Die westliche Medienlandschaft brodelt. Der Grund sind muslimische Protestierende und Fanatiker, die sich gewalttätigen Übergriffen auf westliche Institutionen verschrieben haben. Die Protestierenden mobilisieren gegen religiöse Beleidigung, gegen Respektlosigkeit gegenüber dem Propheten Mohammad und der Religion des Islam.
Auslöser für den Aufruhr ist das aus den USA stammende anti-islamische Video, das seit Juli auf Youtube zirkuliert und später untertitelt in arabischen Medien ausgestrahlt wurde. In ihm werden Muslime als Christen abschlachtende Horde dargestellt und der Prophet Mohammed als Pädophiler ins Lächerliche gezogen. Schliesslich hat das Video am 11. September einen aufgebrachten Mob in Lybien dazu getrieben, die US-amerikanische Botschaft in Benghasi zu stürmen und den Botschafter zu ermorden. So lautet jedenfalls die gängigste Version der Geschehnisse. Ob der gewalttätige Übergriff nun tatsächlich direkt auf die Veröffentlichung des islamfeindlichen Filmes oder generell auf den Hass auf den Westen zurückzuführen ist, ist unklar. Klar ist jedoch, dass der Übergriff eine unbeschreibliche Greueltat an einem unschuldigen Individuum darstellt.
Wie ist so etwas zu erklären? Eine Woche nach dem schrecklichen Vorfall diskutieren Jakob Augstein, Hauptverleger der Wochenzeitung Der Freitag und Nikolaus Blome, Leiter des Hauptstadtbüros der Bild-Zeitung auf Phoenix über die neueste Welle muslimischer Empörung. Die Diskussion flimmert unter dem Titel: „Mohammed Schmähvideo – ist der Islam krank oder der Westen?“ über den Bildschirm.
„Muslime sind selbst schuld an ihrem schlechten Ruf“
Augstein eröffnet die Debatte, indem er sich über die einseitige Medienberichterstattung im Westen empört, die die Muslime als Bösewichte und religiöse Fanatiker über einen Kamm schere: „Wer hat über die acht Lybier berichtet, die bei dem Versuch ihre fanatischen Landsmänner an dem Sturm auf die Botschaft zu hindern ums Leben kamen?“. Das gewalttätige Bild, das viele Menschen im Westen von Muslimen haben, möge auf Pauschalisierungen beruhen, räumt Blome ein. Insofern gibt er Augstein Recht. Jedoch seien Muslime selbst für ihren schlechten Ruf im Westen verantwortlich, fährt er fort.
Dass die Medien verzerrte Bilder transportieren, die sich in ebenso verzerrte Meinungsbilder übersetzen und die wiederum zu Vorurteilen gegen ganze Bevölkerungsgruppen führen, findet er normal. Man konzentriert sich in der Berichterstattung auf diejenigen, die die Gewalttaten verüben und nicht auf diejenigen, die bei dem Versuch, ihre fanatischen Mitbürger aufzuhalten ihr Leben lassen. Herr Blome scheint das nicht weiter schlimm zu finden. Er begründet seine Meinung anhand eines einfachen Beispiels: Richte man eine Kamera konstant auf eine Strassenkreuzung, zeige man später nur den Zeitabschnitt in dem ein Unfall passierte, „denn dann ist da was schiefgelaufen“. Die 100 Autofahrer, die zuvor bei grünem Ampellicht die Kreuzung überquert haben, haben keinen Nachrichtenwert. Damit liegt Blome im Bereich des faktisch Richtigen. Jedoch geht es hier nicht darum, dem unwissenden Zuschauer die Theorie des Nachrichtenwertes zu erläutern. Es geht vielmehr um eine moralische Bewertung der Geschehnisse. Man lernt bereits in der deutschen Sekundarstufe II, wie subjektiv die Nachrichtenwerte von Ereignissen konstruiert werden. Vor dem Hintergrund des journalistischen Wahrheitsauftrages könnte man sich deshalb gehalten sehen, diese Methode der Nachrichtenwertkonstruktion zu kritisieren. Und sollte man als Journalist nicht sogar versuchen, genau daran etwas zu ändern?
Blick in die Geschichte: Fehlende Aufklärung als Ursache?
Augstein betont, dass die Machthaber in muslimischen Ländern die Religion instrumentalisieren und ihre Bevölkerungen zu ihren Gunsten manipulieren. Dazu käme ihnen solch ein „propagandistisches Machwerk“ wie es der Film ist nur gelegen. Blome prangert hingegen die Rückwärtsgewandtheit der islamischen Religion an. Letzterer gibt er die Schuld an den fehlenden demokratischen Verhältnissen in muslimisch geprägten Ländern. Was „in dieser Religion schieflaufe“ sei, dass der Islam nicht wie das Christentum eine Periode der Aufklärung durchgemacht habe. Deshalb könnten freiheitlich-demokratische Werte in einer muslimischen Gesellschaft nicht Fuss fassen. Will er damit sagen, dass Menschen in freiheitlich demokratischen Systemen keine Gewalttaten verüben? Oder dass sie nicht aus irrationalen, rassistischen oder fanatisch-religiösen Gründen ihren Mitmenschen Schaden zufügen? Das wäre gewagt, denn ein Blick in Polizeiberichte und Kriminalstatistiken würde schnell das Gegenteil beweisen. Warum Blome also in diesem Zusammenhang Freiheit und Demokratie anspricht, bleibt unersichtlich.
