Leos Wochenrückblick

Dreimal Deutschlandkritik, dazu ein Lob – und Neues von Sarrazin

Deutschland – nicht sozial genug, nicht rechtsstaatlich einwandfrei, nicht überall multikulturell, aber es petzt auch nicht mehr so viel. Als Zugabe: Sarrazin ganz harmlos.

Deutschland – rechtsstaatlich nicht einwandfrei
Die interessanteste Nachricht – unter MiGAZIN-Gesichtspunkten – dürfte diese sein.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellt fest: Deutschland handelt rechtswidrig in der Visapraxis gegenüber der Türkei: Türken müssen ohne Visum in Deutschland einreisen dürfen.

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Hinzu kommen rechtliche Zweifel bezüglich des Deutschtests für Ehegatten vor dem Zuzug aus der Türkei, in einigen Punkten beim „Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Zwangsheirat“ und hinsichtlich der seit 1990 durchgeführten Regelausweisung in die Türkei.

Jeweils geht es um die Verpflichtungen, die Deutschland mit dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Türkei (von 1963) und den Stillhalteklauseln, die 1980 Gegenstand des Vertrags geworden sind.

Das MiGAZIN erläutert die juristischen Zusammenhänge und stellt als Fazit der Gutachter fest:

„Durch die Entscheidungen [des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)] … dürfte daher endgültig geklärt sein, dass türkische Staatsangehörige visumsfrei in das Bundesgebiet einreisen und sich ohne Aufenthaltstitel dort aufhalten dürfen“.

Sevim Dagdelen nennt das Verhalten der Regierung Heuchelei: Sie fordere Rechtstreue von den Migranten, selbst aber halte sie sich nicht an das Recht.

Ein Beispiel (aus der Süddeutschen Zeitung) zeigt, um was es u. a. geht:

Es geht um Leute wie Ali Nesin. Der Mathematikprofessor aus Istanbul wollte vergangenen Herbst nach Essen fliegen, zu einem Gedenktag für seinen Vater, den Schriftsteller Aziz Nesin. Dafür brauchte er ein Visum. Doch ein Stapel Dokumente reichte dem deutschen Konsulat nicht, es bestellte den Professor ein – um 6.30 Uhr morgens.
Nesin lehnte es ab, sich dort im Morgengrauen in die Schlange zu zwängen und blieb zu Hause. “Das Vorgehen ist erniedrigend”, sagt er. Türkische Visaaspiranten lernen deutsche Gründlichkeit schon vor ihrem Besuch kennen, es gibt ein Dutzend Merkblätter zu dem Antrag, und selbst wer kein Visum braucht, soll im Konsulat eine Befreiungsbescheinigung besorgen.

(Anmerkung: Im Kommentarteil des MiGAZIN zu diesem Thema äußern einige der user die bemerkenswerte Meinung, der Staat brauche sich in der Visumsfrage nicht ans Recht zu halten …)

Deutschland – nicht sozial genug
Es gibt einen UN-Wirtschafts- und Sozialrat, der einen Ausschuss hat, in welchem u. a. auch Deutschland als Vertragsstaat alle 5 Jahre mal sozial unter die Lupe genommen wird.

Die Kritik sieht dann zum Beispiel folgendermaßen aus:

28. Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass bis zu 25 Prozent aller Schüler ohne Frühstück zur Schule gehen und somit der Gefahr der Mangelernährung ausgesetzt sind, da noch nicht in allen Schulen Mittagessen bereitgestellt wird.

Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, konkrete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Kinder, besonders aus armen Familien, richtige Mahlzeiten erhalten.
Der Ausschuss fordert außerdem den Vertragsstaat auf, dafür zu sorgen, dass diesbezügliche Maßnahmen Kinder aus benachteiligtem sozialem Hintergrund nicht noch weiter stigmatisieren.

Wenn man das so liest, erschrickt man: Um Gottes willen, geht in diesem reichen Deutschland jetzt schon ein Viertel aller Schulkinder hungrig in die Schule, und dann bekommen sie auch mittags noch nicht einmal sicher etwas!

