Nationaler Aktionsplan Integration

Wie Maria Böhmer Familiensprachen diskreditiert

„Es ist von erheblicher Bedeutung, ob die Umgangssprache in der Familie Deutsch ist.“ Mit diesen Worten nahm Staatsministerin Maria Böhmer beim 5. Integrationsgipfel Migranteneltern in die Pflicht. Damit diskreditiert sie aber auch deren Familiensprachen, schreibt Maria Ringler.

In ihrer Presseerklärung vom 31. Januar 2012 zum Nationalen Aktionsplan Integration betont Staatsministerin Maria Böhmer im Hinblick auf Sprachförderung die „… erhebliche Bedeutung, ob die Umgangssprache in der Familie Deutsch ist.“ Was verbirgt sich hinter diesem auf den ersten Blick harmlosen Satz? Sollen Eltern zuerst Deutsch lernen, bevor sie mit ihren Kindern sprechen? Haben andere Familiensprachen weniger Wert als Deutsch?

Im Verband binationaler Familien und Partnerschaften haben wir langjährige Erfahrung im Umgang mit Mehrsprachigkeit. Kinder aus binationalen und mehrsprachigen Familien erleben Mehrsprachigkeit als Normalität: Sie sprechen zuhause in einer gemeinsamen Familiensprache, die nicht Deutsch ist, oder sie sprechen mit Vater und Mutter unterschiedliche Sprachen. Es gibt viele Modelle mehrsprachigen Aufwachsens.

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Für zwei- und mehrsprachig aufwachsende Kinder verdeutlichen die Sprachen unterschiedliche Denk- und Verhaltensmuster, erschließen innere Bilder und bündeln kulturelle Traditionen. Die mit den Sprachen vermittelten Werthorizonte prägen die Entwicklung der Kinder und sind Teil ihrer Identitätsbildung. Die Sprachen ermöglichen ihnen den Zugang zur eigenen Familie und Familiengeschichte und bilden somit auch die Grundlage für Zugehörigkeit und Akzeptanz.

Mehrsprachige Menschen sammeln Erfahrungen in mehreren Sprachwelten, sie haben potenziell einen größeren Kreis von Menschen, mit denen sie kommunizieren können. Bereits mehrsprachig aufgewachsenen Menschen fällt es auch später leichter, noch weitere Sprachen zu lernen.

Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die Vermutung, dass Mehrsprachige früher und wirkungsvoller als Einsprachige für soziale Flexibilität disponiert sind: Sie pflegen einen selbstverständlichen Umgang mit den zufällig gesetzten Sprachregeln, sie stellen sich früh auf Sprachgewohnheiten anderer ein und können daher oft früher begreifen, was in anderen Köpfen anders vorgehen kann als im eigenen.

Doch zwei- oder mehrsprachig leben in einer sich einsprachig verstehenden Welt ist eine Herausforderung, das wissen viele aus eigener Erfahrung. Dies zeigt mal wieder die Aussage von Staatsministerin Maria Böhmer, die gerne die Bedeutung der deutschen Sprache so betont.

Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt und den ihrer Kinder in Deutschland sehen, wissen um die Bedeutung der Sprachkenntnisse im Deutschen für den Bildungserfolg, für die gesellschaftliche Beteiligung und das Alltagsleben. Das wird von niemand Frage gestellt. Aber muss damit einhergehen, die mitgebrachten Sprachen zu vernachlässigen?

Mehrsprachigkeit, sozusagen die Muttersprache von Kindern, die mit zwei oder mehr Sprachen groß werden, ist Realität in deutschen Kindergärten und Schulen. In Großstädten sind diese Kinder bereits die Mehrheit. Hier ist die Aufgabe der Bildungseinrichtungen, die Kinder da abzuholen, wo sie stehen, also auch mit ihren nicht deutschen Familiensprachen. Frau Staatsministerin Böhmer schiebt hier wieder den Eltern die Verantwortung zu – sie sollten doch besser mit ihren Kindern auch zuhause Deutsch sprechen. Welch eine Verschwendung, das Potenzial der Mehrsprachigkeit im Bildungsbereich nicht stärker aufzugreifen und zu fördern!

Auf zahlreichen Fachtagungen, bei runden Tischen und auch im Dialogforum „Frühkindliche Bildung“ des Nationalen Aktionsplanes für Integration haben Expertinnen aus Wissenschaft und Gesellschaft, mit und ohne Migrationshintergrund, die Chancen mehrsprachigen Aufwachsens immer wieder deutlich gemacht und sich dafür eingesetzt, dass wissenschaftlich erwiesene Kenntnisse Berücksichtigung finden.

Entsprechend heißt es im Text des Dialogforums zum Aspekt Sprache: „Der Förderung der Sprachentwicklung (…) von Anfang an, insbesondere der Muttersprache und der deutschen Sprache, kommt eine Schlüsselrolle zu.“ Die Förderung der Muttersprachen steht also nicht im Gegensatz zur Förderung der deutschen Sprache, entscheidend ist ein sowohl – als auch.

Hinter diese Erkenntnisse fällt Frau Staatsministerin Böhmer in ihrer Presseerklärung zum 5. Integrationsgipfel zurück. Sie suggeriert, dass Eltern ihre Mitwirkung bei der Integration verweigern, wenn sie mit ihren Kindern in anderen Sprachen sprechen. Dagegen haben Sprachwissenschaftler nachgewiesen, dass der kindliche Spracherwerb vor allem durch viel Kommunikation in einer positiven emotionalen Beziehung unterstützt wird. Wie soll dies in einer „verordneten Sprache“ gelingen?

Und was ist mit dem Recht auf die eigene Muttersprache? Die UN Kinderrechtskonvention formuliert in Artikel 29 das Recht von Kindern auf ihre Muttersprachen unmissverständlich: „Die Bildung des Kindes muss darauf gerichtet sein … dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, – und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln.

Auch die Bundesregierung sollte sich dem verpflichtet fühlen.