Migrationsgutachten 2011

SVR fordert ein Ende des Versteckspiels der Politik mit angeblichen Ängsten

Es gibt Fortschritte und Reformbedarf bei der Zuwanderungspolitik. Das Nichthandeln werde mit der „Das Boot ist voll“-Panik und einer populistischen Kulturpanik legitimiert. Das erklärte Prof. Bade bei der Vorstellung des Migrationsgutachtens 2011.

Die Zuwanderungspolitik in Deutschland muss „mit mutigen Konzepten zukunftsfester“ werden. Das forderte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) gestern in Berlin bei der Vorstellung seines zweiten Jahresgutachtens mit dem Titel „Migrationsland 2011“.

Das Gutachten analysiert und bewertet Zuwanderung, Ab- bzw. Auswanderung und Migrationspolitik in Deutschland vor internationalem Hintergrund. Dazu wurden erstmals in einem SVR-Migrationsbarometer mehr als 2.450 Personen mit und ohne Migrationshintergrund nach ihren Einschätzungen und Bewertungen von Migration und Migrationspolitik befragt. Im Ergebnis sieht der SVR eine Kluft zwischen erregten publizistischen und politischen Diskursen und durchaus pragmatisch-nüchternen Einschätzungen im Alltag der Bürgergesellschaft.

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Der SVR-Vorsitzende Prof. Klaus J. Bade fordert daher „ein Ende des Versteckspiels der Politik mit den angeblichen Ängsten der Bevölkerung“ und „mehr Mut zu klaren und nachvollziehbaren Konzepten in der Migrationspolitik“. Das gelte für Abwanderung und Zuwanderung ähnlich wie für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden.

Zuwanderungspolitik noch nicht zukunftsfest
Deutschland habe in den vergangenen Jahren sein Instrumentarium der Zuwanderungssteuerung vorsichtig neu justiert. Seit langem schon ein Erfolgsfall der Migrationssteuerung sei die öffentlich wenig beachtete temporäre und saisonale Zuwanderung in niedrig qualifizierte Tätigkeiten.

So seien 2010 in 289.000 Fällen Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt, die nach dem Ende ihrer befristeten Tätigkeit das Land wieder verlassen hätten. Nach anfänglichen Stolperschritten sei aber auch die Zuwanderung von Fachkräften verstärkt in Gang gekommen: von 2005 bis 2009 seien zwar nur 629 ausländische Hochqualifizierte (nach § 19 AufenthG) zugezogen. Darüber hinaus seien 2009 aber rund 16.000 Fachkräfte mit teilweise zunächst befristeter Aufenthaltsperspektive zugewandert. „Dieser Zuwachs ist freilich immer noch zu niedrig, um den wachsenden Fachkräftemangel sowie die starke Abwanderung von Qualifizierten aus Deutschland auszugleichen“, so der SVR.

In den letzten 15 Jahren haben nach Angaben des Sachverständigenrates über eine halbe Million mehr Deutsche das Land verlassen als zurückgekehrt sind. Das Niveau der Abwanderung in andere europäische Staaten nach Bildungsabschlüssen und beruflicher Qualifikation liege dabei höher als das der Erwerbsbevölkerung in Deutschland.

„Während es jahrzehntelang hohe, von der Politik vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosenzahlen oft als bedrohlich vorgestellte Zuwanderungsgewinne gab, schrumpften die Wanderungsgewinne in Deutschland seit Jahren immer mehr, bis schließlich 2008 und 2009 erstmals Wanderungsverluste zu verzeichnen waren (2009: minus 13.000)“, so der SVR. Der fehlende Puffer zur Abfederung werde den beschleunigten demografischen Wandel am Arbeitsmarkt noch härter durchschlagen lassen. „Wir sind noch im Vorfeld des demografischen Orkans. Wenn der doppelte Abiturientenjahrgang 2013 seinen Weg auf den Arbeitsmarkt gefunden hat, wird es rasch stürmischer werden“, sagte Bade voraus. Der SVR fordert deshalb neben einer auch nachholenden Qualifikationsoffensive, die alle verfügbaren Potenziale erschließt, zusätzliche Reformschritte, um mehr hochqualifizierte Fachkräfte für den Zuzug nach Deutschland zu gewinnen.

