Bundestag

Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte

Am 16. Dezember 2010 wurde im Bundestag über den Antrag der Grünen „Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen“ beraten. MiGAZIN dokumentiert die Redebeiträge von Reinhard Grindel (CDU/CSU), Rüdiger Veit (SPD), Serkan Tören (FDP), Sevim Dağdelen (Die Linke) und Memet Kilic (Die Grünen).

Reinhard Grindel (CDU/CSU)
Der Antrag der Grünen für eine visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger zeigt erneut die fundamentalen Unterschiede in der Integrationspolitik zwischen CDU/CSU und den Grünen.

Wir stellen die Integration der bei uns lebenden Ausländer in den Mittelpunkt. Wir wollen fördern und fordern. Das gilt gerade für die zum Teil seit vielen Jahren bei uns lebenden Ausländer, die bisher zu wenig von unseren Integrationsangeboten Gebrauch gemacht haben. Um die Integrationsprobleme nicht ständig zu verschärfen, sorgen wir gleichzeitig für die Steuerung der Neuzuwanderung unter Integrationsgesichtspunkten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Pflicht, dass Ausländer deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen, bevor sie zuwandern dürfen.

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Die Grünen verfolgen dagegen das Konzept der völlig ungesteuerten Zuwanderung. Sie sind für Multikulti, ein Nebeneinander ohne Miteinander, bei dem nicht darauf geachtet wird, ob Integrationsangebote auch tatsächlich angenommen werden. Visafreiheit für türkische Staatsangehörige heißt Verzicht auf jegliche Kontrolle, wer zu uns kommt, warum jemand nach Deutschland will und ob die betreffenden Personen auch wieder unser Land verlassen. Visafreiheit für türkische Staatsangehörige kann zu einer völlig unkontrollierten Zuwanderung nach Deutschland führen. Im Ergebnis bedeutet dies: Visafreiheit für türkische Staatsangehörige verschärft die Integrationsprobleme. Das lehnen wir ab.

Dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Visafreiheit und unkontrollierter Zuwanderung gibt, lässt sich am Beispiel Serbiens und Mazedoniens nachweisen. Kaum hat die EU hier die Visafreiheit durchgedrückt, sind die Asylbewerberzahlen aus diesen Ländern hochgeschnellt: Im August kamen 255 Asylantragsteller aus Serbien, im Oktober waren es schon 1 083. Aus Mazedonien kamen im August 162, im Oktober waren es schon 746. Serbien und Mazedonien führen jetzt die Liste der Herkunftsländer der Asylbewerber an. Es zeigt sich, dass auf derartige Entscheidungen der EU seitens der Betroffenen sofort reagiert wird. Es wäre deshalb an der Zeit, die Visafreiheit für diese Länder zu überprüfen. Es wird niemand ernsthaft behaupten, dass der Migrationsdruck in der Türkei geringer wäre als in Serbien.

Insofern ist absehbar, dass wir eine dramatische Zunahme von Asylbewerbern aus der Türkei hätten, wenn wir die Visafreiheit einführen würden. Das kann gerade auch unter integrationspolitischen Gesichtspunkten niemand wollen.

Gelungene Integration setzt nämlich nicht nur die Integrationsbereitschaft der Ausländer voraus, sondern auch die der Aufnahmegesellschaft. Diese wird natürlich auf die Probe gestellt, wenn wir ansatzweise wieder Probleme bekommen, wie wir sie Anfang der 90er-Jahre mit der Unterbringung der großen Zahl von Asylbewerbern hatten.

Der Deutsche Städtetag schlägt bereits heute Alarm, weil etwa in Baden-Württemberg und Bayern die Unterbringung der Asylbewerber aus Serbien und Montenegro ausgesprochen schwierig sei. Es seien Engpässe bei der Unterbringung zu befürchten. Teilweise werden jetzt schon leerstehende Kasernen für die Unterbringung genutzt. Wer glaubt, dass es der Integrationsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft förderlich ist, wenn im Zuge der Bundeswehrreform Soldaten die Kasernen verlassen und diese dann mit Asylbewerbern belegt werden, der ist von der gesellschaftlichen Realität unseres Landes weit entfernt und – ich wiederhole das – schadet der Integration ganz gewaltig.

