NSU-Terror

„Ein Tiefpunkt in der rassistischen Dauerkrise“

Für den Politologen und Buchautor Kien Nghi Ha deutet das behördliche Versagen in der NSU-Mordserie auf einen verwurzelten Rassismus hin: „Die übermäßige Toleranz gegenüber rechtsextremer Politik und Gewalt hat eine lange Tradition in Deutschland“, sagt er im Gespräch mit MiGAZIN.

Von Donnerstag, 22.12.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 10.01.2012, 7:31 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Johnny Van Hove: Während in Sachsen und Thüringen viele antifaschistische Initiativen mit den modernsten Ermittlungsverfahren erfasst werden, durfte die Neonazi-Szene dort ungestört untertauchen, Banken überfallen und Attentate planen. Was sagt das über den Umgang deutscher Sicherheitsbehörden mit den Ermittlungen gegen Neonazis aus?

Kien Nghi Ha: Sicherlich kann man fachliche Inkompetenz, behördliche Desorganisation und andere unglaubliche Fehler im Detail nicht ausschließen. Aber mit Pleiten, Pech und Pannen kann man die Mordserie – wie es zahlreiche Massenmedien tun – schon längst nicht mehr erklären.

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Wie erklären Sie sich das behördliche Versagen?

Zur Person: Kien Nghi Ha, geb. in Hanoi, ist promovierter Kultur- und Politikwissen- schaftler. Er ist Fellow des Instituts für postkoloniale und transkulturelle Studien (INPUTS) der Universität Bremen. Seine Forschungs- schwerpunkte sind postkoloni- ale Kritik, Rassismus, Migration und Asian Diasporic Studies. Sein Buch Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen „Rassen- bastarde“ (transcript 2010) wurde im Juni mit dem Augs- burger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2011 ausgezeichnet. Weitere Buchveröffentlichungen sind u.a.: Ethnizität und Migration Reloaded (1999/2004), Vietnam Revisited (2005) und re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Co-Hg. 2007). Es ist Herausgeber des Buches Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond (Frühjahr 2012) im Verlag Assoziation A.

Nghi Ha: In Deutschland hat die übermäßige Toleranz gegenüber rechtsextremer Politik und Gewalt nicht nur wiederkehrende Konjunkturphasen, sondern auch eine lange Tradition. Die oftmals wenig rühmliche Rolle staatstragender Organisationen und Regierungen im wilhelminischen Kolonialkaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Nazi-Diktatur, aber auch im geteilten und wiedervereinten Deutschland deuten in ihrer kontinuierlichen Fortschreibung auf ein strukturelles Problemfeld hin. Ich denke, dass wir diese Frage nur dann sinnvoll diskutieren können, wenn wir die tagespolitische Ebene verlassen und uns mit den Strukturen der deutschen Gesellschaftsgeschichte auseinandersetzen.

Nur allzu gern. Welche strukturellen Elemente begünstigten Ihrer Meinung nach den braunen Terror?

Kien Nghi Ha: Besonders die Ideologie und Macht der nationalen Identitätsform gilt es meines Erachtens zu berücksichtigen. Wir können den subtilen oder offenen Ethnozentrismus der Institutionen nicht verstehen, wenn wir die Jahrhunderte des rassistischen Nationalismus, der europäischen Kolonialerfahrung und die Rassifizierung deutscher Identität aus der Analyse ausklammern. Denn diese historische Machtmatrix beeinflusst – willentlich oder unbewusst, wahrgenommen oder verdrängt – sowohl die politischen Horizonte der NSU, das jetzige Verhalten der Staatsapparate und ihrer Mitglieder, die medialen Reaktionen als auch unsere unterschiedliche politische Betroffenheit und Anteilnahme.

Wie hat die „Rassifizierung der deutschen Identität“ – wie Sie es eben nannten – genau den Weg für die NSU-Mordserie geebnet?

