Studie über junge Muslime

Die Spielregeln, der Teufelskreis und die logischen Folgen der Sarrazin-Debatte

Sind Muslime integrationsunwillig – wie es Bild und Bundesinnenministerium inszenieren – oder werden sie integrationsunwillig gemacht? Die Studie über junge Muslime offenbart viel mehr als nur Zahlen, schreibt Ekrem Şenol.

Hochkarätige Wissenschaftler forschen seit Februar 2009, führen Gespräche, werten aus und fassen die Ergebnisse in der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ auf über 760 Seiten zusammen. Noch bevor die Studie das Licht der Öffentlichkeit erblickt, stoßen das Bundesinnenministerium und die Bild-Zeitung eine Diskussion an, die auf ein paar wenige unrepräsentative(!) Zahlen gestützt wird. Muslime sind integrationsunwillig, lautet der Tenor. Innerhalb weniger Tage hat es auch der Letzte im gesamten Bundesgebiet gelesen oder gehört.

Dabei ist die Studie viel umfangreicher und komplexer, als das man es auf wenige Zahlen reduzieren darf. Unter anderem gehen die Wissenschaftler der Frage nach, welche Auswirkungen Populismus à la Sarrazin auf Muslime haben. Die Wissenschaftler haben Befragungsergebnisse vor und nach der Buchveröffentlichung „Deutschland schafft sich ab“ miteinander verglichen. Und die Ergebnisse sprechen sind allarmierend.

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Am 23.8.2010 veröffentlichten der Spiegel und die Bild vorab Auszüge aus Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Noch vor der eigentlichen Veröffentlichung entzündeten sich die medialen Debatten. Am 28.8.2010 verbreiteten die Berliner Morgenpost und die Welt am Sonntag ein Interview, in dem Sarrazin erklärt: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“ Sowohl der Zentralrat der Juden in Deutschland als auch Spitzenpolitiker der im Bundestag vertretenen Parteien kritisierten Sarrazin scharf. Am 30.8.2010 stellte Sarrazin sein Buch in der Bundespressekonferenz vor. Am Abend desselben Tages ist Sarrazin zu Gast in der ARD-Sendung Beckmann. Die Sendung erreicht mit 2,18 Millionen Zuschauern die achtbeste Einschaltquote der letzten fünf Jahre. Am 31.8.2010 sind circa 40.000 Exemplare von Sarrazins Buch verkauft. Einen Tag später nimmt Sarrazin an der ARD-Sendung hart aber fair teil. Diesmal sehen 4,13 Millionen Zuschauer die Sendung. Für den Spiegel, die FAZ, Die Zeit, die Bild bis hin zu Lokalzeitungen waren Sarrazin und sein Buch über Tage und Wochen Themen mit hohem Nachrichtenwert.

Vor Sarrazins Buch gaben knapp 52 Prozent der Befragten Muslime an, die Herkunftskultur beibehalten zu wollen, nach Sarrazins Buch sind es rund 72 Prozent. Eine große Verbundenheit mit der Gemeinschaft aller Muslime fühlten 41 Prozent der Befragten vor dem Buch; nach dem Buch stieg diese Quote auf über 70 Prozent. Hierbei handelt es sich noch um zwei durchaus legitime Standpunkte.

Mit dem Sarrazin-Buch und der medialen Inszenierung stiegen bei muslimischen Jugendlichen aber auch die Vorurteile gegenüber dem Westen (33 vor bzw. 53 Prozent nach dem Sarrazin Buch). Ebenso ist laut Studie der religiöse Fanatismus von 26 auf 49 Prozent angestiegen oder der Hass gegenüber dem Umgang der westlichen Welt mit dem Islam (11 bzw. 27 Prozent). Auch die Bereitschaft, der Bedrohung der islamischen Welt durch den Westen mit Gewalt zu verteidigen, stieg von 7 auf 27 Prozent. Gleichzeitig sank die Bereitschaft, die deutsche Kultur anzunehmen von 37 auf knapp 14 Prozent.

Diese Ergebnisse bezeichnen die Autoren der Studie als „fatal“. Die Debatten hätten „nicht, wie […] in manchen deutschen Medien behauptet 1 die Diskussion um die Integration der Muslime in Deutschland weiter angeregt, sondern ihr empfindlich geschadet“. Die Autoren erinnern daran, dass es bei der Sarrazin-Diskussion vor allem um die Unterschiede zwischen muslimischer Kultur und Lebenswelt einerseits und den christlich-jüdischen Traditionen und kulturellen Werten andererseits ging. In diesem Zusammenhang hätten die „kontrovers geführten Debatten […] einen konträren und sicher von niemandem gewollten Effekt gehabt“: Muslime haben sich noch weiter aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen wahrgenommen und mit einer noch stärkeren Abgrenzung von der Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft reagiert.

Dass sich ausgerechnet Thilo Sarrazin zu Wort meldet und sich von der Studie bestätigt fühlt, ist nicht nur „tragisch“, wie es Prof. Wolfgang Frindte, Autor der Studie, bezeichnet, es offenbart auch die Spielregeln des medialen Diskurses: So lange und so oft wie möglich einreden, bis es sich bewahrheitet. Einem türkischen Sprichwort zufolge wird das Kind dumm, wenn man es ihm nur oft genug sagt. Auf die Wiederholung kommt es an. Menschen neigen dazu, Vorurteile, die sie nicht aufbrechen können, irgendwann zu bestätigen. Wieso ein Thilo Sarrazin auf diesen Teufelskreis setzt, ist offensichtlich: Er möchte sein Buch verkaufen. Wieso spielt aber ein Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) mit?

  1. vgl. zum Beispiel die Integrationsbeauftragte der Bundesrepublik, Maria Böhmer, in Bild am 1.4.2011; Die Zeit, 2010b; Kulturbuchtipps, 2011; Phoenix, 2011