Zu einer glaubwürdigen Integrationspolitik gehört auch, dass wir uns von denen, die sich in einem erheblichen Umfang integrationsfeindlich verhalten, trennen können. Es ist aber gerade die Türkei, die in gar keiner Weise mit unseren Behörden so zusammenarbeitet, wie es das Völkerrecht verlangt und wie es grundlegende Voraussetzung wäre, wenn man zu Visaerleichterungen kommen wollte, die dann auch zu Visamissbrauch führen können, wodurch sich eine umgehende Rückführung der betroffenen türkischen Staatsbürger ergeben würde. Es passiert regelmäßig, dass Rückführungen in die Türkei an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der dortigen Behörden scheitern. Bevor man also über Visaerleichterungen auch nur nachdenkt, ist der Abschluss eines Rückübernahmeabkommens, das auch penibel eingehalten wird, Grundvoraussetzung.

Das Soysal-Urteil des EuGH zwingt uns auch überhaupt nicht zu einer Korrektur unserer Visapolitik. Nach diesem Urteil ist Deutschland verpflichtet, türkischen Lastkraftwagenfahrern im grenzüberschreitenden Güterverkehr eine visumfreie Einreise in die Bundesrepublik zu gewähren, nicht mehr und nicht weniger.

Deutschland ist weder verpflichtet, auch anderen Branchen des Dienstleistungsgewerbes die visafreie Einreise zu gestatten, noch – eine völlig absurde Vorstellung –, türkischen Staatsangehörigen Visafreiheit zu gewähren, die in Deutschland eine Dienstleistung in Anspruch nehmen wollen. Bei der Vereinbarung des Assoziierungsabkommens Anfang der 70er-Jahre hat niemand an die Frage der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit gedacht.

Dann sorgen sich die Grünen um die Wirtschaftskontakte zwischen der Türkei und Deutschland. Dazu kann ich nur darauf verweisen, dass wir schon im jetzigen Schengen-Recht Instrumente haben, die hier zu einer leichteren Abwicklung von Geschäftsvisa beitragen können. Es gibt das Bona-fide-Verfahren, bei dem sich Unternehmen in der deutschen Visastelle registrieren lassen und dann ohne persönliche Vorsprache Personen für die Visavergabe anmelden können.

Sollten wir endlich eine Visawarndatei haben, mit der wir möglichen Visamissbrauch schneller feststellen können, ist auch nichts dagegen einzuwenden, etwa bei solchen türkischen Bürgern auf eine persönliche Vorsprache in der Visastelle zu verzichten, die sich bereits zweimal rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben. Für einen regen Wirtschaftsaustausch und Besuchskontakte zwischen der Türkei und Deutschland kann also auch ohne die Visafreiheit gesorgt werden. Man muss nur von den bestehenden rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen und neue Sicherheitsnetze, wie die Visawarndatei, knüpfen und kann dann für eine Entbürokratisierung des Visumverfahrens sorgen.

Ich halte es aber für nicht hinnehmbar, wenn unseren Visastellen in der Türkei eine restriktive und undurchsichtige Visavergabepraxis vorgeworfen wird, die den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch beeinträchtigt. Ich kenne die Praxis in den Visastellen in Istanbul und Ankara von zahlreichen Besuchen sehr gut. Die Mitarbeiter machen dort einen hervorragenden Job und verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung für eine Arbeit, die nun nicht gerade zu den Traumposten im Auswärtigen Dienst gehört.

