Das Beschneidungsurteil

Sorge um das Kindeswohl oder Widerstreit zweier Lebenskonzepte?

Befürworter wie Gegner von religiösen Beschneidungen von Jungen zanken sich seit dem Bekanntwerden des umstrittenen Beschneidungsurteils über das Für und Wider – das Urteil, die Argumente, was dahintersteckt und wer jetzt am Zug ist.

Das am 7. Mai vom Kölner Landgericht zur Beschneidung von Jungen im nicht einwilligungsfähigen Alter gesprochene Urteil sorgte für viel Furore. Jetzt, nachdem sich der Pulverdampf gelegt hat, zeigt sich rechtlich und politisch ein unklares Bild; einzig Volkes Seele, die sich in einer Umfrage, 1 vor allem aber in den schier unübersehbaren Leserkommentaren im Internet artikuliert, weiß, wo es lang gehen soll.

Das Urteil
Die Argumentation des Gerichts lässt sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen:

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Daraus folgt

Im aktuellen Fall wurde der Arzt freigesprochen; er konnte sich aufgrund der unklaren Rechtslage auf einen Verbotsirrtum 2 berufen.

Zwei Welten prallen aufeinander
Wirft man einen Blick auf die Vorgeschichte der aktuellen Diskussion und die kaum überschaubare Menge von Artikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen, Kommentaren und Leserzuschriften, drängt sich der Eindruck auf, dass der Schlagabtausch um die religiöse Beschneidung von Jungen nur ein Kristallisationspunkt für den Konflikt zweier Weltsichten ist: der religiösen, die vermeintlich sinnlosen, archaischen Riten folgt und der aufgeklärten, die Freiheit und Menschenrechte hoch hält.

So sieht Navid Kermani das Urteil als Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der „[…] ein Gottesgebot nicht mehr als Hokuspokus ist und jedweder Ritus sich an dem Anspruch des aktuell herrschenden Common Sense messen lassen muss.“ Auch der Theologe und Historiker Thomas Lentes beurteilt das Urteil als das Ergebnis einer veränderten gesellschaftlichen Bewertung von „Körperzeichen und deren Legitimation“, als „[…] Teil einer Geschichte der Säkularisierung der europäischen und nordamerikanischen Welt“ mit dem Ergebnis, dass abweichenden religiösen oder traditionalen Denkweisen schlicht das Recht auf Geltung abgesprochen wird.

Dabei geht es aus Kermanis Sicht in dem Konflikt nicht um die Beschneidung, sondern um „[…] die offenkundige, auch gewollte physische Manifestation einer Andersartigkeit, die problematisiert werden muss, um sie im Gestus des pädagogischen Wohlmeinens bekämpfen zu können.“ Die Tatsache, dass auch in einer Demokratie nicht alle Lebensbereiche Mehrheitsbeschlüssen unterliegen, scheint verdrängt, dabei könne nur so ein „Absolutismus der Mehrheit“ verhindert werden (und das ist auch gut so). Kermani bemerkt zu Recht, dass Minderheiten „nervös“ werden, wenn das Recht in diesem Punkte wankt, denn damit wankt auch der Schutz vor Urteilen und Vorurteilen der Mehrheit.

Diese Überlegungen fechten Juristen nicht unbedingt an. Ein genauerer Blick auf die Auffassungen des Gutachters in diesem Konflikt – Professor Holm Putzke – dürfte also erhellend sein.

Der Ritter des Zeitgeistes im Kampf gegen blutige Rituale
Es ist bemerkenswert, wenn ein einzelner Jurist quasi im Alleingang innerhalb kurzer Zeit 3 eine über Jahrzehnte gängige Rechtsauffassung kippt und dies so viel öffentliche Resonanz erfährt.

Ein Blick auf die Webseite von Professor Putzke zeigt, dass ihm das Thema offensichtlich eine Herzensangelegenheit ist, führen doch Veröffentlichungen zur religiösen Beschneidung mit großem Abstand die Liste seiner Publikationen an. 4 Begibt man sich auf die Suche nach den Gründen für diese Faszination, zeigt sich ein ganzes Bündel von Motiven:

Demzufolge scheint ihm die Missachtung von kindlichen Grundrechten dem Judentum und dem Islam inhärent. Die Vorstellung, über strafrechtliche Verschärfungen die Integration von Minderheiten zum Erfolg zu führen und sie für Grundrechte zu sensibilisieren, bedarf keines weiteren Kommentars. Dass Putzke als Strafrechtler die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente wählt, um seiner Überzeugung Geltung zu verschaffen, kann man ihm nicht übel nehmen.

