Schulversuch in Wolfsburg

„Italienisch ist eines meiner Lieblingsfächer …“

Wolfsburg ist die italienischste Stadt Deutschlands – nirgendwo sonst ist der Anteil der Italiener an der Bevölkerung so groß wie hier. Bis Anfang der 90er Jahre landeten die Kinder der einst als Gastarbeiter in die VW-Stadt geholten Menschen doppelt so häufig auf der Sonderschule wie deutsche Kinder. Seit der Gründung der ersten deutsch-italienischen Gesamtschule Leonardo da Vinci hat sich einiges verändert.

Italienischunterricht in der 3. Klasse. Zehn Mädchen und drei Jungen stehen zusammen mit ihrer Lehrerin Liliana Mezzapelle im Kreis. Alle haben eine Hand am Ohr. Sie spielen ein Telefonat nach, das sie bereits als Text gelesen haben. Die Lehrerin spricht immer kurze Sätze auf Italienisch vor und die Schüler sprechen im Chor nach. Dabei ahmen sie Lautstärke, Betonung und Gestik nach. Zwischendurch baut Mezzapelle kleine Fehler ein. Dann rufen die Schüler mit lauter Stimme „Stopp“, z. B. wenn statt eines Ferrari plötzlich ein Volkswagen auftaucht. Dabei wird viel gelacht – allen gefällt es sichtbar, ein imaginäres Telefonat zu führen, sich dabei zu bewegen und immer wieder lustige Fehler zu entdecken.

„Die Sprache hört sich schön an“
Danach setzen sie sich an ihre Gruppentische und lesen mit verteilten Rollen eine Geschichte, in der es um eine deutsch-italienische Familie geht. Da gibt es Dialoge wie „Mutti, was heißt ‚Pasqua‘ auf Deutsch?“ La mamma risponde. „‚Pasqua‘, in tedesco, si dice ‚Ostern‘.“ Danach können die Schüler in Einzelarbeit Fragen zur Geschichte beantworten, in dem sie z. B. mit einem Puzzle ihren Wortschatz überprüfen. So lernt auch die neunjährige Greta neue Ausdrücke kennen. Sie gehört zur einen Hälfte der Klasse, deren Muttersprache nicht Italienisch ist. „Das meiste in der Stunde habe ich verstanden. Italienisch ist eines meiner Lieblingsfächer, denn die Sprache hört sich schön an und der Unterricht macht Spaß.“

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Für Italienisch wird die eigentlich doppelt so große Gruppe geteilt. Das ist möglich, weil in jeder Grundschulklasse zwei Klassenlehrer unterrichten. Der Vorsprung der Muttersprachler ist in den Augen von Mezzapelle nicht so gravierend: „In vielen italienischen Familien reden die Eltern italienisch und die Kinder antworten auf Deutsch. Zudem stammen viele Eltern aus Sizilien und haben einen starken Dialekt. Das Sizilianische ist in etwa so weit entfernt von der Hochsprache wie das Bayerische vom Deutschen.“

Kompakt: Durch die Gründung der einzigen deutsch-italienischen Gesamtschule haben sich in Wolfsburg die Schulabschlüsse von Kindern italienischer Eltern deutlich verbessert. Die schlechteren Leistungen italienischer Kinder an der IGS Leonardo da Vinci führt eine Studie auf die höheren Bildungsabschlüsse der Eltern der deutschen Kinder zurück.

Die soziale Herkunft entscheidet
Bis Anfang der 90er Jahre landeten Kinder von italienischen Familien in Wolfsburg doppelt so häufig auf Sonderschulen und Hauptschulen wie deutsche Kinder. Nicht weil sie dumm waren, sondern weil es keine sprachliche Förderung gab. Durch die Gründung der Integrierten Gesamtschule Leonardo da Vinci im Jahre 1993 sollte sich das ändern. Zu ihr gehört eine Grundschule. Die Schüler werden also von der 1. bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichtet. Und zwar zweisprachig – ab der 1. Klasse gibt es das Fach Italienisch für alle Schüler. Heute stammen etwa jeweils ein Drittel der Erstklässler aus deutschen, deutsch-italienischen und italienischen Familien. „Deutschlandweit schaffen vier Prozent der italienischen Schüler das Abitur, in Wolfsburg sind es dank der IGS 17 Prozent“, sagt Paolo Brullo, Vorsitzender eines Beirats, der die Interessen der 5 000 in Wolfsburg lebenden Italiener vertritt. Zurückstufungen auf die Förderschule und Abbrecher, die die IGS ohne Abschluss verlassen, gibt es fast keine.