Dass es nun gerade die Grünen sind, die der jetzigen Bundesregierung eine restriktive Visapolitik vorwerfen, ist ja wohl auch politisch pikant. Es war der grüne Außenminister Fischer, der die Verantwortung für die Visaaffäre, einen der größten politischen Skandale der Nachkriegszeit, trägt. Es sind die Grünen gewesen, die durch den ideologisch motivierten Visaerlass Rahmenbedingungen geschaffen haben, die dazu führten, dass Zigtausende von Schwarzarbeitern, Prostituierten und Kriminellen bis hin zu Terrorgefährdern nach Deutschland kommen konnten. Sie haben die innere Sicherheit unseres Landes durch ihre Visapolitik gefährdet, und sie tragen die Verantwortung für das Leid vieler Frauen, die Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Sie haben ein für allemal das Recht verwirkt, anderen irgendwelche Vorschriften oder gar Vorwürfe in Sachen Visapolitik zu machen.

Rüdiger Veit (SPD)
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist uneingeschränkt zuzustimmen. An dieser Stelle möchte ich nur noch mein ausdrückliches Bedauern darüber äußern, dass die Bundesregierung ganz offensichtlich erst dazu aufgefordert werden muss, sich für die Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung innerhalb der Europäischen Union, aber vor allem auch bei uns in Deutschland, einzusetzen und diese vorzunehmen.

Serkan Tören (FDP)
Die Soysal-Entscheidung des EuGH hatte einen Fall der aktiven Dienstleistungsfreiheit zum Gegenstand. Nun ist es ist kein Geheimnis, dass in der deutschen Diskussion häufig Uneinigkeit darüber besteht, welche Folgerungen aus der Entscheidung für die passive Dienstleistungsfreiheit zu ziehen sind.

Für die Grünen ist die Sache aber offensichtlich klar. Die Ausführungen im Antrag suggerieren, aus dem Soysal-Urteil erfolge ein Recht auf visumfreie Einreise aller türkischen Staatsangehörigen zum Zweck des Empfangs von Dienstleistungen im Sinne der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit. Darunter falle dann auch die Gruppe der Touristen. Diese generelle und eindeutige Schlussfolgerung ist aus dem Urteil allerdings nicht zu ziehen. Und es sollte den Betroffenen auch nicht so verkauft werden. Die bisherige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung greift die Soysal-Entscheidung in erster Linie dahin gehend auf, dass sie die für die visumfreie Einreise angegebenen jeweiligen Aufenthaltszwecke von der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit abgrenzt. Auch die Bundesregierung hat hier ihre Haltung klargemacht.

Ich persönlich maße mir allerdings nicht an, hier Recht zu sprechen. Klar ist, wir Liberale haben uns stets dafür eingesetzt, das Urteil zügig und sauber umzusetzen. Sorge bereitet mir daher, dass auch für denjenigen Personenkreis, der klar definiert wurde, in der Praxis häufig Schwierigkeiten bestehen. Darunter fallen Personen, die rechtmäßig durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei mit Montage-und Instandhaltungsarbeiten sowie Reparaturen an gelieferten Anlagen und Maschinen beschäftigt werden, durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei als fahrendes Personal im grenzüberschreitenden Personen-bzw. Güterverkehr eingesetzt werden oder in Vorträgen oder Darbietungen von besonderem wissenschaftlichen oder künstlerischen Wert oder bei Darbietungen sportlichen Charakters in kommerzieller Absicht tätig werden wollen. Diese Schwierigkeiten im Umgang mit der visumfreien Einreise müssen untersucht und behoben werden.

Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Unser Außenminister Guido Westerwelle betont mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stets: pacta sunt servanda. Wir Liberale stehen dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ergebnisoffen und fokussiert weiterzuführen. Die Kollegen der Grünen fordern in ihrem Antrag, dem Stand der Beitrittsverhandlungen gemäß mit türkischen Staatsangehörigen umzugehen. Dieser Aussage kann ich mich nur anschließen. Aber es heißt zu Recht „dem Stand der Beitrittsverhandlungen“ angemessen. Und so sehr ich das persönlich bedaure, aber eine Visumfreiheit wäre derzeit eben nicht dem Stand der Verhandlungen angemessen. Denn richtigerweise drängt die Kommission zunächst auf Fortschritte beim Rückübernahmeabkommen mit der Türkei. Mit Blick auf diesen kritischen Punkt freue ich mich, dass es seit dem Frühjahr 2010 eine neue Dynamik in den Verhandlungen gibt. Es gilt, die Ergebnisse nun abzuwarten.

