Verfremdung

Die Islamisierung des Islams

Die Gleichsetzung von Religion und Kultur „im Islam“ – das ist die wichtigste Strategie, die islamischen Kulturen zu „verfremden“, schreibt Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik.

Vor dreißig Jahren hat der französische Historiker Maxime Rodinson mit Genugtuung festgestellt, dass „ein kultureller Essentialismus, der die Vorherrschaft der Religion hervorhob […], der davon ausging, es gebe für jede Kultur ein dauerhaftes, ‚reines‘ Modell“, aus der Islamwissenschaft weitgehend verschwunden ist. Doch genau jener Kulturalismus, der davon ausgeht, dass eine Kultur „ihre“ Menschen auf unabänderliche Weise „prägt“ (und vergisst, dass es die Menschen sind, die die Kultur erst machen) hat sich in vielen Medien und in der breiten Öffentlichkeit immer mehr durchgesetzt, jedenfalls dann, wenn vom Islam die Rede ist.

Sicherlich haben die Anschläge vom 11. September 2001 eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung gespielt. Aber es ist ebenso richtig, dass die Anschläge eine bereits im Gang befindliche Entwicklung zwar auf unerhörte Weise verstärkt und beschleunigt, sie aber nicht hervorgerufen haben. Laut Human Rights Watch wird der Beginn der Islamfeindlichkeit in den USA auf die 1970er Jahre datiert. Huntingtons „Clash of Civilizations“ ist 1996 erschienen, und auch die meisten der heute aktiven „Islamkritiker“ haben bereits vor 2001 publiziert. Dabei bedienten sie sich genau jener essentialistischen Denkweise, von der sich die Islamwissenschaft erfolgreich gelöst hatte. Doch während man sich als Islamwissenschaftler mit kulturalistischen Ansätzen nur noch blamieren konnte, hatten populäre „Islamexperten“ mit ihnen umso größeren Erfolg. Um den Islam als das ganz und gar Andere hinzustellen, zogen sie sich die abgelegten Kleider an und zeichneten das Bild einer einheitlichen, ganz durch religiöse Normen geprägten islamischen Kultur, die in allem den Gegenpol zum Westen darstellt.

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„Die wichtigste Strategie, die islamischen Kulturen zu ‚verfremden‘, ist das, was ich in Anlehnung an Aziz Al-Azmeh die ‚Islamisierung des Islams‘ nenne. Voraussetzung hierfür ist die Gleichsetzung von Religion und Kultur ‚im Islam‘.“

Die wichtigste Strategie, die islamischen Kulturen zu „verfremden“, ist das, was ich in Anlehnung an Aziz Al-Azmeh die „Islamisierung des Islams“ nenne. Voraussetzung hierfür ist die Gleichsetzung von Religion und Kultur „im Islam“. Oft geschieht dies unbeabsichtigt allein deshalb, weil die „islamische Kultur“ die einzige Weltkultur ist, die nach ihrer Religion benannt ist. Die 36 Bände der „Fischer Weltgeschichte“ tragen entweder die Titel von Epochen („Vorgeschichte“), Völkern („Griechen und Perser“) oder geografische Bezeichnungen („Indien“, „Afrika“). Einzige Ausnahme sind die Bände über den „Islam“. Diese Gleichbenennung führt häufig zu dem Fehlschluss, es gebe „im Islam“ tatsächlich keinen Unterschied zwischen Kultur und Religion. Damit ist der Boden für die folgenden „Islamisierungsschritte“ bereitet:

1. Durch die Bezeichnung „islamisch“ wird auch für religionsferne Bereiche eine religiöse Identität suggeriert, etwa wenn man von „Islamischer Medizin“ spricht, obwohl sie die (vielfach von Christen und Juden betriebene) Fortentwicklung der antiken Medizin darstellt, die keinerlei religiöse Komponente hat.

2. Gesellschaftliche Bereiche in islamischen Kulturen, in denen Religion kaum eine Rolle spielt, werden ignoriert oder marginalisiert. Dies gilt etwa für die klassische arabische und persische Literatur, die über mehr als ein Jahrtausend einer der wichtigsten gesellschaftlichen Diskurse war. So ist es kein Zufall, dass es über die Geschichte der islamischen Theologie gute Darstellungen in deutscher Sprache gibt, während eine brauchbare Geschichte der arabischen Literatur in einer westlichen Sprache bis heute fehlt. Ein ähnliches Desinteresse lässt sich auch für die arabische Literatur der Gegenwart verzeichnen, trotz zahlreicher Übersetzungen und eines rastlosen Engagements von Kleinverlagen.