Kien Nghi Ha: Die Opfer der NSU wurden umgebracht, weil die Betroffenen nicht in das vorgegebene rassifizierte Identitätsbild der Nation hineinpassen. Die fixe Idee der Verteidigung der Nation und ihrer Identität vor dem rassistisch definierten Fremden hat sich dabei als ein wirksames ideologisches Fundament erwiesen, das die politische Mitte mit rechtsextremen und zu einem geringeren Ausmaß sogar mit linksnationalistischen Kräften verbindet. Durch den Ausschluss aus dem kollektiven Selbstbild und den demokratischen Institutionen werden bestimmte migrantische Gruppen als Ziel rassistischer Angriffe kulturell produziert und als politisch verhandelbares Diskriminierungsangebot konstituiert, um soziale Konflikte zu regulieren und die Widersprüche der nationalen Identität auf rassistisch marginalisierte Gruppen zu projizieren. Ein Effekt der Ausgrenzung zeigt sich unter anderem in der spezifischen politischen Blindheit der staatlichen Institutionen gegenüber rassistischen, islamophoben und antiziganistischen Bedrohungen und Erfahrungen. All das ist zweifellos ein komplexes und nicht nur auf Deutschland beschränktes Problem, obwohl ihre kulturellen und politischen Ausdrucksformen mit der Entfaltung des ihr innewohnenden Gewaltpotenzials durchaus länderspezifische Züge trägt.

Warum werden gerade türkischstämmige Bürger häufig Opfer rassistischer Gewalt und staatlicher Gleichgültigkeit?

„Der Rassismus bei der Polizei darf nicht länger als persönliches Fehlverhalten oder bedauerliche Ausnahmen verharmlost oder verdrängt werden, sondern muss als institutionelles Problem ernst genommen werden. Aber der zuständige Bundesinnenminister ist allem Anschein nach vor allem um das öffentliche Ansehen der Sicherheitskräfte besorgt und übt sich in Schadensbegrenzung…“

Kien Nghi Ha: Die NSU-Ereignisse stehen im Einklang mit den historischen Diskriminierungserfahrungen türkischstämmiger Migranten. Ebenso wie neo-nazistische Gruppierungen teilt auch ein bedeutsamer Anteil der deutschen “Durchschnittsbevölkerung” die Vorstellung, dass muslimische Migranten die gesellschaftliche Zugehörigkeit zur Gesellschaft aufgrund vermeintlich vorgegebener biologischer oder kultureller Kriterien verweigert werden soll. Die nicht länger zu verleugnende Ankunft der grenzüberschreitenden Migrationsrealität wird von vielen weißen Deutschen als ein umwälzender Eingriff in ihre Normalitätsvorstellung erfahren und als bedrohlich für die eigene soziale Stellung wie für das eigene Weltbild wahrgenommen. Auch die zunehmende Sichtbarkeit und das neue Selbstbewusstsein der zweiten und dritten Generation, die nicht länger akzeptiert, dass sie an den unsichtbaren und vernachlässigten Rand der Gesellschaft gedrängt werden, erscheint für viele weiße Deutsche bedrohlich.

Gibt es aus wissenschaftlicher Perspektive konkrete Anzeichen dafür, dass die deutschen Behörden im Allgemeinen, und die Sicherheitskräfte im Besonderen, ein Rassismus-Problem haben?

Kien Nghi Ha: Mehrere Studien aus dem Bereich der Rechtsextremismus- und Wahlforschung haben darauf hingewiesen, dass gerade Polizisten und Beamte überdurchschnittlich stark rechtsextreme Parteien wählen und mit ihrer autoritären, rassistischen und extrem nationalistischen Ideologie sympathisieren. Allerdings sind Polizisten beruflich besonders belastet, da sie fragwürdige Gesetze etwa in Form von Kontrollen und Verhaftungen auf Basis von „racial profiling“ oder das menschenrechtlich bedenkliche Abschiebungssystem in die Praxis umsetzen und sich damit identifizieren müssen. Der Rassismus bei der Polizei darf nicht länger als persönliches Fehlverhalten oder bedauerliche Ausnahmen verharmlost oder verdrängt werden, sondern muss als institutionelles Problem ernst genommen werden. Aber der zuständige Bundesinnenminister ist allem Anschein nach vor allem um das öffentliche Ansehen der Sicherheitskräfte besorgt und übt sich in Schadensbegrenzung, wozu auch die Relativierung und Verharmlosung der Tragweite dieses Problems gehört. Aktuell Interview

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  1. Pingback: Deutschland zeigt sich „institutionell rassifiziert“ « BlogIG – Migrationsblog der InitiativGruppe

  2. Mathis sagt:

    Bislang war mir nicht bekannt, dass es eine deutsche Spezialität sei, sich über die „Nation“ zu definieren.
    Das Land, das der Autor beschreibt, kenne ich nicht.
    Sollte es sich einmal in der beschriebenen Weise entwickeln, packe ich meine Koffer und gehe ins Exil!
    Ich schätze aber , ich kann bleiben.

  3. Pragmatikerin sagt:

    Was ist eine Nation, Welche Aufgaben hat eine Nation, Was ist das?