Gleichwohl möchte ich auf bestehende Missstände in diesem Zusammenhang hinweisen. Denn eines steht doch fest: Die derzeitige Visavergabe muss praktikabler ausgestaltet werden. Mit dieser Herausforderung befassen sich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen übrigens nicht.

Die aktuelle Praxis der Visavergabe ist häufig intransparent und für den Antragsteller mit hohen Wartezeiten verbunden. Zudem kennzeichnet ein immenser bürokratischer Aufwand das gesamte Verfahren. Das gilt für Antragsteller und das Personal in den Auslandsvertretungen gleichermaßen. Das verunsichert die Menschen und hat zunehmend Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Dabei ist die Türkei ein stets an Bedeutung wachsender Handels-und Geschäftspartner für Deutschland und die EU.

Mit Blick auf die Verfahren wäre es durchaus denkbar, den rein technischen Teil der Visumverfahren an kommerzielle, externe Dienstleister auszulagern. Die frei werdenden Kapazitäten könnten für eine intensivierte Antragsprüfung verwendet werden. Auch von der persönlichen Vorsprache sollte für bestimmte Personen abgesehen werden. Eine Vorsprache bei bewährten Reisenden bringt keine zusätzlichen Erkenntnisse. Darüber hinaus halte ich es auch für sinnvoll, über eine Ausdehnung der Vielreisendenregelung nachzudenken. Ziel muss sein, die Visavergabe effizienter zu gestalten und gleichzeitig die Ressourcen für die maßgebliche Tätigkeit, nämlich der Antragsprüfung, frei zu machen. Das ist insbesondere mit Blick auf die Qualität der Prüfungsergebnisse und somit für die Sicherheit von grundlegender Bedeutung.

Gemeinsam mit der Union werden wir Möglichkeiten einer praktikablen und effizienteren Umsetzung der Visavergabe eruieren.

Sevim Dağdelen (Die Linke)
Die Linke teilt die Grundintention des Antrags der Grünen. Allerdings halten wir die Erfolgschancen aus Erfahrung für sehr gering, besonders angesichts der sturen Antworten der letzten Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD auf die Anfragen der Linksfraktion zu den Konsequenzen aus dem Soysal-Urteil.

Die Linke hat bereits in der vorangegangenen 16. Wahlperiode die Bundesregierung mehrfach aufgefordert, das so genannte Soysal-Urteil – Rechtssache C-228/06 – des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Februar 2009 umzusetzen. Nach diesem Urteil dürfen infolge eines Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei keine strengeren Visumregelungen im Bereich der Niederlassungs¬und Dienstleistungsfreiheit für türkische Staatsangehörige gelten als zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls, das heißt zum 1. Januar 1973.

Während eine weitestgehende Mehrheitsmeinung in der Fachliteratur und in der Rechtsprechung aus dem Urteil schlussfolgert, dass zum Beispiel auch türkische Touristinnen und Touristen im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit visumsfrei nach Deutschland einreisen können müssten, begrenzt die Bundesregierung die Auswirkungen des Urteils auf die aktive Dienstleistungserbringung. Die zentrale Argumentation der Bundesregierung, wonach der Dienstleistungsbegriff des EGVertrages nicht auf das Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei übertragen werden könne, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Denn die Bundesregierung musste in einer Antwort auf eine der zahlreichen Kleinen Anfragen der Linksfraktion zum Soysal-Urteil einräumen, dass sich aus einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1984 „ein Indiz“ dafür ergibt, dass der Begriff der Dienstleistungsfreiheit im Kontext der Europäischen Union bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls 1973 die passive Dienstleistungsfreiheit mit umschloss (Bundestagsdrucksache 16/13931). Dass das Assoziierungsabkommen und der Gerichtshof keine „vollkommen deckungsgleiche“ Auslegung des Dienstleistungsbegriffs forderten, wie die Bundesregierung zur Rechtfertigung weiter vorbringt, ändert nichts daran, dass nach der ganz überwiegenden Rechtsprechung und Kommentierung der Dienstleistungsbegriff im Assoziationsrecht aus dem Begriff des EG-Vertrags und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abzuleiten ist und damit auch die passive Dienstleistungsfreiheit mit umfasst.

