Es geht heute um die besonderen Bedingungen der Behandlung von Migranten im deutschen Gesundheitssystem. Nach den üblichen einführenden Worten zur Bevölkerungsentwicklung durch Migration in der Nachkriegszeit in Deutschland möchte ich von den Teilnehmern im Raum wissen, wie viele von ihnen Migranten sind. Zögerlich gehen ca. 8 Arme hoch. Danach definiere ich den Begriff nach Mikrozensus und aus 8 werden 14. Das ist ganz beachtlich für Absolventen eines sehr schwierigen Numerus Clausus Faches, die dieses ja schon vor mehr als 10 Jahren begonnen haben müssen. So schlimm kann es um die Bildung der Migranten in Deutschland ja doch nicht stehen.
Ich absolviere den Pflichtdurchgang mit Fakten aus einigen bisher durchgeführten Studien über Krankheitshäufigkeiten, beschreibe die bekannten Zugangsbarrieren zur medizinischen Versorgung und vergleiche mit dem Gesundheitswesen von Ländern wie den USA. Das monokulturell orientierte deutsche Gesundheitssystem ist bisher in keiner Weise auf die Anforderungen der Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund eingestellt.
Die Zukunft mit einer stetig wachsenden und alternden Bevölkerung mit Migrationshintergrund wird noch viel mehr Lücken in der Versorgung offenlegen. Z.B. ein an Demenz erkrankter herkunftsfremder Deutscher wird wieder vergessen Deutsch zu sprechen, auch wenn er die Sprache in den letzten Jahren gut beherrschte. Er wird im Alter nicht nur mit den typischen Gedächtnisstörungen zu kämpfen haben, sondern auch nicht mehr verstehen, was ihm das deutsch sprechende Pflegepersonal sagt.
Insgesamt gibt es im Gesundheitssystem noch viel zu verbessern. Viele Migranten sind immer noch bei der Prävention von Erkrankungen deutlich schlechtergestellt, in der akutmedizinischen Versorgung sind sie fraglich überversorgt. Sie stehen schlechter da bei volksgesundheitlichen Parametern wie Säuglingssterblichkeit, Zahngesundheit, Durchimpfraten, Arbeits- und Verkehrsunfällen. Die Kinder von Migranten nehmen seltener an den Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 teil. Auch sind Migranten in der Regel schlechter informiert über spezielle Serviceleistungen wie Suchtberatung, Angebote von Frauentherapiezentren, auch wenn sie es wüssten, würden sie diese seltener in Anspruch nehmen.
Migranten haben andere Krankheitsrisiken wie z.B. Krebs, kardiovaskuläre Erkrankungen und Morbus Bechterew etc. Sie haben andere Infektionsraten z.B. häufigere Hepatitisinfektionen. Aufgrund der körperlich harten Jobs, die Migranten meist machen, haben sie mehr Krankheiten des Bewegungsapparates und sind auch bei psychischen Erkrankungen häufiger betroffen. Über die Ursachen dieser Ergebnisse lässt sich natürlich spekulieren, gibt es ein Entwurzelungssyndrom, gibt es ethnische Unterschiede, ist das alles eher ein sozio-ökonomisches Phänomen und damit ein Problem der Schichtzugehörigkeit? Es ist wohl ein wenig von allem.
Meine Zuhörer folgen meinen Ausführungen und nicken immer mal wieder oder haben hier und da eine Rückfrage und schreiben sich die Quellenangaben zum genaueren Studium auf. Sie wirken zufrieden weil angenehm mit Wissen gefüttert, wie es sich für typische Ärzte gehört.
Ich schildere dann im Anschluss, wie transkulturelle Behandlungskonzepte definiert werden, wie die verbreiteten Patchwork-Identitäten der Migranten entstanden und was Forscher wie Sluzki und Berry zu Assimilation, Integration, Segregation und Marginalisation sagen. Eine interkulturelle Öffnung des Gesundheitswesens ist längst überfällig und eine gut eingesetzte Pluralität von Mitarbeitern im Krankenhaus würde viele behandlungstechnische und wirtschaftliche Vorteile bringen.
Nun kommt der von mir am liebsten durchgeführte kreative Abschnitt, die Fallarbeit und Anwendung des interkulturellen Wissens. Die TeilnehmerInnen sollen nun ihre Erfahrungen mit Patienten mit Migrationshintergrund schildern und was für sie schwierig war. Ziel ist es in der Gruppe herauszufinden, wie sie denn Fall hätten besser lösen könnten.
Eine Internistin, die als Notärztin arbeitet, schildert, dass es sie irritiert, wenn sie bei einem Notarzteinsatz in der Wohnung einer türkischen Familie bei ihrer Ankunft erst mal ihre Schnürschuhe ausziehen soll. Ich muss schmunzeln und sage: „Das ist aber eine sehr disziplinierte Hausfrau, die sogar in der Not ihre Teppiche sauber wissen will. Ist das nicht eine typisch deutsche Tugend, Ordnung und Disziplin?“ Alle lachen, die Atmosphäre lockert sich. Es werden lustige Anekdoten erzählt.