Unterschichtskinder leiden auch in Deutschland eher unter zuviel als zu wenig Kalorien …

Es ist schon richtig, das Thema kritisch anzusprechen, aber hier geschieht es „unterkomplex“. Die oft ungesunde Ernährung, die Unterschichtsproblematik, die Schule und ihre Aufgaben in diesem Zusammenhang – diesen drei Dimensionen wird eine Stellungnahme wie die zitierte nicht gerecht. Ähnliche Verkürzungen kann man auch bei einigen anderen Feststellungen des Ausschusses monieren.

Aus diesem Grund eignet sich der UN-Bericht nur bedingt zur Unterstützung derer, die in Deutschland mehr soziale Fairness einfordern.

Mehr Informationen über den Bericht in der Süddeutschen Zeitung.

Deutschland – nicht sehr multikulturell
Der Ausländerbeauftragte von Schwedt in Brandenburg, Ibraimo Alberto, hat die Stadt aus Angst um seine Familie verlassen. Er hat wenig Unterstützung und viel Schweigen erlebt bei all den Anfeindungen, denen er und seine Familie ausgesetzt waren. (Er war als Vertragsarbeiter in DDR-Zeiten aus Mosambik gekommen.)

Der Politikwissenschaftler Hajo Funke analysiert im Deutschland-Radio den Fall.

Hajo Funke: … Es ist so, dass wir in Ostdeutschland eine sehr schwierige Nach-Wende-Situation hatten, in der es eine sehr breite subkulturelle, sehr aggressive, neonazistisch inspirierte Jugendbewegung gegeben hat. Und die hat dazu beigetragen, dass der Alltagsrassismus – wie soll ich sagen – sehr präsent geblieben ist, insbesondere in Fußballstadien. Und der 12. März, wo ein Vorfall, den Sie auch beschrieben haben, stattgefunden hat, wo der eigene Sohn als Negerhurensohn beschimpft und mit Morddrohungen überschüttet worden ist, das hat Herrn Alberto gereicht und er gesagt, das ist zuviel. Das ist der Alltagsrassismus, der sehr gewalttätig in der Sprache, aber auch zuweilen in physischen Angriffen daherkommt.

Die Situation an vielen Orten in Ostdeutschland scheint so verfahren zu sein wie in Schwedt. Funke sieht aber einen Weg.

Funke: Es gibt Möglichkeiten, dies zu ändern – und zwar dann, wenn sehr viel entschiedener das Schweigen, das Zuschauen, das De-facto-Zustimmen bei solchen Aggressionsakten verändert wird. Wenn das Schweigen aufgebrochen wird, wenn in der Situation gesagt wird, nicht mit uns in dieser rassistischen Gewaltsprache. Und wenn das vor Ort die Öffentlichkeit tut, wenn das die Presse tut, und wenn das der Bürgermeister tut, und wenn die Polizei dahinter ist und sagt: Ihr macht das nicht! Dafür gibt es Strafen! Und dies ist in Teilen Brandenburgs sehr wohl geschehen, sodass sie von Ort zu Ort unterschiedliche Eindämmungen dieses Alltagsrassismus haben. Und Schwedt ist da nicht sehr weit, offenkundig.

Wie erklärt Funke sich das?

Funke: Weder Mentalität, noch Strukturen, sondern die Bewusstseinsverfassung der Leute, natürlich unterstützt durch die Erschütterungen, die sozialen Erschütterungen – das ist häufig so – der Nach-Wende-Zeit, wie gesagt, in den 90er-Jahren, die für viele Familien schwer aushaltbar waren und für die nächste Generation noch weniger. Und dann kamen eben Szenen, die sagten: Ich zeige euch, wogegen ihr eure Wut, eure Unzufriedenheit ausrichten könnt – gegen alle Ausländer. Und haben damit Neonaziargumente aufgegriffen.

Es ist ja ein Neonationalsozialismus im Hintergrund, im Untergrund. Und das macht es auch so schwer! Die Kader, die freien Kräfte tun, was sie wollen. Sie sind mal mit Gewalt und mal ohne Gewalt, aber ideologisch gewalttätig in ihrem ganzen Auftreten. Und das ist zu spät eingedämmt worden, in allen Ländern Ostdeutschlands. Und da, wo es besser geschehen ist, hat es auch Erfolge gehabt!

Einen eindrucksvollen Bericht darüber gibt es auch in der taz.