Ich will Ihnen diese nur schwer nachvollziehbaren juristischen Sachverhalte einmal in Klartext übersetzen: Der Eindruck ist doch, dass die Bundesregierung das Soysal-Urteil nicht umsetzen will, weil es ihr politisch nicht in den Kram passt. Denn das Ergebnis wäre eine weitgehende Visumfreiheit für türkische Staatsangehörige in Bezug auf Deutschland.

So hat auch der CSU-Europaabgeordnete Markus Weber in der Zeitung „Die Welt“ am 24. April 2009 bereits offen ausgesprochen, was hinter dem juristischen Herumgeeiere der Bundesregierung steckt: Es geht um das Schüren von sogenannten Überfremdungsängsten. Die Rechten sind getrieben von der – absurden – Vorstellung, das Soysal-Urteil könne ein Beleg für den „EU-Beitritt der Türkei durch die Hintertür“ sein. Als vermeintlicher Retter des christlichen Abendlandes fühlte sich die letzte schwarz-rote Bundesregierung entsprechend auch nicht an Recht und Gesetz gebunden.

Zum anhaltenden widerspenstigen Umgang der Bundesregierungen mit Urteilen des Europäischen Gerichtshofs passt, dass mir die Bundesregierung erst gestern eine Stellungnahme zum aktuellen Urteil des Gerichtshofs vom 9. Dezember 2010 (C-300/1/09) verweigerte.

Die von der Koalition im Rahmen eines aktuellen Gesetzentwurfs geplante Verlängerung der Mindestbestandszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegatten verstößt nach den Maßgaben dieses Urteils eindeutig gegen Europarecht. Das Assoziationsrecht sieht ein sogenanntes Verschlechterungsverbot für türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor; das heißt, dass unter anderem die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht erschwert werden darf. Auch zwischenzeitlich gewährte Erleichterungen dürfen nicht mehr zurückgenommen werden, hat der Gerichtshof nunmehr klar entschieden. Das träfe aber auf die von der Bundesregierung beabsichtigte Verlängerung der Mindestehebestandszeit zu. Die Bundesregierung muss deshalb ihr Gesetzesvorhaben stoppen, wenn schon nicht aus Interesse an den betroffenen Frauen, dann aus europarechtlichen Gründen. Doch auch hier prüft die Bundesregierung wahrscheinlich das Urteil bis zum Sankt¬Nimmerleins-Tag. Ich bin doch immer wieder überrascht, wie lange ein Bundesministerium braucht, um ein überschaubares, achtseitiges Urteil auszuwerten. Beim Soysal-Urteil war das ja ähnlich – aber ehrlich gesagt: Das jetzige Urteil vom 9. Dezember 2010 ist ungleich einfacher zu verstehen, zumal sich diese Entscheidung angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bereits angedeutet hat.

Die Bundeskanzlerin hat erst gestern hier im Plenum die Verantwortung Deutschlands „für eine gute Zukunft der Europäischen Union“ beschworen. Doch meint sie damit offenkundig nur die Verantwortung für die Interessen der Wirtschaft und des Finanzkapitals. Für die Linke stehen jedoch die Menschen und ihre Rechte im Mittelpunkt. Deshalb lehnen wir die Diskriminierung von Menschen generell und in diesem Fall türkischer Staatsangehöriger ab. Die Bundesregierung muss endlich das Soysal-Urteil umfassend umsetzen und ihre Diskriminierungspraxis gegenüber türkischen Staatsangehörigen einstellen.

Memet Kilic (Die Grünen)
Deutschland und die Türkei verbinden seit den 1960er-Jahren außerordentlich vielfältige und intensive Beziehungen:

Heute leben fast 3 Millionen türkischstämmige Menschen in Deutschland, was einen großen Einfluss auf Politik, Kultur und Wirtschaft hat. 700 000 Menschen mit Wurzeln in der Türkei besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Andererseits leben circa 100 000 Deutsche dauerhaft in der Türkei.

