Viel Lärm um nichts?

Koran-Verteilung in deutschen Innenstädten

Die Schlagzeilen über die geplante Aktion, bei der Gratisexemplare einer deutschen Koran-Übersetzung an Passanten verteilt werden sollten, erwiesen sich am Samstag nicht nur in Norddeutschland als viel Lärm um nichts. Flop oder genialer PR-Coup?

So leidenschaftlich und zumeist oberflächlich die öffentliche Debatte war, die sich an den Schlagzeilen über die geplante Verteilung von deutschsprachigen Koranausgaben entzündete, so ernüchternd war am Samstag die Realität in vielen Fußgängerzonen – und deren Darstellung in den Medien. In über 30 Städten beabsichtigten Anhänger der Salafiya, den Koran an Passanten zu verteilen, hieß es vorab in der Berichterstattung. Die von Ibrahim Abou-Nagie geplante Aktion führte zu hitzigen und bisweilen hysterischen Diskussionen, an denen sich nicht nur offizielle und selbsternannte Verfassungsschützer, Politiker, Islamwissenschaftler und solche, die sich für Islamexperten halten, beteiligten. Die üblichen Verdächtigen verhalfen durch ihren öffentlich geäußerten Argwohn dem Initiator und seiner Aktion zu bundesweiter Beachtung. Vertreter katholischer Jugendorganisationen tauschten sich in sozialen Netzwerken darüber aus, dass den Koran-Verteilern in spe bereits vor der eigentlichen Aktion ein gigantischer PR-Coup gelungen sei, der unbedingt nachgeahmt werden solle, um mit der Bevölkerung in Kontakt treten zu können und um mediale Aufmerksamkeit zu generieren.

Diese mediale Aufmerksamkeit wurde der Aktion und den Salafisten durchaus in hohem Maße zuteil – der Kontakt zu Bevölkerung und die eigentliche Aktion, der Verteilung von Koran-Exemplaren, blieben jedoch in vielen Städten im Norden Deutschlands aus: Weder in Hamburg noch in Bremen oder Kiel wurden Koran-Übersetzungen verteilt. In Hamburg und Kiel waren eine derartige Aktion oder ein Infostand gar nicht erst angemeldet worden, wie die dortigen Polizeistellen am Samstag angaben. Die BILD-Zeitung meldete am Nachmittag, dass auch in Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, Mainz und Wiesbaden keine Aktionen stattfanden. Dennoch war im Radioprogramm des Norddeutschen Rundfunks, NDR Info, am Samstagabend die Rede von Infoständen in „rund drei Dutzend deutschen Städten“, an denen Koran-Ausgaben verteilt worden seien – dass in drei der wichtigsten Städte des Sendegebiets weit und breit keine Anhänger der Salafiya zu sehen waren, wurde vornehm unterschlagen. Stattdessen wurde aus der Fußgängerzone Hannovers berichtet, wo mehr als 800 Exemplare der Gratis-Ausgabe des Koran an Passanten verteilt worden seien.

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Die enorme Wirkung der medialen Berichterstattung im Vorfeld war am Samstag auch in der Kieler Innenstadt zu spüren: Die suchenden Blicke der Passanten in der Fußgängerzone der Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins, die sich ihren provinziellen Charakter seit Jahrhunderten liebevoll bewahrt, laufen ins Leere. „Nirgendwo Terroristen“ raunt ein älterer Herr seinem Gesprächspartner zu, die beiden wirken fast enttäuscht. Da im Mai in Schleswig-Holstein Landtagswahlen anstehen, ist die Stadt zwar reich mit Infoständen bestückt, aber es sind nur die Parteien, die um Aufmerksamkeit buhlen. Ein Mittvierzieger überreicht seiner Gattin stolz eine der gelben Rosen, die am Stand der FDP verteilt werden: „Ein Wahlkämpfer ist doch auch nur eine Art Missionar – aber diese hier verteilen wenigstens was Nützliches“, sagt er lächelnd. Die Kieler Nachrichten hatten ihren Lesern am Morgen noch empfohlen, wie mit einem Koran-Exemplar umzugehen sei, das einem angeboten werde: Dieses dürfe man keinesfalls in den nächsten Mülleimer werfen, da sich Muslime dadurch beleidigt fühlen können, vielmehr solle man das Exemplar in der nächstgelegenen Moschee abgeben. Der Gedanke, das Frei-Exemplar einfach abzulehnen, schien dem Redakteur offensichtlich ebenso abwegig wie jener, die Koran-Übersetzung zu lesen.

Auf welche diffusen Ängste und Stereotype die mediale Berichterstattung über islamistische Gruppierungen noch immer bei Teilen der „ur-deutschen“ Bevölkerung trifft, wird an den Reaktionen der Passanten auf einen Infostand am Rande des Geschehens deutlich: Eine Gruppe kurdisch-stämmiger Aktivisten verteilt Flugblätter, die über den Hungerstreik von Inhaftierten in der Türkei informieren. „Meinst du, das sind diese Extremisten, die den Koran verteilen?“ fragt eine Passantin ihre Begleitung, während sie auf die Aktivisten zeigt. Schwarze Haare, dunkler Teint, eine Frau trägt ein Kopftuch – und die Assoziation „Extremist“ steht im Raum? Dies ist eins der Resultate der so oft undifferenzierten und plakativen Berichterstattung, in der mit –ismen nur so um sich geworfen wird. Ein weiteres, in diesem Fall festzustellendes Resultat ist die erfolgreiche PR-Strategie von Ibrahim Abou-Nagie, dessen Name nun bundesweit bekannt ist. Auch das Für und Wider der kostenlosen Verteilung religiöser Schriften werden nun öffentlich diskutiert.

Am Rande der Fußgängerzone der Kieler Innenstadt stehen an diesem Samstag auch zwei Zeugen Jehovas, die den Wachtturm anbieten. Kaum einer der Passanten beachtet die beiden. Sie sehen nachdenklich aus – womöglich überlegen sie, mit welcher Aktion sie demnächst bundesweit Schlagzeilen machen könnten.