Keine Ermessensentscheidung

Vergabe eines Schengen-Visums nach dem Visakodex

Seit April 2010 gilt der EU-Visakodex – auch für Deutschland. Danach soll die Erteilung eines Besuchervisums nicht mehr vom Ermessen der Behörde abhängen. Die deutsche Praxis sieht dennoch anders aus.

Mit Urteil vom 14.12.2010 verpflichtete das Verwaltungsgericht Berlin (VG 3 K 301.09) die Bundesrepublik Deutschland auf Grundlage des EU-Visakodex, einer türkischen Staatsangehörigen ein Besuchervisum zu erteilen. Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Um ihre in Deutschland lebenden fünf Kinder sowie Enkelkinder besuchen zu können – wie schon zwei Mal zuvor, beantragte eine türkische Staatsangehörige bei der deutschen Auslandsvertretung in Istanbul den Formalien entsprechend und ordnungsgemäß ein Visum. Das Generalkonsulat lehnte ihren Antrag ab.

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Begründet wurde die Ablehnung aufgrund einer Mutmaßung: Die Antragstellerin beabsichtige, sich länger als die beantragte Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet aufzuhalten. Hierfür spreche, dass ihre gesamte Kernfamilie in Deutschland ist. Entscheidend sei aber die Tatsache, dass die Antragstellerin ihren Aufenthalt bei dem letzten Besuch aus gesundheitlichen Gründen verlängert hat.

Grund für die Verlängerung war eine ärztlich attestierte Erkrankung der Klägerin. Nach dem Tod ihres Mannes war sie kaum in der Lage, sich selbst zu versorgen. Um sie wieder in der Türkei zurückführen zu können, war es erforderlich, dass sie sich vorerst weiter bei ihrer Familie im Bundesgebiet rehabilitiert.

Visakodex der EU: Der EU-Visakodex ist eine Zusammenfassung aller Visa-Rechtsvorschriften der Schengen-Staaten. Er gibt vor, wie die 22 teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten und drei assoziierte Staaten einen Visumantrag bearbeiten und entscheiden müssen. Seit April 2010 ersetzt der Visa-kodex die deutsche Regelung über die Erteilung von Besuchervisa.

Der Richter konnte die Befürchtung der Auslandsvertretung nicht teilen. Im Gegenteil: Der Umstand, dass die Klägerin ihr Visum beim letzten Besuch in Deutschland hat verlängern lassen, rechtfertige nicht die Befürchtung, die Klägerin wolle rechtswidrig einwandern und sich zukünftig illegal hier aufhalten. Die Verlängerung ihres Visums während ihres letzten Besuchs sei eine zulässige Rechtsausübung gewesen, die von der zuständigen Ausländerbehörde nicht beanstandet wurde.

Schließlich begründe die Tatsache, dass nach dem Tod ihres Ehemannes nunmehr die gesamte Kernfamilie in Deutschland ist, nicht das Risiko einer rechtswidrigen Einwanderung. Die Klägerin verfüge über eine starke Bindung an ihr Heimatland, da sie den Großteil ihres Lebens in der Türkei verbracht habe. Insofern habe sie sich an die dortigen Verhältnisse anders als an die im Bundesgebiet gewöhnt.

Für ihre Verwurzelung in der Türkei spreche auch, ihr geregeltes finanzielles Verhältnis. Sie beziehe eine ausreichende Rente und verfüge zudem über selbst genutztes Wohneigentum. Ihre persönliche Situation sei dadurch abgesichert, dass die in der Türkei lebende jüngste Tochter sie angemessen betreut.

Rückkehrbereitschaft zentrale Voraussetzung
Dieser hier exemplarisch dargestellte Fall verdeutlicht, dass die Feststellung der Rückkehrbereitschaft eine zentrale Voraussetzung für die Erteilung eines Besuchervisums ist. Dadurch soll vor allem die illegale Einreise verhindert werden. Die mangelnde Rückkehrbereitschaft ist häufig ein Grund, das beantragte Besuchervisum abzulehnen.

Bemerkenswert an diesem Urteil ist, dass der Erteilung des Besuchervisums der EU-Visakodex zugrunde gelegt wird. Danach muss die Auslandsvertretung bei Vorliegen aller Erteilungsvoraussetzungen ein Besuchervisum erteilen. Nach der alten deutschen Regelung konnte das Konsulat in die Entscheidung ihr Ermessen mit einfließen lassen.

MiG-Dossier: Rechtsprechung, Einzelheiten, Hintergründe und die Politik der Bundesregierung zur Thematik im MiG-Dossier „Visumsfreiheit für Türken„.

Das war der Grund, weshalb viele Betroffene sich scheuten, die Ablehnungsentscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen, obwohl sie sämtliche Erteilungsvoraussetzungen erfüllten. Der Behörde ein Ermessensfehler nachzuweisen, war äußerst schwierig.

In Deutschland gilt der EU-Visakodex als Verordnung zwar unmittelbar, zum Vollzug sind jedoch Anpassungen beziehungsweise Konkretisierungen im nationalen Recht erforderlich. Die Bundesregierung hat am 30. März 2011 in einem Gesetzesentwurf die Anpassung nationaler Vorschriften an den EU-Visakodex beschlossen. Allerdings werden lediglich Form- und Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes angepasst.

Dass der EU-Visakodex bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen einen Anspruch auf Erteilung eines Besuchervisums vermittelt, ist nicht vorgesehen. Im Gegenteil, die deutsche Regelung sieht nach wie vor eine Ermessensentscheidung vor.