Zwangsverheiratungen

Wider der Vereinfachung

Was hat die öffentliche Debatte über Zwangsverheiratungen verändert – in der Politik, in den Medien, in der Gesellschaft, im Leben der Opfer? Was ändert die aktuelle Studie des Bundesfamilienministeriums? Meltem Kulaçatan kommt zu einem nüchternen Ergebnis.

Vor rund einer Woche präsentierten die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer die Ergebnisse der Studie zur Zwangsverheiratung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

In dieser Studie wurden 1445 Beratungsstellen angeschrieben. 830 Beratungsstellen haben die Fragebögen beantwortet. Den Antworten zufolge stammen 83,4 % der Opfer von Zwangsehen aus muslimischen Familien. Aufgrund dieses Ergebnisses erklärte die Bundesfamilienministerin den kausalen Zusammenhang zwischen dem Islam und der Praktik der Zwangsverheiratung. Sprich, Schröder schlussfolgert aus der Religion die Legitimation für die grobe Menschenrechtsverletzung zu der Zwangsverheiratungen zählen. Böhmer sieht in den Sprachtests vor dem Nachzug des Ehepartners eine effektive Möglichkeit, Zwangsverheiratungen einzudämmen und marginalisierte Frauen wie Migrantinnen zu schützen. Die Bundesfamilienministerin erwägt aufgrund der Studienergebnisse die Errichtung einer telefonischen Hotline, um betroffenen Mädchen und Frauen zu helfen.

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Die mediale Aufbereitung und Bewertung der aktuellen Meldung erinnert an die Diskussionen und Debatten der Jahre 2005 und 2006 bis 2007 als Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde, jedoch auch arrangierte Eheanbahnungen, die oftmals mit Zwangsehen gleichgesetzt werden, im Fokus der Medien standen. Auslöser für die medialen Debatten und der daraus folgenden Diskurse in Deutschland waren der Mord an der Türkeistämmigen Deutsch-Kurdin Aynur Hatun Sürücü im Februar 2005, die auf offener Strasse von ihrem Bruder in Berlin erschossen wurde, sowie autobiographische Romane von Türkeistämmigen Autorinnen. Die Phänomene häuslicher Gewalt in muslimischen Migrantenfamilien, Ehrenmorde und Zwangsehen wurden zum festen Bestandteil der medialen Öffentlichkeit. Politische Konsequenzen blieben infolge dessen nicht aus: Im „Leitfaden“ für Muslime in Baden-Württemberg, auch „Gesinnungstest“ genannt, mussten Einbürgerungswillige beispielsweise Fragen zur Homosexualität und der Erziehung von Mädchen respektive Töchtern beantworten.

Der damalige Familien- und Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen Armin Laschet (CDU) führte eine bundesweite Postkartenkampagne ein, um auf die Gewaltproblematik und die Situation der betroffenen und potenziell betroffenen jungen Mädchen aufmerksam zu machen. Die auflagenstarke türkischsprachige Tageszeitung Hürriyet etablierte ihre in der Türkei bereits seit Jahren erfolgreich laufende Kampagne „Aile içi şiddete son“ im Jahr 2005 auch in Deutschland, nachdem sie einen Kurswechsel in der Berichterstattung in ihren Europaseiten vorgenommen hatte. Auch die türkischsprachigen Zeitungen Sabah und Zaman nahmen und nehmen sich der Berichterstattungen über Zwangsehen, Ehrenmorde und innerhäuslicher Gewalt an. Gemeinsam ist den türkischsprachigen Zeitungen, dass sie eine Entkoppelung der medialen Diskursverschränkungen von Islam, türkischer Herkunft und Zwangsehen sowie Ehrenmorden herstellen und die Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen und Mädchen im Herkunftsland Türkei richten. Allerdings liegt der Schwerpunkt im Mutterland auf den Ehrenmorden, der Gewalt gegen Frauen und ihrer Tötung in Partnerschaften sowie auf Zwangsverheiratungen von Mädchen im Kindes- und Jugendlichenalter wie in der aktuellen Arbeit der Frauenorganisation „Uçan Süpürge“ zu sehen ist.

In der Wissenschaftsliteratur wurden Untersuchungen zur Lebenswirklichkeit von jungen Mädchen mit Migrationserfahrungen vorgestellt (Karakaşoğlu/Boos-Nünning, 2005; Subaşı-Piltz, 2008) sowie der Versuch der Abgrenzungen zwischen arrangierten Ehen und Zwangsehen vorgenommen (Straßburger, 2006; Strasser, 2007; Sütçü 2009; Toprak, 2005). Zudem sind Publikationen und Artikel von Frauenporträts türkischer und Türkeistämmiger Herkunft in Deutschland vorgestellt worden, um real existierende Gegenentwürfe zu medialen Stereotypen aufzuzeigen (Akyün, 2005; Sezgin, 2006).