Deutschland – petzt nicht mehr so viel
Die taz berichtet:

Für Kinder, deren Eltern sich illegal in Deutschland aufhalten, wird es künftig einfacher, eine Schule zu besuchen. Bisher waren Schulen verpflichtet, Kinder und Jugendliche ohne Papiere den Ausländerbehörden zu melden. Diese Verpflichtung soll nun wegfallen – das hat der Bundestag auf einen Antrag von Union und FDP beschlossen. …

Bislang mussten Eltern von illegal in Deutschland lebenden Kindern befürchten, dass sie abgeschoben werden, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken. Alle öffentlichen Stellen waren zur Übermittlung der Angaben an die Behörden verpflichtet. Sie wird nun zumindest für Schulen und Kitas aufgehoben.

Wie viele Kinder von illegal in Deutschland lebenden Ausländern gibt es? – Der Sachverständigenrat schätzt, dass es mindestens 1 000 und höchstens 30 000 seien.

Die Übermittlungspflichten für Ärzte und Richter bestehen weiter; Menschen ohne Papiere erhalten auch weiterhin keine Gesundheitsversorgung und können gegen Ausbeutung und Lohnbetrug nicht vorgehen.

Deutschland – nicht ohne Sarrazin
In der FAZ spielt er den Harmlosen:

Ich halte es nicht für schädlich und integrationsfeindlich, sondern für geboten und für einen Dienst an der Integration, vorhandene Integrationsdefizite, deren Ursachen und Lösungsmöglichkeiten klar und offensiv anzusprechen und dabei auch gruppenbezogene Verhaltensdefizite sowie kulturelle Ursachen wie die Religion nicht auszuklammern. Es ist ein Irrtum, zu meinen, gesellschaftliche Probleme seien dadurch besser beherrschbar, dass man sie gar nicht oder nur auf Samtpfoten anspricht und nur ja keine Schuldigen benennt. Es stört mich auch gar nicht, wenn Bade beklagt, dass durch mein Buch der „Integrationspessimismus“ in der Bevölkerung gewachsen sei.

Ein durch Realismus und Sachverhaltskenntnis geprägter Pessimismus ist allemal besser und für die Zukunft zielführender als ein durch Wunschdenken und Unkenntnis geprägter Optimismus. Wunschdenken, Unkenntnis und dadurch geprägte Fehlentscheidungen stehen nämlich am Beginn von 90 Prozent aller vom Menschen selbst gemachten Katastrophen.

Halten wir fest: In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ geht es nicht um ein paar Integrationsdefizite und eine bessere Integrationspolitik.

Sarrazin hat dort zunächst festgestellt (von vielen wird das überlesen!): Wir Deutsche reduzieren unsere Zahl und unsere nationale Leistungsfähigkeit dadurch, dass Mittelschichts- und Oberschichtsfrauen nicht genug Kinder in die Welt setzen. Die Unterschicht dagegen – dummerweise noch sozialstaatlich gepäppelt – erzeugt mehr Kinder und – auch biologisch bedingt – dümmere Kinder, als es die gebildeten Eltern der Mittel- und Oberschicht tun. So steigt der Unterschichts-Anteil ständig an, während insgesamt unsere Zahl dennoch schrumpft.

Erst an dieser Stelle kommen eigentlich die Migranten aus muslimischen Kulturen ins sarrazinische Deutschland-schafft-sich-ab-Spiel. Sie seien es nämlich vor allem, die viele Kinder in die Welt setzen und die die Unterschicht bilden und die sich auch noch durch weitere massive Einwanderung vermehren.

(Dass es eine solche Einwanderung schon lange kaum noch gibt, und dass muslimische Frauen ab der 2. Generation auch kaum mehr Kinder in die Welt setzen als nicht-muslimische, das sind zwei der wesentlichen Fakten, die Sarrazin unterschlägt.)

Sarrazins Konsequenz: Natürlich Schluss mit jeglicher Einwanderung aus Ländern islamischer Kultur, und Schluss mit der sozialstaatlichen Unterstützung der Unterschicht. Der Sozialstaat sollte für die Mittelschicht reserviert werden.

Diese Argumentation war es, die das Buch so spektakulär gemacht hat – für Gegner und für Befürworter. Nicht ein paar Sorgen um Integrationsdefizite.