Umfrage

Jeder Zweite Türke möchte zurück in ihre Heimat – Tendenz steigend

Der Wille zur Integration und Zugehörigkeit ist unter Türken gestiegen. Dennoch plant fast jeder Zweite eine Auswanderung in die Türkei. Grund könnten die vielen Diskriminierungserfahrungen sein.

Insgesamt leben in Deutschland gegenwärtig ca. 2,7 Millionen Menschen, die einen türkischen Migrationshintergrund haben. Etwa ein Viertel davon hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Jeder vierte der Türkeistämmigen (27%) ist in Deutschland geboren und 39% leben schon seit mindestens 30 Jahren in Deutschland. Dennoch betrachten nur noch 15% eher Deutschland als ihre Heimat. 2009 waren dies noch 21% und im Jahr 2010 immerhin noch 18%. Weitere 45% empfinden Deutschland und die Türkei gleichermaßen als Heimat und 39% eher die Türkei, eine Minderheit von 2% fühlt sich in keinem dieser Länder beheimatet.

„Die eigentliche Arbeitsmigration als Zuwanderungsgrund spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Lediglich jeder fünfte Befragte ist nach Deutschland gekommen, um hier selbst eine Arbeit zu suchen“, sagt Holger Liljeberg, Geschäftsführer der Info GmbH, die die Studie gmeinsam mit Liljeberg Research International durchgeführt hat. Erwartungsgemäß betrifft dies fast die Hälfte der älteren Befragten. Der wichtigste Zuwanderungsgrund ist die Eheschließung mit einem in Deutschland lebenden Partner. Mehr als die Hälfte der befragten Frauen mit Geburtsland außerhalb Deutschlands sind aus diesem Grund in die Bundesrepublik gekommen.

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Rückkehr in die Türkei
Dem fehlenden Heimatgefühl entsprechend planen 45% der Befragten eine Rückkehr in die Türkei, allerdings nur 5% in den nächsten 2 Jahren und weitere 12% in den nächsten 10 Jahren. Die häufigsten Rückkehrabsichten finden sich inzwischen in der Altersgruppe 30‐49 Jahre (55%). Insgesamt sind die Rückkehrabsichten gegenüber den Vorjahren tendenziell angestiegen.

Als Rückkehrgründe werden vor allem der Heimataspekt, das Genießen des Ruhestandes und das bessere Wetter dort genannt. Nur 10% der „Rückkehrwilligen“ geben als Grund an, dass sie mit Deutschland und den Deutschen nicht zurechtkommen, 6% wollen in der Türkei eine Arbeit suchen.

Einstellungen zu gesellschaftlichen Themen
Die überwiegende Mehrheit der Türkeistämmigen ist nach wie vor davon überzeugt, dass es richtig war, nach Deutschland zu kommen und dass es in diesem weltoffenen Land jeder, unabhängig von der Herkunft, zu etwas bringen kann. Für 84% ist klar, dass dabei nur die deutsche Sprache zum Erfolg führen kann (89 % im Jahr 2010). Auffallend gestiegen sind der unbedingte Wunsch, ohne Abstriche zur deutschen Gesellschaft dazuzugehören und der Integrationswille.

Aber gleichzeitig meinen inzwischen 87% auch, dass die deutsche Gesellschaft stärker auf die Gewohnheiten und Besonderheiten der türkischen Einwanderer Rücksicht nehmen sollte. Der Geschäftsführer der Info GmbH analysiert: „Für das Empfinden eines Lebens zwischen den Welten und ein nach wie vor problematisches Verhältnis der Aufnahmegesellschaft zum Thema Integration spricht z.B. die Tatsache, dass sich 63% der Befragten in Deutschland als Türke und in der Türkei als Deutscher fühlen. Im Jahr 2010 sagten das lediglich 58%.“ 47% fühlen sich in Deutschland unerwünscht, nur 62% glauben, dass Deutsche und Türken in Deutschland die gleichen Bildungschancen haben.

Türkische Kultur und Religion
Entsprechend trotzig kommen die Antworten in Bezug auf die türkische Kultur und Religion. 95% meinen, dass die Türkeistämmigen in Deutschland unbedingt ihre türkische Kultur bewahren müssten. 84% sind der Meinung, dass man gleichzeitig ein guter Deutscher und ein guter Moslem sein kann. Gerne mit Türken zusammen sind 62% gegenüber 40% im Jahr 2010 und 46% wünschen sich, dass in Deutschland irgendwann mehr Muslime als Christen wohnen. Vor knapp zwei Jahren war das lediglich jeder Dritte.

