Wochenrückblick

KW 51/10 – Weihnachten, Sarrazin, Islamophobie

Die Themen der 51. Kalenderwoche: eine böse Weihnachtsgeschichte aus Dänemark; Sarrazins neueste Lüge; der Unterschied zwischen einer Meinung und einer Erfahrung; ein Beispiel für einen islamophoben Kurzschluss und ein Beispiel für die Entwicklung hin zu einem Euro-Islam.

Die für dieses Jahr charakteristische Weihnachtsgeschichte liefert uns Dänemark.
Erzählt wird sie von Reinhard Wolff in der taz. Der Bibelkenner wird an die Probleme mit der Herberge in Bethlehem denken.

„Dänisch?“, das ist die erste Frage, die einem Obdachlosen gestellt wird, wenn er in Kopenhagen in einer der 17 Herbergen Schutz vor der klirrenden Kälte suchen will. Nein? Dann bleibt die Tür zu.

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Das ist Gesetz. 2007 hat die ob ihrer restriktiven Ausländerpolitik europaweit berüchtigte dänische Regierung das Sozialgesetz geändert. Seither wird Obdachlosenunterkünften, die AusländerInnen aufnehmen, die öffentliche Unterstützung gestrichen. Die Aussicht auf ein Bett oder eine warme Suppe könne ansonsten „Dänemark zur Wärmestube der ganzen Welt machen“, begründete die damalige Sozialministerin Karen Jespersen das Gesetz.

April Chris hat daraufhin die Initiative „En Varm Seng“ (Ein Warmes Bett) gegründet, fünf Zimmer in am Axeltorf angemietet und mit je acht Doppelstockbetten ausgestattet. Außerdem bekommt man dort ein warmes Essen. Nach dem Pass wird nicht verlangt.

Der dänische Staat freilich lässt sich so etwas unverschämt Menschliches nicht bieten – und steigt in die Fußstapfen von König Herodes:

Der frühe strenge Winter hat in diesem Jahr die Obdachlosenfrage in Dänemark verschärft. Die Regierung scheint das nicht zu beieindrucken. Die Herberge von „En Varm Seng“ am Axeltorv war vor eineinhalb Wochen Ziel einer Polzeirazzia. Nachts um 3 Uhr holten 30 Polizeibeamte 91 schlafende Menschen aus dem Bett und nahmen 69 von ihnen wegen ihrer ausländischen Herkunft fest. 51 sollten ausgewiesen werden, hieß es erst, später wurde die Zahl 19 genannt. Unter ihnen EU-MitbürgerInnen aus Rumänien, Spanien und Frankreich. „Für Dänemark scheint die Freizügigkeit für EU-Bürger nicht zu gelten“, wunderte sich ein 24-jähriger Spanier.

Das wiederum führt zur „christlichen“ Reaktion der Zivilgesellschaft:

Nachdem einige Medien die Situation der ausländischen Obdachlosen zum Thema machten, gab es eine regelrechte Welle der Hilfsbereitschaft. Die Schuhfirma Ecco schenkte „En Varm seng“ 300 Paar Winterschuhe, die Veranstalter des Roskilde-Festivals spendeten umgerechnet rund 80.000 Euro, und ein Bauernhof liefert jetzt jeden Tag kostenlos frische Milch. „Ein Rentner kam mit 2.000 Kronen vorbei“, erzählt April Chris, „ein junges Ehepaar mit 10.000, eine 17-Jährige mit den 1.500 Kronen, die sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und zwei Afghanistanveteranen mit ihren Militärstiefeln.“

Bemerkenswert auch die Stellungnahme der politischen Opposition: Sie fordert die Städte und Gemeinden auf, das unmenschliche Gesetz zu brechen:

„Tun wir das nicht und lassen die Leute erfrieren, brechen wir ganz andere Gesetze.“

Die Mutter aller Lügen. Sarrazin übertrifft sich selbst.
In der FAZ zu Weihnachten schrieb Sarrazin: „Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten.“

Da verschlägt es uns die Stimme. Auch Der Freitag schluckt zuerst einmal, dann legt er los:

Das stimmt einfach nicht. Es ist eine Lüge. Und zwar eine offensichtliche, die den Leser fassungslos macht. Es ist nicht nur so, dass keineswegs keiner Sarrazins Thesen bestritten hat – sondern es ist vielmehr so, dass die Experten geradezu kohortenweise über Sarrazins Kurzschlüsse hergefallen sind.

Im Anschluss daran gibt Der Freitag einen knappen Überblick darüber, dass fast alle wesentlichen Zahlen und kaum eine seiner Schlussfolgerung einer vehementen und vernichtenden Expertenkritik entgangen ist, von den peinlichen Ausflügen in die Genetik bis zu den paranoischen demografischen Prognosen.

„Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten.“ – Wie ist es möglich, dass Sarrazin die Flut von Widerspruch einfach leugnet?

Er bedient sich der Argumentationstechniken, die man von Rechtsradikalen kennt oder von Scientologen. Er lügt einfach. Und wenn er widerlegt wird, leugnet er auch das. Die Lüge ist das Wesen der Demagogie. Wir sind an die Lüge nicht gut gewöhnt. Es ist nicht einfach, in der Öffentlichkeit mit der Lüge umzugehen. Der Lügner hat es leicht. Er behauptet. Der einzige Weg, mit einem gewohnheitsmäßigen Lügner umzugehen, ist ihm das Wort zu entziehen. Aber die FAZ hat zu Weihnachten einem Lügner das Wort erteilt.