Eine Kollegin, die einige Zeit in England gearbeitet hat, berichtet darüber, dass sie immer verunsichert war, wenn sie besonders von Patienten aus karibischen Kolonien mit „my dear oder love“ angesprochen wurde und nicht wusste, ob das eine plumpe „Anmache“ oder kulturelle Floskel war. Nun geht es also um den Beziehungsaufbau und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient und ob man pikiert sein sollte, wenn man nicht so behandelt wird, wie man es gewohnt ist.
Eine Kollegin erzählt, dass sie, als sie einen Patientenwunsch zur längeren Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder zum Beantragen von Schwerbehinderungsprozenten beim Versorgungsamt abgelehnt habe, als Rassistin beschimpft wurde. Ich antworte, dass man selbstverständlich nicht jedem Patientenwunsch nachgeben kann, wenn er medizinisch eben nicht vertretbar ist. Ein falsch verstandenes Gutmenschentum würde den sachlich disziplinierten Blick trüben und ethnisches Loyalitätsempfinden und zu starke „Verbrüderung“ mit Patienten sei für alle beteiligten nicht sinnvoll. Die Kollegin dürfe aber keinesfalls Unterschiede zwischen unterschiedlichen Ethnien, Schichtzugehörigkeiten etc. machen. Wichtig ist es, einen ethnozentristisch-kolonialistischen Blick zu vermeiden. Der Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen bietet vor allem auch die Chance, sich selbst bewusster wahrzunehmen, die eigenen Kommunikationscodes und die Werte und Normen, nach denen man seine therapeutischen Interventionen gestaltet zu identifizieren. Hier ist es wichtig, sich den gegebenenfalls andersartigen Erwartungen der Patienten zu öffnen, andere Krankheitskonzepte und Beziehungsangebote zu verstehen und in die eigene Behandlungsplanung einzubeziehen.
Migranten erwarten häufig eine freundschaftliche Beziehung mit viel Nähe, wünschen aber auch eine richtungsweisende ärztliche Autorität, die ihnen sagt, was sie tun sollen. Migranten schildern mehr körperliche Beschwerden und wollen im Kontakt häufiger lebenspraktische Hilfen und eine Art Sozialberatung. Das Arbeiten mit Metaphern und Geschichten ist sehr hilfreich. Migranten sind häufiger verheiratet und haben eine funktionierende Großfamilie, daher sollte diese als Ressource genutzt und hinzugezogen werden.
Weitere Situationen der Überforderung werden geschildert. Eine Ärztin war sehr bedrückt, als eine Patientin laut schluchzend in ihrem Wartezimmer zusammenbrach und den plötzlichen Unfalltod des Sohnes beklagte. Sie konnte die lauten Schreie und die Intensität der Trauer nicht verstehen. Hier gilt es, sich nicht verunsichern zu lassen. Diese Patientin trauert eben, wie es für ihren Kulturkreis üblich ist, und ist eigens zu der Ärztin gekommen, um mit ihr zusammen ihre Trauer zu teilen, was eigentlich ein Zeichen von großem Vertrauen ist.
Das Wichtigste an diesen Fortbildungen scheint mir den KollegInnen ihr Unsicherheit im Umgang mit den sogenannten „Fremden“ zu nehmen, denn manche verlassen sich nicht mehr auf ihr Intuition und ihre jahrelange Erfahrung, sobald ein Patient einen etwas andersartigen Umgangskode an den Tag legt. Sicher wird Depression oder eine abhängige Persönlichkeitsstruktur in einer anderen Kultur anders ausgedrückt. Auch gibt es das typisch westlich-karthesianische Körperbild, was einen Leib-Seele-Dualismus zugrunde legt und dem holistischen Konzept anderer Kulturen widerspricht, aber insgesamt sollte einem individuellen Beziehungsaufbau nicht entgegenstehen. Im Zweifelsfall muss nachgefragt werden, warum der Patient dieses oder jenes tut. „Warum nennen sie mich immer „Love“. Sie irritieren mich, ich verstehe nicht was sie mir sagen wollen.“
Insgesamt sollten die universell geltenden Gesprächsregeln nach Rogers Anwendung finden, das heißt eine bedingungslose positive Wertschätzung, Empathie und eine authentische Haltung gegenüber dem Patienten.
Zum Schluss frage ich die KollegInnen, die ja nun eine bessere Behandlung von Migranten hinbekommen sollen: „Was hat sich für sie durch diesen Tag verändert?“ Die Kollegen sagen, dass sie teilweise neue Fakten gehört hätten und einige Studien genauer anschauen wollten. Das Beste seien aber die persönlichen Geschichten gewesen, die Rollenspiele zu konkreten Fällen und dass sie eine neue permissivere Haltung zu der Sache bekommen haben. Ein Kollege sagte, seine Oberärztin in Florida hätte ihm eine ähnliche Haltung mit „tough love“ beschrieben. Dieser Begriff umschreibt es ganz gut.