Besonders die jungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund befürworten die kostenfreie Koranverteilung in deutscher Sprache. 63% der 15 bis 29‐Jährigen finden die Aktion „Lies!“ sehr gut bzw. eher gut. „Dies könnte auf eine verstärkte Rückbesinnung gerade der jungen Generation auf religiöse Werte der Heimat ihrer Eltern zurückzuführen sein ‐ ohne dass sich daraus bereits ein unmittelbarer Trend zum politischen Islamismus ableiten ließe“, kommentier Liljeberg diese Ergebnisse und ergänzt: „Bei den älteren Türken in Deutschland, die ja überwiegend selbst eingewandert und daher politisch von Laizismus und Kemalismus in der Türkei geprägt sind, stößt die Aktion „Lies!“ dagegen überwiegend auf Ablehnung. Knapp 70 Prozent der über 50‐Jährigen sprechen sich dagegen aus.“ Den Bau von noch mehr Moscheen in Deutschland wünschen sich inzwischen 55% der Befragten, im Jahr 2010 waren es noch 49%.

Bedeutung der Sprache unumstritten
In Punkto Sprachen scheint die klare Mehrheit keine Schwierigkeiten zu haben. 78% der Befragten sagen, dass sie keine Sprachschwierigkeiten beim Einkaufen hätten, bei 69% ist die Verständigung mit Nachbarn und Kollegen problemlos. Immerhin 63% berichten nicht überraschend über zumindest geringe Probleme beim Ausfüllen von amtlichen Formularen, 47% bei Gesprächen mit Ämtern und Behörden und 46% beim Ansehen von deutschen Fernsehfilmen. Gegenüber 2010 haben sich die berichteten Sprachschwierigkeiten aber insgesamt etwas reduziert.

Download: Die vollständige Studie „Deutsch-Türkische Lebens und Wertewelten 2012“ steht unter www.infogmbh.de zum Download bereit. Für die Studie wurden insgesamt 1.011 Personen mit türkischem Migrationshintergrund zu ihrer Einstellung gegenüber Deutschland, ihren Werten und Lebenseinstellungen befragt.

Dass das Thema Sprache auch im Hinblick auf die Perspektive der Kinder in Deutschland eine herausragende Rolle spielt, zeigt sich darin, dass 95% der Befragten der Meinung sind, dass türkischstämmige Kinder vor der Schule eine Kita besuchen sollen, um bei Schulbeginn gut Deutsch sprechen zu können. 91% sind der Meinung, dass die Kinder von klein auf Deutsch lernen müssen. Mehr als jeder Vierte stimmt der Forderung zu, dass alle türkischstämmigen Kinder mit Schulbeginn mehrere Stunden pro Woche zusätzlichen Deutschunterricht erhalten sollten.

Gleichzeitig wird jedoch auch der türkischen Sprache eine unverändert hohe Bedeutung zugemessen. Fast 90% sind der Meinung, dass die Kinder unbedingt Türkisch beherrschen müssen, damit sie irgendwann einmal in das Land ihrer Eltern zurückkehren können. Eine wachsende Zustimmung finden auch die Ideen, dass die Lehrer türkischstämmiger Kinder selbst die türkische Sprache beherrschen sollten, um Kindern mit Sprachschwierigkeiten helfen zu können (53%) bzw. das Unterrichten auf Türkisch in der Grundschule, damit alle Kinder dem Unterricht folgen können (48%). Die Ideen rein türkischer Schulklassen oder Schulen stoßen dagegen kaum auf Resonanz.

Diskriminierung
Viele Befragte haben bereits irgendwelche Diskriminierungen wegen ihrer Herkunft und ihres Aussehens erfahren. Allerdings hat sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahren offenbar Einiges zum Besseren geändert. Während 2010 noch 42% von Beschimpfungen in der Öffentlichkeit aufgrund ihres türkischen Aussehens berichtet haben, ist dieser Anteil jetzt auf 29% gesunken. Gesunken sind auch die erlebten Ablehnungen bei Bewerbungen um einen Arbeits‐ oder Ausbildungsplatz.

Einen tendenziellen Anstieg gibt es dagegen bei körperlichen Übergriffen, bei Beschimpfungen am Arbeitsplatz und wegen der Religionszugehörigkeit. Die Ergebnisse zeigen, dass eine aktive oder auch nur vermutete Ausgrenzung von der Teilhabe am Berufsleben offensichtlich einer der Haupttreiber für die Abwanderung qualifizierter Deutsch‐Türken in die Türkei ist, die genau diese Menschen vor dem Hintergrund ihrer schnellen wirtschaftlichen Entwicklung und des dortigen akuten Mangels an Fachkräften gern willkommen heißt. (bk)