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Wilders: „Ungleiche Fälle brauchen nicht gleich behandelt zu werden“

Am 30. März 2006 veröffentlicht die Groep Wilders/Partij voor de Vrijheid (PVV) eine programmatische Schrift mit dem Titel „Klare Wijn“ („Reiner Wein“). Darin fordert sie ohne Umschweife die Degradierung der niederländischen Moslems zu Staatsbürgern 2. Klasse.

In „Klare Wijn“ radikalisiert die Anti-Islam-Bewegung mit ihrem Vorsitzenden Geert Wilders vor 5 Jahren ihren Forderungskatalog. Da der reine Islam „intrinsisch undemokratisch“ sei, fordern die Autoren der Schrift die Abschaffung bzw. Ersetzung des 1. Artikels der niederländischen Verfassung.

Dieser Artikel lautet: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Diskriminierung wegen Religion, Weltanschauung, politischer Gesinnung, Rasse, Geschlecht, aus welchem Grund auch immer, ist nicht erlaubt.“

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In „Klare Wijn“ heißt es: „Unsere Verfassung sagt nichts über unsere Identität und Herkunft. Und das ist eine verpasste Gelegenheit, weil gerade dieser Text eine Aufzählung von zum Beispiel unseren Rechten und Freiheiten, den wichtigsten Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaates, bietet. Dieser demokratische Rechtsstaat ist aus einer jahrhundertelangen Diskussion zwischen den zwei Traditionen, die unsere Kultur geschaffen haben, entstanden: die jüdisch-christliche und die humanistische. Die Normen und Werte, so wie sie im Spannungsfeld zwischen diesen Traditionen entstanden sind, bilden unsere dominante Kultur und diese verdient es als solche in einem neuen Artikel 1 unserer Verfassung festgelegt zu werden. Sie bilden nicht nur die Basis, sondern auch die Grenzen unserer Zivilisation.

Dieser neue Artikel 1 muss den derzeitigen Artikel 1 ersetzen. Im derzeitigen Artikel ist der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung formuliert. Nun wird sich niemand für Diskriminierung aussprechen. Aber in der alltäglichen Praxis zeigt sich, dass das Gleichheitsdenken es unmöglich macht, unsere Probleme zu benennen und falls nötig einen gerechtfertigten Unterschied zu machen. Der derzeitige Artikel 1 führt in der Praxis also allzu oft zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit und verhindert es, gerechtfertigte Unterschiede zu machen, indem alles auf den großen Haufen ‚Diskriminierung‘ geworfen wird. Ungleiche Fälle brauchen nicht gleich behandelt zu werden. Und Dinge, wie schön sie auch sein mögen, die einer klaren Diskussion und Lösungen im Weg stehen, müssen aus dem Wege geräumt werden.“

Danach fügen die Autoren Folgendes hinzu: „So lange nicht klar ist, dass die niederländische Moslemgemeinschaft die Ordnung und Spielregeln des niederländischen Rechtsstaates von Herzen akzeptiert, fehlt das Vertrauensfundament, das notwendig ist, um ihr grundgesetzliche Rechte und Freiheiten in demselben Maße zuzuerkennen wie allen anderen Gruppen in den Niederlanden, die diese Ordnung und Spielregeln gebildet haben und tragen.“

Es ist offenkundig: Mit der Ablehnung des bestehenden 1. Artikels der niederländischen Verfassung verlässt Geert Wilders den Boden des demokratischen Rechtsstaates. In älteren programmatischen Schriften, darunter die „Onafhankelijkheidsverklaring“ („Unabhängigkeitserklärung“) aus dem Jahre 2005, hat der ehemalige VVD-Abgeordnete – zumindest oberflächlich betrachtet – in erster Linie fanatische Islamisten oder gewaltbejahende Moslems ins Visier genommen.

Doch bereits in dieser Schrift hat er behauptet, Islam und Demokratie seien unvereinbar. Daraus zieht Wilders ein Jahr später die – bei dieser Lesart logische – Konsequenz, Anhängern einer (angeblich) demokratiefeindlichen Religion die Gewährung gleicher Rechte und Freiheiten zum Schutze des niederländischen Staates zu verwehren. In „Klare Wijn“ sprechen die Autoren nicht von den oben genannten – fraglos gefährlichen – Gruppen, sondern pauschal von „der niederländischen Moslemgemeinschaft“. Alle Moslems geraten somit unter Generalverdacht und werden quasi in „Sippenhaft“ genommen.

Es ist darüber hinaus überhaupt nicht klar, wann, wie bzw. durch welche Instanz ihre Degradierung zu Staatsbürgern zweiter Klasse widerrufen werden soll. Bei einem Blick in die Programmatik der Groep Wilders/Partij voor de Vrijheid liegt der Gedanke nahe, dass in diesem Zusammenhang auf die neu einzuführende Institution des bindenden Referendums „bei Themen, die von einer essentiellen Wichtigkeit für die Zukunft (des) Landes sind, so wie z. B. Verfassungsänderungen“ (so die „Onafhankelijkheidsverklaring“) zurückzugreifen wäre.

Sofern die Wilders-Bewegung ihr eigenes Programm ernst nimmt – wovon selbstverständlich auch vor dem Hintergrund radikaler Ideen bzw. einer nahezu ausgeschlossenen Umsetzung auszugehen ist – wäre eine solche Volksbefragung notwendig, um den neu zu kodifizierenden Verfassungsartikel 1 ohne Diskriminierungsverbot wieder abzuschaffen.