Der Zeitgeist, an dem das Recht sich orientieren soll, formuliert mit nahezu religiösem Eifer das Dogma: religiöse Regeln – vor allem die „fremder“ Religionen – können nur archaisch und freiheitsberaubend sein. Wer sich danach richtet, ist rückwärtsgewandt, es fehlt ihm an kritischer Distanz, vielleicht ist er auch mit dem Pluralismus moderner Gesellschaften überfordert. Dass es „normale“ Menschen gibt, die religiöse Gebote für zeitlos halten und ihr Leben danach ausrichten wollen, scheint undenkbar. Aber auch für diese Gruppe muss der Staat Heimstatt sein und entsprechende Freiräume aufrecht erhalten.

Keine Selbstbestimmung des religionsmündigen Kindes
Auch ein religionsmündiges Kind kann nach Putzkes Auffassung nicht rechtswirksam in eine Beschneidung einwilligen. Das sei wegen der Tragweite erst zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr anzunehmen.

Gemessen an der Tatsache, dass nach herrschendem Recht mit elterlicher Einwilligung selbst Schönheitsoperationen (von Piercings und Tätowierungen ganz abgesehen) bei Minderjährigen durchgeführt werden dürfen und ein Verbot dieser Eingriffe wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht weiterverfolgt wurde, erscheint diese Forderung emotional gefärbt und überzogen. Es erweckt den Eindruck, das Wohl des Kindes müsse nur bei religiösen Eltern von staatlicher Seite überwacht werden.

Nach dem Urteil
Nach dem Urteil reagierten zahlreiche, Krankenhäuser sowie Ärzteverbände mit der Warnung vor einer Weiterführung von Zirkumzisionen aus religiösen Gründen. In einer Mitteilung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages heißt es nach dem Hinweis auf die vorherrschende Meinung in der strafrechtlichen Literatur:

Auch das Justizministerium vertrat die Ansicht „[…] eine Beschneidung aus religiösen Gründen [sei] weiterhin einwilligungsfähig“.

Wer ist am Zug?
Nachdem die Justizministerin zunächst keine Notwendigkeit zum Handeln sah und zum – rechtlich wegen fehlender Revision nicht umsetzbaren – Jahre dauernden Gang durch die Instanzen riet, heißt es jetzt, man prüfe mit Hochdruck mögliche Vorgehensweisen.

Die Parteien verhielten sich lange auffällig still. Vielleicht lag das daran, dass Professor Putzke das Gericht nach dem Urteil lobte; es habe sich […] – anders als viele Politiker – nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden.“ Damit steht jeder Gegner des Urteils automatisch im Verdacht, den Minderheiten Sonderrechte einräumen zu wollen. Die Wähler sind für solche Thesen empfänglich, auch wenn sie jeglicher Basis entbehren.

Jetzt ist zu lesen, dass nach der Sommerpause Gespräche mit Fachleuten und Verbänden stattfinden sollen, um eine rasche Lösung zu finden und jüdisches und muslimisches religiöses Leben in Deutschland weiterhin zu ermöglichen.

Was Eltern alles im Rahmen des Kindeswohls dürfen
Niemand wird bestreiten, dass die Beschneidung eine Veränderung am kindlichen Körper ist. Daher ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit elterlicher Zustimmung berechtigt. Will man sich jedoch nicht dem Vorwurf aussetzen, lediglich religiöse Eltern reglementieren zu wollen, muss man sich vor Augen führen, welchen irreversiblen, medizinisch nicht indizierten Eingriffen Eltern zustimmen können, ohne, dass die Rechtmäßigkeit in Frage steht.

So dürfen Eltern entscheiden, ob ihr Kind

All das ist vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt und die Beurteilung der Grenzen der kindlichen Belastbarkeit liegt im Ermessen der Eltern. Darauf, „[…] dass die Eltern das Kindeswohl nicht nur beachten müssen, sondern – in den Grenzen der staatlichen Rechtsordnung – seinen genauen Inhalt selbst festlegen.“ weist Christian Walter, Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht in einem Beitrag hin. Zudem verweist er auf Artikel 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK 6, der Eltern ausdrücklich das Recht auf religiöse Erziehung ihrer Kinder – und dazu gehört nun einmal auch die Praktizierung religiöser Riten – einräumt.

