je hatte, aber auch meine Beziehung zu meiner Tante und anderen Familienmitgliedern ist besser als je zuvor (für terminliche Koordinierung oder sonstigen Austausch ist meine Freundin aber erste Anlaufstelle). An Geburtstagen ist meine Freundin gerne gesehen und stets lange erwarteter Gast (ich erinnere an unsere (Un)Pünktlichkeit). Sie wird dann mit einem lautstarken „Kümmeltürk“ empfangen. Das Schimpfwort Kümmeltürke richtet sich übrigens gar nicht gegen die Türken selbst, wie bei Wikipedia nachzulesen ist. Hatte mich auch schon gewundert, denn Kümmel findet sich meines Wissens recht selten in den türkischen Speisen. Diesen Spitznamen hat sich meine Freundin mehr oder weniger selbst verpasst, da sie Gefallen daran findet, mit meinem Onkel einen Kümmelschnaps zu genießen, oder auch zwei, drei…So lebendig habe ich ihn zuvor gar nicht wahrgenommen. Er blüht in ihrer Gegenwart regelrecht auf. Auch ohne Alkohol ist die Stimmung überschwänglich, es wird sich gedrückt, zusammengerückt und geschunkelt. Baba zieht sich dann gemütlich in eine Ecke zurück und genießt die Szenerie, Anne nickt freudestrahlend den jeweiligen Gesprächspartnern zu. Meine Großmutter sitzt zwischen den „Fronten“ und bekommt bilinguale Beschallung. Sie hat Freude daran. Lebenslust ist wohl ansteckend. Kurzum: es macht Spaß, so habe ich es in der Vergangenheit nicht immer empfunden. Ich musste erst meine Freundin und ihre Familie kennenlernen, um meine Familie mit anderen Augen zu sehen.

Zwischen Spaß und Schimpferei liegt allerdings noch viel mehr, was mich an meiner türkischen Familie fasziniert. Wenn jemand gebraucht wird, stehen alle helfend zur Seite. Als meine Mutter umgezogen ist, packten nicht nur mein Schwager, meine Freundin und ich an, selbst meine Schwiegereltern stellten ihren familientauglichen Minivan zur Verfügung und schleppten die ein oder andere Kiste, soweit es ihre Kräfte zuließen. Als kleines Dankeschön lud meine Mutter alle zu einem schönen Abendessen mit Rouladen, Klößen und Rotkraut ein. Meine Freundin liebt es, wie eigentlich alle anderen auch. Als wir zum Nachtisch kamen, zogen wir uns ins Wohnzimmer zurück und hörten die Plattensammlung meiner Mutter an. Ja, es gibt noch Vinyl. Baba grinste und genoss seine Lachshäppchen. Anne fühlte sich wieder wie ein junges Mädchen, als sie zu Freddy Quinn schwelgte. Und mein Schwager samt Frau stimmte gut gelaunt mit ein. Nachdem die Stimmung in Gemütlichkeit umgeschlagen war, sitzen Anne und Baba zufrieden nebeneinander und genießen die Atmosphäre. Es werden Pläne geschmiedet für den nächsten Urlaub, weil sie meiner Mutter die Türkei zeigen wollen. Und schon bahnt sich ein kleiner Zwist an. Anne und Baba sind sich nicht ganz einig, wie man in die Türkei kommen soll, weil sie ihrem Mann nicht zutraut, die Strecke selbst zu fahren. Seine lädierte Lunge erlaubt keinen Flug. Aber am Steuer zu sitzen will er sich nicht nehmen lassen. Die Familie hat zudem zusammen zu fahren, um auch gemeinsame Erinnerungen zu haben. Das wäre doch ein tolles Abenteuer. Und plötzlich sind alle ein lautstarker Knäuel.

Bevor ich den Überblick erneut verliere, erzähle ich einen Witz, den Baba tags zuvor zum Besten gegeben hatte: „Ein Mann, der nicht schwimmen kann, ist am ertrinken. Ein Dorfbewohner nach dem anderen springt in den See, streckt ihm die Hand entgegen und ruft: GIB mir deine Hand. Der Ertrinkende geht auf die Rettungsversuche nicht ein. Nun geht Nasreddin Hodscha zu ihm und entgegnet: „NIMM meine Hand“. Der Mann nimmt sie und ist gerettet. Wie hast du das gemacht, wollen die anderen Wissen. „Der gute Herr ist bekannt dafür, dass er nur nimmt, statt zu geben, so der Hodscha.“ Geben ist ein wesentliches Attribut des familiären Zusammenlebens – Liebe, Herzlichkeit und Geborgenheit (und auch mal einen Anpfiff). Das habe ich zu schätzen gelernt. Çok güzel! 1

  1. Übers. aus dem türk.: Sehr schön!