Unabhängig davon ist nicht ersichtlich, welche Taten die niederländischen Moslems vollbringen müssen, um den gegen sie erhobenen Generalverdacht zu entkräften: Wie lange müssen sie sich als zuverlässige Staatsbürger in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft bewähren? Wie viele von ihnen dürfen Straftaten begehen, ohne dass die Vergehen einzelner Folgen für die Dauer der „Bewährungszeit“ aller haben? Und wie stellt man fest, ob die niederländischen Moslems die Demokratie westlicher Prägung tatsächlich „von Herzen“ und nicht nur vorgeblich akzeptieren? (Man denke hier auch an Wilders‘ wiederholt vorgetragenen Taqiyya-Vorwurf!).

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich die Degradierung im Alltag auswirken könnte. Ist es denkbar, dass der neue Artikel 1 im Falle einer konsequenten Umsetzung in die Praxis für niederländische Moslems letztendlich zu einem Ausschluss von Gymnasien, Universitäten oder gesellschaftlich einflussreichen bzw. prestigeträchtigen Positionen im Berufsleben führt? Staatsbürger zweiter Klasse, die eine potenzielle Bedrohung für die autochthone Mehrheitsbevölkerung darstellen, würden wohl kaum von jener die Gelegenheit bekommen, sich als Lehrer, Polizeibeamte oder Spitzenpolitiker zu beweisen. Die von der PVV im Rahmen der Schrift „Een Nieuw-realistische visie“ („Eine neo-realistische Vision“, 2006) selbst angeführte Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit (Tocqueville) würde in der Theorie unter Umständen dazu führen, die verfassungsrechtlich zurückgesetzte Minderheit auch sozial und ökonomisch definitiv ins Abseits zu stellen. Wäre es denkbar, dass die Mehrheit nach einer längeren Periode der staatlich verordneten Diskriminierung von sich aus dazu übergeht, die Minderheit durch eine per Referendum erzwungene Verfassungsänderung als Konkurrentin auf dem Arbeitsmarkt etc. zurück ins Boot zu holen?

Diese Gedankenspiele zeigen, dass sich die PVV im März 2006 als radikal islamfeindliche, extremistische Bewegung empfiehlt, die durch ihre Positionierung alle demokratischen Parteien sowie den demokratischen Rechtsstaat in seiner Gesamtheit aufs Schärfste herausfordert.

Darüber hinaus entfernt sie sich mit ihrer geradezu anti-zivilisatorisch anmutenden Forderung nach einer Abschaffung des Gleichheitsgrundsatzes weit von den oft beschworenen christlich-jüdischen und humanistischen Wurzeln des Abendlandes. Damit degradiert Wilders sich selbst und seine neue politische Bewegung zum zutiefst unniederländischen Fremdkörper bzw. zur Out-groep im politischen Den Haag.

Parallelen zur Programmatik bzw. zum Ideengut klassischer rechtsextremistischer Parteien wie der NSDAP treten bei einer näheren Betrachtung der möglichen Folgen einer Abschaffung des Gleichheitsgrundsatzes deutlich zutage. Schließlich wurde auch im Dritten Reich eine ganze Bevölkerungsgruppe pauschal staatlicherseits diskriminiert und später sogar weitestgehend eliminiert (Aufrufe zur Gewalt fehlen in der Wilders-Programmatik!). Auch damals wurde dieser Schritt u.a. mit einer angeblichen Gefahr, die von der stigmatisierten Bevölkerungsgruppe für die Interessen der Mehrheitsgesellschaft ausginge, begründet. Eine Bevölkerungsgruppe, die von der Propaganda der rechtsextremistischen Hetzer ebenfalls zuvor in ihrem Wesen als „fremdartig“ tituliert worden war. Es erscheint deshalb sehr naiv, diese offensichtlichen Parallelen im Interesse eines „sachlichen“ Umgangs mit Geert Wilders und Co. zu verleugnen. Alarmismus ist unangebracht, da die übergroße Mehrheit der Niederländer deren Forderungskatalog nicht unterschreibt (s. dazu auch die Studie des Sociaal en Cultureel Planbureaus mit dem Titel „De sociale staat van Nederland 2009“). Eine Gesetzgebung „PVV pur“ ist nicht zu erwarten. Trotzdem sollten gerade die offiziellen, radikalen Aussagen der Schrift „Klare Wijn“ Politiker, Journalisten und andere Bürger davon abhalten, Wilders als „ganz normales“, domestizierbares Mitglied der demokratischen Familie zu betrachten.

„Klare Wijn“ verhagelt darüber hinaus eine sachliche, unbedingt zu führende Debatte über die Normen und Werte, die es ermöglichen, westliche Demokratien am Anfang des 21. Jahrhunderts zusammenzuhalten.

„Dank“ Wilders geraten berechtigte Forderungen an Moslems, darunter z.B. die unzweideutige Bejahung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Trennung von Staat und Kirche oder der – auch im Westen noch nicht ausgereiften – Gleichstellung von Homosexuellen, unter den Generalverdacht des Fremdenhasses bzw. eines aggressiven Kulturchauvinismus.

Keine Frage: Der reine Wein der PVV ist pures Gift.