Bis vor kurzem war die IGS Leonardo da Vinci ein Schulversuch, der wissenschaftlich von der TU Dresden begleitet wurde. In ihrer Studie stellen die Erziehungswissenschaftler Uwe Sandfuchs und Clemens Zumhasch fest, dass die deutschen Schüler deutlich bessere Kompetenzen in Deutsch und Mathematik entwickeln als ihre italienischen Altersgenossen und auch bessere Noten erzielen. Die Schüler mit je einem deutschen und einem italienischen Elternteil liegen in der Mitte.

Entscheidend ist für die Forscher die soziale Herkunft der Kinder: Während bei den deutschen Eltern höhere Bildungsabschlüsse dominieren, stammen die meisten italienischen Schüler aus Arbeiterfamilien. Dennoch äußern sich letztere noch etwas positiver über ihre Schulzeit als deutsche Schüler – für viele italienische Schüler erhöht sich die allgemeine Lernbereitschaft durch gute Leistungen im Italienischunterricht. Ein Erfolg, den sie an anderen Schulen nicht hätten. Voraussetzung für die insgesamt positiven Ergebnisse an der IGS sind laut Studie die gleichberechtigte Vermittlung beider Sprachen und Kulturen u. a. durch Doppelbesetzungen im bilingualen Fach Sachkunde bzw. später Gesellschaftslehre, das von je einem deutschen und italienischen Lehrer unterrichtet wird.

Zum kommenden Jahr sind zwei neue 1. Klassen für die deutsch-italienische IGS angemeldet. Dabei muss vor allem um interessierte italienische Eltern geworben werden. „Bei ihnen steht das Gymnasium wie auch die katholische Schule in Wolfsburg hoch im Kurs. Die Empfehlung durch andere Eltern ist wichtig. Lange gab es zudem die Auffassung, dass die Kinder besser zurechtkommen, wenn sie ausschließlich Deutsch sprechen“, sagt Schulleiterin Dorothea Frenzel.

Ein spannendes Experiment
Auch nach Ende des Schulversuchs bleibt die IGS Leonardo da Vinci ein spannendes Experiment, denn hier stoßen unterschiedliche Erfahrungen, Vorstellungen und Mentalitäten aufeinander. Die aus Italien kommenden Lehrer, die für einige Jahre vom italienischen Staat nach Wolfsburg abgeordnet werden, müssen sich an ein neues Schulsystem und an eine andere Stellung gewöhnen. „In Deutschland müssen Lehrer sehr viel mehr arbeiten, sich stärker auf die Schüler einstellen und sich ihren Respekt erst verdienen“, sagt die IGS-Italienischlehrerin Milena Hienz de Albentiis. Italienische Väter und Mütter legen viel Wert auf Disziplin im Unterricht und stoßen sich an in ihren Augen schlecht gekleideten Pädagogen. Das spielt für die meisten deutschen Eltern keine große Rolle. Sie schicken ihre Kinder an die IGS, weil sie den gemeinsamen Unterricht in einer festen Gruppe über eine lange Zeit begrüßen, während es italienischen Eltern vor allem darum geht, dass ihr Nachwuchs Hochitalienisch lernt, mehr über die eigene Kultur erfährt und seine Bildungschancen vergrößert.

„Wir nähern uns langsam an. Für nicht wenige Italiener sind die über die Schule entstandenen Kontakte zu deutschen Eltern die einzige Verbindung zu Deutschen überhaupt“, so Schulelternvertreterin Monika Türke. Zumindest beim favorisierten Urlaubsziel in den Sommerferien besteht bei beiden Gruppen große Einigkeit: Italien.