Der Diskurs über Zwangsehen ist seither stark von einer bestimmten Konstante geprägt: Anhand der in die öffentliche Sichtbarkeit gerückten Frauen und Mädchen werden Misstände und Versäumnisse in der Integrationspolitik zu Lasten der MigrantInnen ausgetragen. Erst ab dem Jahrtausendwechsel begriff sich Deutschland jedoch zumindest in seinem politischen Verständnis als Einwanderungsland. Dies geschieht zuweilen immer noch zögerlich und erinnert in der Tat an eine „Zwangsehe.“ Zuvor hat es in den Jahren seit den Anwerbeabkommen bis über das Ende der Kohl-Regierung hinaus keine Integrationspolitik gegeben. Die Diskussionen um Deutschland als Einwanderungsland entstanden unter der wirtschaftlichen Dringlichkeit des Fachkräftemangels während der rot-grünen Regierung mit der Diskussion um die Green-Card in Deutschland. Was bedeuten jedoch die aktuellen Schlussfolgerungen aus der Studie des Bundesfamilienministeriums? Die psychischen, physischen, direkten und institutionellen Gewaltformen in der hiesigen Gesellschaft, welche die Frauen und Mädchen erfahren, werden zur Problematik der marginalisierten „Anderen“ stilisiert. Noch schlechter sieht es hier für junge Männer und homosexuelle junge Männer mit Migrationserfahrung aus, weil sie keine Lobby besitzen, wenn es um das Phänomen der häuslichen Gewalt geht und weil ihre Gewaltproblematiken weder in das Stereotyp des „Muslim-Machos“ passen noch in das dominante Männerbild, das keine Opferrolle vorsieht. Die Gewalterfahrungen der marginalisierten MigrantInnen werden wiederum nicht mit den die Gewalt begünstigenden Voraussetzungen – seien sie unmittelbar oder mittelbar – in den kausalen Zusammenhang gebracht.

Dabei entsteht und dominiert ein kulturessentialistischer Diskurs, der nicht-westliche Kulturen als Ganze verurteilt und eben nicht die jeweiligen einzelnen kulturellen Praktiken (Sauer, 2009; Saharso, 2009). Eine Möglichkeit, die kulturessentialistischen Perspektiven zu vermeiden, um tatsächlliche politische Lösungsansätze zu leisten, wären die Neubewertung des theoretischen sowie politischen Diskurses über Zwangsehen und Ehrenmorde, mit Hilfe des intersektionellen Gewaltbegriffs (Sauer, 2009). Die Aufmerksamkeit des intersektionellen Gewaltbegriffs beruht auf den Herrschaftsstrukturen der Mehrheitsgesellschaft. Das bedeutet, dass bestimmte Praxen der Mehrheitsgesellschaft die Verletzungsoffenheit (Popitz, 2004) von MigrantInnen erhöht.

Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland illustriert die Notwendigkeit dieses Ansatzes: Einerseits haben Ofper von Zwangsehen nunmehr das Recht bis zu zehn Jahren „nach Wegfall der Zwangslage“ nach Deutschland zurückzukehren, was vormals bereits nach dem Ablauf von sechs Monaten erlosch und die Menschen vor größtmögliche Schwierigkeiten stellte. Andererseits erhöhte die Regierungskoalition im selben Zusammenhang die Frist der Erlangung der Aufenthaltserlaubnis von zwei Jahren auf drei Jahre. Bisher erhielten ausländische EhepartnerInnen die Aufenthaltserlaubnis unabhängig vom Partner nach zwei Jahren. Das geht zum Nachteil der bereits marginalisierten Frauen, die sich vor allem erst dann aus einer Zwangsehe scheiden lassen können, wenn ihnen das eigene Aufenthaltsrecht zusteht (Löhr, 2011). Weitere Aspekte innerhalb des intersektionellen Gewaltbegriffs sind Diskriminierungen, die beispielsweise aufgrund der Ethnie, des Geschlechts oder der Familiensituation auf der Suche nach einem Arbeitsplatz sowie einer Wohnung zu erheblichen Nachteilen führen können. Um tatsächlich langfristige Exit-Optionen, welche zu einem eigenständigen und sicheren Leben in Unabhängigkeit befähigen sollen gewährleisten zu können, müssen eben diese Herrschafsstrukturen der Mehrheitsgesellschaft(en) verändert werden. Der Aufenthaltstitel einer Migrantin betrifft ihren Freiheitsraum unmittelbar und wesentlich – im Gegensatz zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft.

Insofern machen es sich PolitikerInnen zu leicht, wenn sie erklären, dass Reglementierungen im Zuwanderungsgesetz zur Eindämmung sowie Vermeidung von Zwangsehen führen würden. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Phänomene in die Mehrheitsgesellschaft quasi importiert werden und man lediglich eine Art „Embargo“ statuieren muss, um weitere Fälle zu vermeiden. Die betroffenen Menschen jedoch sind fester Teil dieser Gesellschaft und benötigen niedrigschwellige Hilfsangebote. Deshalb ist neben der konsequenten Verfolgung der Lösungsansätze, die der intersektionelle Gewaltbegriff bietet sowie die Aufstockung von Geldern – und nicht ihre Streichung – bereits vorhandener Anlaufstellen gemeinsam mit dem entsprechenden Fachpersonal unabdingbar.