3. In vielen gesellschaftlichen Bereichen gab es verschiedene, oft widersprüchliche Diskurse, deren Nebeneinander aber dank einer hohen Ambiguitätstoleranz weitgehend akzeptiert wurde. So gab es auf dem Gebiet der Politik religiöse Diskurse in der Theologie und im Recht neben weitgehend säkularen Diskursen in Herrscherratgebern, der Dichtung und der Philosophie. Im Sinne der „Islamisierung des Islams“ werden nun die religiösen Diskurse als die typischen, die nichtreligiösen als untypisch und unwichtig abgewertet, auch wenn dies der historischen Realität nicht entspricht.

4. Diskurse, die religiöse Elemente enthalten, werden auf diese religiösen Elemente reduziert. So werden etwa die nichtreligiösen Elemente des „islamischen“ Rechts häufig übersehen. Gewalttaten von Gruppen wie der Hamas oder der des irakischen Widerstands werden als ausschließlich religiös motiviert dargestellt, auch wenn die Akteure vorwiegend national argumentieren.

5. Gibt es verschiedene religiöse Diskurse nebeneinander, wird derjenige, der nach westlichen Maßstäben der „konservativste“ und radikalste ist, als Norm betrachtet, etwa wenn der Wahhabismus Saudi-Arabiens als besonders „orthodox“ bezeichnet wird, obwohl islamische Gelehrte aller Richtungen und Regionen den Wahhabismus als extremistisch, ja gar als unislamisch, verurteilten. Vollends pervertiert wird dieses Islambild schließlich von einigen „Islamkritikern“, die den Dschihadismus von al-Qa’ida, den fast alle Muslime ablehnen, für den „wahren“ Islam halten (und damit einer Meinung mit den Dschihadisten sind). Besonders tückisch an der „Islamisierung des Islams“ ist, dass sie nicht nur von Nichtmuslimen betrieben wird, sondern auch von Muslimen selbst. Das Islambild muslimischer Fundamentalisten ähnelt verblüffend demjenigen nichtmuslimischer „Islamkritiker“. In beiden Fällen steckt sicherlich eine „Angst vor der Moderne“ dahinter, die Sehnsucht nach einem einfachen Weltbild in einer komplexen Welt.

Doch noch ein weiteres kommt hinzu. Die klassische islamische Kultur war in hohem Maße eine „Kultur der Ambiguität“. Ein Jahrtausend lang wurde Phänomenen der Vieldeutigkeit, Vagheit und Widersprüchlichkeit eine hohe Toleranz entgegengebracht. Man war stolz auf die Varianten des Korantextes, auf die Möglichkeit, Koranverse auf viele unterschiedliche Weisen auszulegen, man störte sich nicht daran, dass in vielen Lebensbereichen unterschiedliche, oft einander widersprechende Normen galten, und man begeisterte sich an literarischen Texten, die die Vieldeutigkeit ins Extrem steigerten. Diese Ambiguitätstoleranz ging in vielen islamischen Gesellschaften im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verloren, als man sich mit mächtigen, aber weitgehend ambiguitätsintoleranten westlichen Ideologien auseinandersetzen musste. Hier bot sich der Rückgriff auf leicht ideologisierbare, fundamentalistische Strömungen als attraktivere Lösung an. Aus ihnen ließ sich eine islamische, ambiguitätsintolerante Ideologie formen, die der westlichen Herausforderung eher gewachsen zu sein schien als die Differenziertheit und Komplexität der islamischen Tradition. Genau diese ideologisierte, nach Ambiguitätslosigkeit strebende Form des Islams bot sich nun auch für den Westen zur Konstruktion eines „Feindbilds Islam“ an. Feindbilder müssen immer ambiguitätsfrei sein. So kam es zu einer fatalen Korrespondenz zwischen islamischem Fundamentalismus und westlicher Islamfeindschaft, deren gemeinsamer Nenner die Idee einer ambiguitätsfreien Kultur ist. Doch nun scheint sich eine andere Entwicklung anzubahnen. Der Glaube an Ideologien ist in den arabischen Ländern ins Wanken gekommen. Der „Arabische Frühling“ könnte ein Durchbruch zu einer neuen, wieder ambiguitätstoleranteren islamischen Kultur sein. Umso dringender ist es, dass nun auch das westliche Islambild revidiert wird.