    Die Deutsche Nation ist eine im Lauf der Geschichte zusammengewachsene Gemeinschaft von
    Menschen mit gleicher Sprache, gleicher Kultur, gemeinsamen Sitten und Bräuchen.
    In der Regel bewohnt so eine zusammengewachsene Gemeinschaft (eine Nation) ein gemeinsames Territorium, auf dem diese
    einen Staat bildet, um in der internationalen Völkergemeinschaft (die nicht immer aus Nationen besteht) nach außen, gegenüber anderen Staaten, vertreten zu sein.

    Nach innen hat der Staat (die Nation) die Aufgabe,das friedliche Zusammenleben und die Grundrechte der Angehörigen der Gemeinschaft der Menschen, zu gewährleisten.

    Pragmatikerin

  4. Hans sagt:

    Hervorragende und scharfsinnige Analyse von Herrn Ha, leider etwas pessimistisch, ich fürchte aber, er könnte recht behalten…

  5. Mika sagt:

    recht hat er….und bringt es genau auf den Punkt!

  6. Ilken sagt:

    Ich danke Herrn Ha ebenfalls sehr für diese Analyse unserer Zustände.
    Zur „Nation“: Ich kriege Zustände, wenn mein Schwarzer Freund immer und immer wieder gefragt wird, wie das denn ginge, Schwarzer Deutscher zu sein. Das schließe sich doch (irgendwie) aus… Dabei sind die weißen Fragenden und Urteilenden völlig unbewusst und absichtslos und wohlmeinend dabei, ihn auszuschließen, aus der gefühlten Nation hinaus zu komplimentieren. Wenn dann mal die Nazis oder die ihn extra kontrollierenden Polizisten „etwas derber“ nachfragen, ihn verdächtigen und …, dann soll er mal nicht so empfindlich sein. Deutsche Zustände zum Zustände kriegen.

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  8. Migrantin sagt:

    Herzlichen Dank für die Veröffentlichung dieses brillianten Beitrags! Ich lebe als Deutschtürkin seit einigen Monaten in den USA und verfolge die Ereignisse in Deutschland jetzt von hier aus. Mit entsprechendem Abstand ist die Verhaltenheit der gesamtgesellschaftlichen Reaktion auf die Morde sowie die Leugung eines etablierten Rassismus noch viel unverständlicher. Ich habe den Eindruck, dass in den USA offener über Rassismus diskutiert wird. Das beseitgt das Problem hier sicherlich nicht, schärft aber zumindest das Bewusstsein dafür. In Deutschland werden Opfer von Rassismus im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen. Auf Migrantenseite befindet man sich in einer Tabu-Falle: Man darf sich nicht über Rassismus beschweren, kann sich damit nicht dagegen wehren und wenn man es doch tut, wird man wiederum Zielobjekt von Anfeindungen. Wenn Migranten die Qualifikation abgesprochen wird, rassistische Entwicklungen zu melden – wer soll es dann tun? No way out.

  9. marcs sagt:

    @mathis Merkwürdigerweise enspricht ihre polemische Stellungnahme mit unter den Ergebnissen Na’s Analyse. Empirische Studien lassen sich nicht durch makaber wirkende Kommentare entkräften.

    Der Versuch seiner nationalen Identität Herr zu werden und diese gegen jede radikale Forderung oder Praxis zu verteidigen, zeigt völkische bzw nationalistische Tendenzen, was wie von Na beschrieben als Normalzustand kategorisiert und als gesellschaftliches Ab- und Vorbild fungiert.

    ..so zeigt sich oft, das Geschehenes von einem Großteil der Gesellschaft relativiert, die Opfer sowie Täterrolle verzerrt und das Problem und damit die Betroffenen marginalisiert oder gar exklusiert werden.

    Deutsche Bürger sehen sich gerne und vorallem in alljährlichen Ritualen als Opfer – im ernstfall wird sich für die Ignoranz oder das Vergessen entschieden. Ob nun aus rechtsradikalen Kreisen oder der „bürgerlichen Mitte“, es resultiert aus strukturellen Problemen – beide bedienen sich des gleichen Fundaments – der Nationalen Identität und seiner Souveränität.

  10. delphin sagt:

    Hallo Migrantin,

    Deutschtürken haben in den USA für gewöhnlich keine besondere Aufmerksamkeit was Integrationsmangel, Kriminalität und dergleichen angeht. Dafür gibt es a) zu wenige dort und b) sind die, die dort sind, meistens Akademiker und zumindest hochqualifiziert. Reden Sie mal mit Schwarzen oder Mexikanern in den Südstaaten. Dann reden wir weiter.