„Wir glauben doch alle inzwischen, dass der Islam eine grundsätzlich gewalttätige Religion ist“, paraphrasiert Blome weiter. Dabei scheint er nicht zu merken, dass er selbst damit das Bild vom aufgeklärten christlichen Westen, das er zu vertreten scheint komplett untergräbt. Und weil er sich mit dem „wir“ in die Gruppe einschließt, das des kritisch denkenden Journalisten ebenfalls. Wie sollte sich ein vorbildlich aufgeklärtes, kritisches und rational denkendes Volk, das unter einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung lebt zu solchen Pauschalurteilen hinreissen lassen? Jakob Augstein scheint sich das auch zu fragen, er runzelt des öfteren die Stirn über die Argumente seines Gegenübers.
Meinungsfreiheit über alles?
Worin sich beide offenbar einig sind ist, dass man die Ausstrahlung des Films nicht verbieten solle. „Wegen der Meinungsfreiheit“, meint Augstein gleich zu Anfang der Sendung. Egal was den Produzenten -einen in den USA lebenden, aus Ägypten stammenden koptischen Christen- dazu gebracht hat, ein derart beschämendes Werk zu produzieren: Das Stichwort Meinungsfreiheit hätte ein guter Ausgangspunkt für eine fruchtbare Diskussion sein können. Diese bleibt jedoch leider aus. Die philosophischen Fundamente, auf denen der reisserische Titel der Sendung begründet sein könnte, werden nicht freigelegt. Die provokativ-plakative Fragestellung läuft fade ins Leere -trotz der offensichtlichen Aufgebrachtheit der beiden Diskutierenden.
Sie begnügen sich mit einem lediglichen Kratzen an einer glatten Oberfläche. Dabei sind die fundamentalen Fragen zu den neuesten Ereignissen von philosophisch-moralischem Charakter. Erstens ist abzuwägen, ab welchem Punkt der eigene Freiheitsanspruch anfängt andere zu verletzen. Wenn man diesen Punkt gefunden hat, sollte man sich zweitens fragen, ob und bis zu welchem Grad man es vertreten möchte, durch diesen Anspruch andere zu verletzen. Dabei hilft es nicht, eigene Maßstäbe anzulegen. Ob sich jemand verletzt, beleidigt oder angegriffen fühlt, beruht auf subjektiven Emotionen. Wann und in welchem Ausmaß solche Emotionen hochkochen ist davon abhängig, wie derjenige seine jeweilige Identität konstruiert. Wenn jemand einen Grossteil letzterer auf der Zugehörigkeit zu einer Religion aufbaut, verletzt man ihn persönlich, wenn man diese Religion auf aggressive Weise angreift. Man muss das nicht verstehen, man sollte aber versuchen, diese „Empfindlichkeit“ zu tolerieren. Die Trennlinien zwischen Kritik und Angriff sind dabei immer verschwommen weil sie subjektiv empfunden werden. Bezüglich des Mohammed „Schmäh“-Videos kann man davon ausgehen, dass die Mehrheit der Muslime, ob religiös oder nicht, es eher als Angriff auffasst. Diese Auffassung teilen wohl auch die meisten Nicht-Muslimen, die sich das Filmchen anschauen.
Kranke Individuen
Eigentlich ist der Film zu schlecht, um überhaupt als propagandistisch bezeichnet werden zu können. Schaut man ihn sich an, schaut man lieber gleich wieder weg. Hass auf Muslime und die Lust an niveauloser Beleidigung machen es fast unerträglich, die zwölf Minuten Sendezeit durchzustehen. Dennoch hat das Video an Muslimen überall auf der Welt propagandistische Wirkung entfaltet. Und das war wohl ganz im Sinne des Erfinders. Das ist wirklich schade und ich würde mir wünschen, dass die religiösen Muslime unter uns in der Lage wären, über eine solche von einer Einzelperson produzierten Peinlichkeit hinwegzusehen.
Man muss von ihnen, wie von jedem anderen auch, erwarten können, mit Angriffen auf ihre Identität fertig zu werden. Wer dazu nicht imstande ist läuft Gefahr, irrationale Racheakte an Unschuldigen zu verüben. Diejenigen sind die eigenlich Kranken. Sie sind Individuen und nicht ganze Gesellschaften.