Meinungen und Erfahrungen
Leider nicht online, auch nicht zum Thema Migration formuliert, aber doch für unser Verständnis der aktuellen Migrationsdebatte hilfreich ist ein Gedanke, den der amerikanische Journalist Walter Lippmann 1920 (!) niedergeschrieben hat und den Nikolaus Piper in der SZ („Journalisten im Bürgerkrieg“, 24. Dezember 2010, Seite 23) zitiert:

Aber wo alle Nachrichten aus zweiter Hand kommen, … reagieren die Menschen nicht mehr auf Wahrheiten, sie reagieren nur noch auf Meinungen. … Das Umfeld, in dem sie handeln, ist nicht mehr das der Wahrheiten selbst, sondern das Pseudo-Umfeld der Berichte, Gerüchte und Vermutungen.

Was wissen diejenigen, die über Migranten und Muslime urteilen, aus erster Hand, aus direkter Erfahrung? – Es ist wohl kein Zufall, dass die Ablehnung von Migranten und Muslimen genau dort am heftigsten ist, wo es die wenigsten gibt.

Der islamophobe Kurzschluss
wird exemplarisch (und unfreiwillig) exerziert von Leon de Winter in der Welt. Der Autor hält den weltweiten Sicherheitswahn, wie er sich bei den intimen Kontrollen auf unseren Flughäfen austobt, für völlig sinnlos.

Wir kennen das Profil des möglichen Terroristen: Der potenzielle Selbstmordattentäter ist ein junger Muslim männlichen Geschlechts. Trotzdem findet anstelle einer gezielten Kontrolle islamischer Reisender eine generelle Kontrolle statt, die die Gegebenheiten komplett ignoriert. …

Warum werden die Kontrollen nicht vornehmlich auf junge muslimische Männer ausgerichtet? Daran sind unsere politischen und kulturellen Eliten schuld, die sich weigern, den Islam selbst als potenzielle Quelle der Aggression und der Mordgier anzusehen. …

Man könnte einwenden, dass junge männliche Muslime es dann eben mit gefälschter Identität versuchen könnten. Auf diesen nahe liegenden Einwand geht de Winter nicht ein. Er fährt fort:

Wenn man sich jedoch auf junge muslimische Männer konzentrierte (was man eben nicht tut), könnte womöglich unterstellt werden, dass man sehr wohl weiß, wo der Hund begraben liegt: Das gemeinsame Merkmal all dieser potenziellen Selbstmordattentäter ist ihr Glaube, dass Allah dieses Henkerswerk von ihnen verlangt. …

Nicht alle jungen Muslime wollen Flugzeuge in die Luft sprengen. Aber bis jetzt ist jeder von denen, die ein Flugzeug in die Luft hätten sprengen können, ein junger Muslim gewesen. Die strenge Kontrolle sämtlicher Flugreisender ist also nichts anderes als ein kostspieliges Ritual, das dazu dienen soll, die Gruppe, aus der die Terroristen stammen, zu schonen. Also bleibt niemand verschont. Das ist symptomatisch für die Schüchternheit von unsereins gegenüber dem Islam, die uns lieber die Augen vor den Gefahren verschließen lässt, die dessen radikale Auslegung mit sich bringt.

Bemerken Sie irgendeine Schüchternheit gegenüber dem Islam und den Muslimen in unserer veröffentlichten Meinung, in unseren Medien? Manche weigern sich, eine Religion generell haftbar zu machen für die mörderische Interpretation der Religion durch eine kleine Minderheit. Aus gutem Grund. De Winter aber sieht Den Islam selbst am Werk:

Die gezielte Kontrolle junger Muslime auf Flughäfen ist tabu, weil der Gedanke tabu ist, dass am Islam etwas nicht taugt. Das ist der Grund, weshalb wir jetzt auf Flughäfen ausgezogen werden.

Ist dieser Schluss logisch? Würden wir nur noch junge, von ihrem Pass her als Muslime identifizierbare Männer kontrollieren, wenn wir zur Ansicht kämen, dass der Islam selber die Gefahr darstellt? Nähmen wir dies an, könnten wir gleich der gesamten islamischen Welt – 1,5 Mrd. Menschen – den Krieg erklären. Anzunehmen, dass da sogar Leon de Winter für einen Moment mal schüchtern reagieren würde.

Eine mögliche Version des Euro-Islam: Penzberg
Benjanim Idriz ist der Imam der Moschee im oberbayerischen Penzberg. Er hat ein Buch veröffentlicht, in dem er zeigt, was im Islam alles für Entwicklungsmöglichkeiten hin zu einem liberalen Verständnis stecken. Die Presse berichtet darüber:

„Grüß Gott, Herr Imam“ – den Gruß höre er täglich, sagt Idriz. In Penzberg sei er mittlerweile wie die katholischen und evangelischen Pfarrer Teil des „Wir-Gefühls“. „Grüß Gott, Herr Imam“ heißt auch das Buch, das er nun veröffentlicht hat. Was er darin schreibt, könnte eine pro-muslimische PR-Abteilung nicht perfekter formulieren. Der gute Muslim, wie er Idriz vorschwebt, ist der ideale Staatsbürger, die Scharia ist „eine Sache der Interpretation“, das Kopftuch verzichtbare Tradition; Koranverse vom Krieg seien historisch bedingt und hätten im Euro-Islam keinen Platz. Mädchen sollen zum Schwimmunterricht gehen.

Es fällt der für Die Presse berichtenden Journalistin schwer, den durch anti-islamische Ressentiments genährten Verdächtigungen gegen Idriz, Penzberg, den Islam zu entgehen. Warum aber sollte dem Islam in Europa nicht gelingen, was dem Christentum gelungen ist – die Aufklärung mitzugehen?