Abschließend ist festzuhalten, dass, selbst wenn man die positiven hygienischen Effekte der Beschneidung außen vorlässt, kein wirklich relevanter Schaden entsteht, ebenso wenig wie beim Stechen von Ohrlöchern oder einer Impfung.

Tipp: Eine ausführliche Version der Stellungnahme mit zusätzlichen interessanten Details ist zu finden auf der Internetseite des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen in Deutschland e.V.

Eltern müssen, unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht, tagtäglich Position beziehen. Sie sozialisieren ihre Kinder anhand der Werte und Normen, die sie für maßgeblich halten. Solange diese nicht mit der Rechtsordnung kollidieren, steht ihnen genau dieses Recht zu. Die sich immer mehr verbreitende Vorstellung, dass Kinder nur dann von (negativen) elterlichen Einflüssen verschont bleiben, so lange diese die Religion außen vor lassen, ist naiv. Kein Kind wächst, gleich, ob es religiöse, agnostische, atheistische, der Religion indifferent gegenüber stehende oder sonstigen Ideologien anhängende Eltern hat, in einem Vakuum auf. Die Qualität der familiären Bindung, die Zugewandtheit oder Vernachlässigung, die Erfahrung von Armut oder das weitgehende Fehlen ökonomischer Zwänge, die Chancen auf Bildung oder die Erfahrung von Ausgrenzung sind das, was darüber entscheidet, wie ein Leben verläuft; diese Erfahrungen hängen nicht ursächlich mit der Ideologie der Eltern zusammen.

Und was denken muslimische Frauen über die Zirkumzision?
Der Islam ist – entgegen der landläufigen Meinung – eine sehr sexualfreundliche Religion. Wir definieren die Beschneidung von Jungen nicht nur als religiöse Pflicht sondern genießen auch die Vorteile der bei erwachsenen beschnittenen Männern seltener vorkommenden funktionalen Störungen, wie der Ejakulation Präcox, die eine Belastung für Partnerschaften sein kann. Zudem sehen wir die seltener vorkommenden Erkrankungen sowohl der Männer an Peniskrebs als auch der Frauen an Gebärmutterhalskrebs als positiven Effekt, der beiden Partnern nutzt. Ergänzend zur Beschneidung der Jungen sprechen wir uns daher auch für die Impfung von Mädchen gegen den Humanen Papilloma-Virus (HPV) aus.

Fazit
Die Rechtslage ist unklar, ein gangbarer Rechtsweg ist nicht in Sicht, praktizierende Juden und Muslime sind gezwungen, für die Beschneidung ihrer Söhne andere Wege zu suchen. Die Politik gibt sich zwar problembewusst, aber Schnelligkeit ist nicht zu erwarten. Umgangssprachlich nennt man eine solche Situation wohl „verschlimmbessert“. Wir sind gespannt auf die weitere Entwicklung.

  1. Lt. einer Umfrage von TNS Emnid bezeichnen 56 % der 1000 Befragten das Urteil als richtig, 35 % als falsch, 10 % haben keine Meinung dazu. Den Redaktionen scheint das nicht ausreichend, denn durchgängig wird getitelt: „Deutsche/die Mehrheit lehnen die religiöse Beschneidung ab“. Rein rechnerisch hätte es auch heißen können: „Knappe Mehrheit gegen Beschneidung“, aber man wollte wohl auch das angenommene oder vielleicht erwünschte Empfinden der Nicht-Befragten bzw. der schweigenden Mehrheit treffen. Bei einer online-Umfrage der Financial Times Deutschland sprachen sich 74 % für ein Verbot aus.
  2. § 17 StGB– Verbotsirrtum: Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.
  3. Die erste Veröffentlichung von Putzke dazu erschien im Jahr 2008.
  4. Putzke nennt auf seiner Homepage 3 Themengebiete, mit denen er sich befasst: „Religiöse Beschneidung“, „Politikberatung“ und „Lügendetektor“. Während sich bei den beiden letzteren insgesamt 4 Veröffentlichungshinweise finden, sind es beim Thema Beschneidung seit 2008 allein 20; bei 10 davon ist er namentlich genannt.
  5. So wurde der Sozialhilfeträger (Urteil von 2002) dazu verpflichtet, die Kosten einer Beschneidungsfeier analog zu denen einer Tauffeier zu übernehmen.
  6. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl. 1958/210; Art. 2: […] Der Staat hat bei der Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.