Die Absicht von Peter Holtz war zweifelsfrei eine gute: Er habe den in Deutschland lebenden Muslimen, „diesen Menschen, über die in Deutschland so viel geredet wird und mit denen so wenig geredet wird“, durch seine Arbeit eine Stimme geben wollen, schreibt der Mitautor der Untersuchung „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ in einem Gastbeitrag in der aktuellen Ausgabe des Spiegel. Wolfgang Frindte, ebenfalls einer der Autoren, bezog in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Stellung: Tragisch sei es, dass sich durch die Darstellung der Ergebnisse seiner Studie nun Sarrazin bestätigt fühle. Er und seine Mitarbeiter hätten „große Empörung, sogar Verzweiflung“ aufgrund der Schlagzeilen verspürt. An anderer Stelle war zu lesen, die Mitarbeiter der Studie seien „emotional erregt“ gewesen aufgrund der medialen Auslegung ihrer Erkenntnisse.
Was ist da passiert? Der Abschlussbericht zu den Überlegungen über ein „sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland“ – so der Untertitel des Berichts – hat seinen Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Früher als geplant, und auf anderem Wege als geplant, so die Wissenschaftler. Der zitierte Untertitel ging in der Öffentlichkeit ebenso unter wie die Zahlen, die dem schlagzeilenträchtigen „Ergebnis“ von gut 20 Prozent integrationsunwilligen Muslime, die es in Deutschland angeblich gibt, tatsächlich zugrunde liegen. Zu verlockend erschien der BILD-Zeitung die Nachricht über die „Schock-Studie“, die den medial angeheizten Argwohn mancher Bevölkerungsteile gegenüber muslimischen Mitbürgern bestätigte.
Die ersten kritischen Stimmen, die gegen die plakative Darstellung der Studienergebnisse erhoben wurden – etwa jene der Forschungsgruppe HEYMAT an der Berliner Humboldt-Universität – wurden unmittelbar nach dem Erscheinen der Studie noch einigermaßen erfolgreich abgewehrt. Inzwischen konnten sich jedoch die federführenden Mitarbeiter der mittlerweile als „Islam-Studie“ und „Muslim-Studie“ bezeichneten Untersuchung in den Medien Gehör verschaffen. Verweise auf die nicht vorhandene Repräsentativität der Studie aufgrund zu kleiner Stichproben und Fallzahlen seitens der Forscher selbst und ihrer Kritiker, Einschränkungen und inhaltliche Relativierung sind nun auch in den anerkannten Print- und Rundfunk-Medien zu lesen und zu hören.
Doch der in der kurzen Zeit angerichtete Schaden ist groß. Bei einer Thematik, die es vermag, Ängste und Vorbehalte auf der einen Seite ebenso zu schüren wie Argwohn und das Gefühl von Ablehnung auf der anderen Seite, ist nicht nur ein doppeltes Maß an Vorsicht anzusetzen. Ein mindestens zehnfaches Maß an Umsicht ist hier nötig – gerade, wenn man die beteiligten Seiten einander näher bringen will.
Wen die anfänglich mediale Verzerrung der Studien-Ergebnisse überrascht, der ist im besten Fall gutgläubig. Wer aber in besagter Studie selbst die „Darstellung von Muslimen und Nichtmuslimen in der deutschen, türkischen und arabischen Berichterstattung“ klassischer Verbreitungsmedien analysiert hat (Seite 11 der Studie) und sich trotzdem von der Instrumentalisierung seiner Aussagen überrascht gibt, der ist – bei allem Respekt – mindestens als naiv zu bezeichnen. Es ist nichts Neues, dass sich komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse in den Massenmedien schlecht verkaufen lassen und daher in eingängigen, gern provokant formulierten Schlagzeilen komprimiert widergegeben werden. Das weiß man umso genauer, wenn man zuvor die mediale Darstellung eben jener Gruppen untersucht hat, um die es bei der eigenen Forschung geht.
Wem es um die Prävention von Radikalisierungsprozessen geht, wer die „Lebenswelten“ einer Gruppe in der deutschen Bevölkerung analysieren will und das auch noch im Auftrag eines Bundesministeriums, der muss sich dem Anspruch aussetzen, in alle Richtungen zu denken, bevor er seine Wortwahl trifft und bevor er seinem Auftraggeber einen Abschlussbericht vorlegt. Denn ein Bundesministerium gibt eine Studie in Auftrag, um mit den Ergebnissen zu arbeiten – um mit ihnen Politik zu machen. Diesem Anspruch müssen sich alle stellen, die Aussagen über eine Gruppe treffen. Erst recht müssen sich jene ihrer Verantwortung bewusst sein, die einer vermeintlich nicht zu Wort kommenden Gruppe eine Stimme geben wollen.
Peter Holtz stellt in seinem Beitrag im Spiegel seine eigene Arbeit als Wissenschaftler in Frage: „Sobald man sich als Wissenschaftler auf dieses Spiel einlässt, über ‚die Muslime‘ zu reden und damit selbst diese ganzen 4.000.000 Menschen auf ein einziges Merkmal reduziert – und sei es mit guten Absichten – hat man wohl schon verloren“. Schließlich stellt Holtz sich und den Lesern die Frage „Wäre es dann besser gewesen, gar nichts zu tun und gar nichts zu sagen?“ Seine Antwort lautet „vielleicht“, da so der Beifall eines Thilo Sarrazin hätte vermieden werden können.
Die deutliche Selbstkritik, die Holtz öffentlich übt, ist ihm hoch anzurechnen und verdient Respekt. Zu hoffen ist, dass aus dem „Vielleicht“ ein deutliches „Nein“ wird: Gar nichts zu tun und gar nichts zu sagen kann und darf nicht die Erkenntnis aus dieser Erfahrung der medialen Inanspruchnahme, des medialen Missbrauchs wissenschaftlicher Arbeit sein.
Vielmehr kann diese Erfahrung Ansporn sein, die Arbeit fortzusetzen und dabei noch umsichtiger mit dem so sensiblen wie vielschichtigen Themenkomplex „Integration von Muslimen in Deutschland“ und mit allen darin vorkommenden Begriffen und Aspekten umzugehen: Definitionen von Integration, von Religiosität, von Kultur, von Zugehörigkeit, von Heimat müssen präzise und nachvollziehbar formuliert werden, die Fallzahlen sollten dem Anspruch der Gesamtthematik entsprechend hoch sein, die Bandbreite der zu beantwortenden Fragestellungen könnte eingeschränkt und in Etappen untersucht werden.
Vor allem zeigt die Erfahrung der vergangenen Tage, dass die eigenen Worte mit noch mehr Umsicht zu wählen sind und dass den einschlägigen Boulevard-Medien mit noch mehr Argwohn begegnet werden sollte – denn die wissen, was sie tun.