Lamyas Welt

Der Deutsche ist tot. Lang lebe der Deutsche.

Das Thema Integration wird überbewertet, sagen die einen. Integration ist das Zukunftsthema, meinen die anderen. Seit zehn Jahren wird nun verstärkt eine Debatte geführt, die weitgehend ergebnisfrei verläuft und bespickt mit Ablenkungsmanövern ist.

Das wurde jüngst aus berufenem Munde wieder deutlich. Anlässlich der konstituierenden Sitzung des Bundesbeirats für Integration erklärte Staatsministerin Maria Böhmer: „Der Beirat ist eine ausgezeichnete Plattform für Diskussionen über Grundsatzfragen von Zuwanderung und Integration und für eine Identitätsdebatte. Eine zentrale Frage lautet: Wie lange ist man ein Migrant? Mittlerweile lebt die dritte und vierte Generation von Migranten in unserem Land. Dies sind junge Menschen, die hier geboren sind und nun in Deutschland aufwachsen und zur Schule gehen. Sie müssen die Chance bekommen, bei uns anzukommen. Dazu müssen sie ihr jeweiliges Herkunftsland loslassen.“

Das erinnert mich an einen Radiobericht vor einiger Zeit. Darin berichtete ein Mann, Mitte 40, Vater dreier Kinder, von seinem Leben in einem kleinen, typisch deutschen Dorf nahe Bonn. Er erzählte, dass sich das Gesicht seiner Heimat in den letzten Jahren stark verändert habe. Zahlreiche Familien seien von auswärts hinzugezogen, neue Wohngebiete mit modernen Reihenhäusern und hübschen Gärten seien entstanden. Der Mann fing an, sich zu beklagen: Einige dieser fremden Menschen hätten begonnen, seine Töchter etwa in der Schule oder auf dem Weg dorthin anzufeinden. Die Erwachsenen äußerten sich abfällig über sie, von den Kindern dieser Neuankömmlinge würden sie geradewegs beschimpft. Immer wieder hieße es, er und seine Familie sollten doch dahin zurückgehen, wo sie hergekommen seien. Das hier sei schließlich ihre Heimat. Über solche Äußerungen konnte sich der Mann nur wundern: „Wir leben seit 400 Jahre in diesem Dorf. Seit 400 Jahren!“ Das Problem seiner Familie: Sie ist etwas dunkler im Teint, denn ihre Vorfahren kamen einst aus dem Osten – als Sinti und Roma.

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Frau Böhmer, wann ist man in Deutschland angekommen? Reichen 400 Jahre aus? Offensichtlich nicht. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Statt öffentlich darüber nachzudenken, wie lange ein Migrant nun ein Migrant ist, und statt Forderungen zu stellen, dass man sein jeweiliges Herkunftsland loslassen müsse, muss es der Politik endlich darum gehen, der deutschen Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Dieses ist nicht mehr die homogene Gesellschaft der 50er Jahre – weitgehend ohne Asylanten, ohne Ausländer, ohne Menschen mit dunklerer Hautfarbe und schwarzen Haaren. Und zu dieser Gesellschaft werden wir auch nie wieder zurückkehren. Gesellschaften machen von jeher durch Zuzug und Abwanderung einen Wandel durch. Das ist ganz natürlich. Solche Veränderungen lassen sich nicht aufhalten. Das muss die Botschaft sein. Doch sie wird von der Politik tabuisiert. Solange diese Botschaft aber nicht in den Köpfen der Menschen in Deutschland ankommt, wird Integration niemals gelingen. Und wer diese Veränderung der deutschen Gesellschaft nicht wahrhaben will, soll klar und unmissverständlich sagen, wie er sie aufhalten will, oder für immer schweigen.

Ich selbst kann an dieser Stelle leider noch nicht schweigen, denn die Anerkennung der gesellschaftlichen Realität führt automatisch zu der Frage: Was heißt eigentlich Deutsch-Sein? Viele weichen dem Thema hilflos und überfordert aus, fordern aber im Gegenzug ganz selbstbewusst das Bekenntnis zur „deutschen Leitkultur“. Also: Weißwurst essen? Vorm Zubettgehen Goethe und Schiller lesen? Sekt schlürfen und Bowle trinken? Mit beharrtem Bierbauch, über den sich zur Hälfte ein eibeflecktes Unterhemd spannt, samstags das Auto waschen? Sonntags durch Museen streifen? Einen Gesprächskreis gründen? Gartenzwerge aufstellen? Seine Kinder taufen lassen? Ihnen deutsche Namen geben? Sich die Haut bleichen? Eine Antwort auf die Frage gibt es nicht.

Wir können also nicht benennen, was „deutsche Leitkultur“ ist, aber wir sträuben uns „bis zur letzten Patrone“ gegen Zuwanderung „aus fremden Kulturkreisen“ (der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer), wir erklären Multikulti für „gescheitert, absolut gescheitert!“ (die Bundeskanzlerin Angela Merkel) und wir halten Arabern und Türken eine verminderte Intelligenz und Integrationsbereitschaft vor (der SPD-Politiker Thilo Sarrazin). Wir fordern und fordern und fordern. Wenn beim Stichwort Integration allerdings permanent von Forderungen gesprochen wird, dann dürfen auch alle am Wunschtisch Platz nehmen. In einer Demokratie macht man das so. Trotzdem wundern sich manche oder echauffieren sich gar darüber, dass angeblich die „Migranten“ dauernd Forderungen stellten.

Wir brauchen gemeinsame Werte, mit denen wir uns alle identifizieren können. Darüber müssen wir in der Öffentlichkeit diskutieren – und zwar ohne Tabus. Eine vernünftige und nachvollziehbare Forderung wäre beispielsweise: Alle Bürger dieses Landes sollten sich zum Grundgesetz bekennen und Deutsch sprechen können. Leider reicht dies vielen Zeitgenossen nicht aus, wie man sieht. Schade, dass unsere Verfassung denjenigen so wenig wert ist.

Im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist es jedenfalls nicht mehr damit getan, seit Generationen hier geboren zu sein, um als Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Ich weiß auch nicht, was die „deutsche Leitkultur“ ist. Ich weiß lediglich, man kann auch deutsch sein, wenn man schwarze Haare hat und sogar wenn man Muslimin ist. Dass der Islam samt seinen Anhängern zur Realität dieses Landes gehört, bestreiten heute nur noch Menschen, die sich ihrerseits nicht in unsere Gesellschaft integriert haben.

Der Deutsche ist tot. Lang lebe der Deutsche.