Dafür gibt es Rückhalt in der Bevölkerung. Die Ergebnisse des SVR-Migrationsbarometers zeigen: Eine klare Mehrheit von rund 60 Prozent der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund befürwortet eine stärkere Zuwanderung von Hochqualifizierten.

Drei-Säulen-Modell
Zur aktuellen Reform der Zuwanderungssteuerung empfiehlt der SVR zunächst ein Drei-Säulen-Modell: Senkung der Mindesteinkommensgrenze für ausländische Hochqualifizierte von derzeit 66.000 Euro auf ca. 40.000 Euro Jahresbrutto.

Des Weiteren wird eine forcierte „Bleibepolitik“ gegenüber internationalen Studierenden als ideale Zuwanderergruppe empfohlen. „Sie sind jung, gut qualifiziert, mit in der Regel guten Deutschkenntnissen, vertraut mit den Institutionen des Landes. Sie sollten deshalb nach Abschluss ihres Studiums für die Arbeitsplatzsuche in Deutschland statt nur einem, zwei Jahre Zeit bekommen bei großzügiger Auslegung der Forderung nach studienbezogener Angemessenheit des Arbeitsplatzes“, erklärte der Sachverständigenrat.

Schließlich ist nach Einschätzung der Migrationsexperten die Einführung eines flexiblen Punktesystems erforderlich. Es soll ein befristeter Modellversuch sein mit anschließender Evaluation, zunächst begrenzt auf den derzeit am stärksten vom Fachkräftemangel betroffenen MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik).

Migrationspolitische Runderneuerung
„Auf weite Sicht braucht Deutschland eine mutige Generalüberholung seines migrationspolitischen Steuerungssystems, wenn es den demo-ökonomischen Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein will“, erklärte Bade. Deutschland ist ein bald demografisch vergreisendes und schrumpfendes Migrationsland, das nur über eine einzige Ressource verfügt: das sog. Humankapital, also eine möglichst qualifizierte Erwerbsbevölkerung.

Neben der Qualifikationsförderung im Innern sei deswegen eine migrationspolitische Offensive nötig. Dazu gehörten mehrere Komponenten: a) der Versuch, die eigenen Spitzenkräfte im Land zu halten oder doch nicht auf Dauer zu verlieren; b) eine zumindest ausgleichende, möglichst dauerhafte Zuwanderung von Hochqualifizierten; c) eine teils dauerhafte, teils befristete Zulassung von Fachkräften und d) eine befristete bzw. saisonale Zulassung von Arbeitswanderungen in niedrig qualifizierte Beschäftigungsbereiche.

Dazu brauche das Land ein klares und politisch mutiges Gesamtkonzept. „Deutschland muss sich migrationspolitisch runderneuern“, erklärte der SVR-Vorsitzende. Wenn das gelinge, könne „Deutschland als Migrationsland im demografischen Wandel ein Modellprojekt“ werden.

Politik unterschätzt Migrationsrealismus
Der SVR bekräftigt seine Forderung: „Um die Abwanderung von Spitzenkräften aus Deutschland zu bremsen und die Zuwanderung solcher Kräfte zu steuern, muss Deutschland im Inneren und nach außen attraktiver werden“. Bade: „Sonst gehen die, die wir brauchen und zureichender Ersatz bleibt aus. Beides hat mit dem gleichen Mangel an Attraktivität zu tun.“

Erstaunlich dabei ist, dass dies die Bürger klarer sehen als die Politik glaubt: Die Ergebnisse der SVR-Befragung von November/Dezember 2010 zeigen: ein hohes Informationsniveau, eine weitgehend realistische Einschätzung der Migrationsverhältnisse und differenzierte Erwartungen an die künftige Migrationspolitik. Mehr als die Hälfte der Befragten hält z. B. die Abwanderung aus Deutschland für zu hoch und deshalb für problematisch. Dieser Ansicht waren 64,2 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund und 61,6 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund.

Das Migrationsbarometer belegt auch eine überraschend hohe Zustimmung zu einer verstärkten Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden: 48,5 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund und 40,9 Prozent der Zuwandererbevölkerung befürworten dies. „Auch hier verwechselt Politik die nüchternen Einschätzungen der Bürgergesellschaft oft mit hysterischen publizistischen Diskursen“, erklärte der SVR-Vorsitzende. Politik sollte die Einsicht der Bürger in Sachen Migration nicht länger unterschätzen. Aufgegeben werden sollte „die handlungslähmende bzw. Nichthandeln legitimierende Berufung auf eine angeblich verbreitete ‚Das Boot ist voll‘-Panik.“

Kulturpanik erschwert Zuwanderungspolitik
Das SVR-Jahresgutachten prüft weiter, welche Länder künftig als Ausgangsräume für eine Zuwanderung (hoch-)qualifizierter Arbeitskräfte in Frage kommen könnten. Dies sind neben osteuropäischen Ländern, in denen aufgrund der demografischen Entwicklung die Zuwanderungspotenziale allerdings abnehmen, u. a. auch die vorwiegend muslimisch geprägten Staaten Nordafrikas. Der SVR warnt daher dringend vor „auch wirtschaftsfeindlicher populistischer Kulturpanik“.

Innenpolitisch und wahltaktisch motivierte kulturalistische Abwehrhaltungen gegenüber Zuwanderung aus Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung werde nicht nur von muslimischen Fachkräften innerhalb und außerhalb Deutschlands aufmerksam registriert. Sie würden auch auch ganz allgemein dem Zuwanderungsstandort Deutschland schaden. Bade: „Statt Populismus brauchen wir pragmatische Offenheit, eine kritische Willkommenskultur und institutionelle Maßnahmen wie z.B. eine stärkere Einbindung der Konsulate und der Außenhandelskammern bei der Anwerbung qualifizierter Zuwanderer.“

Marshall-Plan für Nordafrika
Angesichts der Umbruchsituation in den nordafrikanischen Ländern müsse auch die EU ihre Migrations- und Flüchtlingspolitik überdenken. Die ‚Festung Europa‘ dürfe sich nicht länger darauf beschränken, ihre Außengrenzen abzuschotten und sich in überschaubarem Umfang der legalen Zuwanderungswege öffnen.

Download: Das zweite Jahresgutachten „Migrationsland 2011“ des Sachverständigenrates kann als PDF-Datei kostenlos heruntergeladen werden.

Ein mögliches Instrument dazu seien zirkuläre Migrationsprogramme, die sich am Arbeitsmarktbedarf der Aufnahmeländer orientieren und zugleich entwicklungspolitische Ziele verfolgen. Da die Grenzen zwischen Flucht- und Wirtschaftswanderungen fließend seien, sollten bei der Flüchtlingsaufnahme in gewissem Umfang auch Interessen des Aufnahmelandes eine Rolle spielen dürfen. Das dürfe aber nicht auf Kosten humanitärer Verpflichtungen gehen.

Akut müsse die EU insbesondere den nordafrikanischen Ländern Entwicklungsperspektiven bieten. Die von der EU-Kommission ins Auge gefassten erleichterten Handelsbeziehungen, Visaerleichterungen, ein Studentenaustauschprogramm und Regelungen für legale Arbeitsmigration weisen nach Einschätzung des SVR in die richtige Richtung. Notwendig sei aber letztlich eine Art Marshall-Plan für Nordafrika. (bk)