Deutschland ist seit langem wichtigster Handelspartner der Türkei. Exporte aus Deutschland in die Türkei wuchsen von Januar bis September dieses Jahres auf 9,2 Milliarden Euro. Die Türkei exportierte im selben Zeitraum Waren im Wert von 6,2 Milliarden Euro nach Deutschland. Nichtsdestotrotz ist Deutschland nicht mehr Hauptexporteur. Die Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist inzwischen auf 4 335 gestiegen. Hinzu kommt die starke Anziehungskraft der Türkei als Reise-und Urlaubsland. Im Jahr 2008 haben über 4 Millionen Menschen aus Deutschland die Türkei besucht. Auch im Bereich der Hochschulzusammenarbeit gehört die Türkei zu unseren wichtigsten Kooperationsländern. Mit der Gründung der ersten deutsch-türkischen Universität in Istanbul wird die Kooperation noch verstärkt.

Seit dem Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei 1963 ist die Türkei potenzieller Beitrittskandidat der EU, und seit Jahren führt die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Vor dem Hintergrund der langen und intensiven Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lässt sich die bestehende Visumpflicht für türkische Staatsangehörige während eines Kurzaufenthaltes nicht rechtfertigen. Nach geltender Praxis können nur bestimmte türkische Personengruppen und auch nur zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen visumfrei nach Deutschland einreisen. Wie der EuGH in seiner Soysal-Entscheidung im Februar 2009 festgestellt hat, verstößt diese Praxis gegen das Gemeinschaftsrecht. Danach haben türkische Staatsangehörige das Recht, zur Ausübung ihrer Dienstleistungsfreiheit während eines Kurzaufenthalts visumfrei nach Deutschland einzureisen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, die Vorgaben des EuGH richtig umzusetzen und sich dafür einzusetzen, dass auf EU-Ebene die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige bei einem Kurzaufenthalt aufgehoben wird.

Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten der EU sind gehalten, mit türkischen Staatsangehörigen und der Türkei dem Stand der Beitrittsverhandlungen gemäß umzugehen. Die Türkei verdient insbesondere angesichts der Aufhebung der Visumpflicht für Staatsangehörige aus den EU-Bewerberstaaten Serbien, Mazedonien und Montenegro gleiches Recht auch für ihre Staatsangehörige.

Die vorgeschlagene Visumfreiheit ist umso dringlicher, als die restriktive und undurchsichtige Visavergabepraxis der Deutschen Botschaft den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit der Türkei erheblich beeinträchtigt. Betroffene monieren wochen- oder sogar monatelange Wartezeiten, zu viel Bürokratie, nicht nachvollziehbare Begründungen für Ablehnungen und zu hohe Kosten. Es kommt nicht selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwierigen erfolglosen Verfahren vor der Deutschen Botschaft ihr Einreiserecht schließlich einklagen müssen.

Aber auch im privaten Leben verursacht die Vorgehensweise der deutschen Botschaft viel unnötiges Leid. Sie verhindert, dass Großeltern an der Hochzeitsfeier ihrer Enkel teilnehmen können, dass ein Mann mit eigenen Augen sehen kann, was für ein Leben sein Bruder in Deutschland führt oder dass eine Mutter ihr krankes Kind besucht. Menschen mit geringem Einkommen und solche ohne Familie in der Türkei haben so gut wie keine Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinnlosen und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende setzen.

Selbst bei Personen, die sogar nach der geltenden Regelung offensichtlich visumfrei nach Deutschland einreisen dürfen, verlangt die Deutsche Botschaft eine Vielzahl von Dokumenten und lässt die Betroffenen zeit-und kostenintensive Verfahren durchlaufen. So wird etwa türkischen Musikern und Künstlern, die in den USA studiert oder in Japan Ausstellungen eröffnet haben, die Einreise nach Deutschland durch die Deutsche Botschaft erschwert oder sogar verhindert. Ebenso scheitern Begegnungen von Städtepartnerschaften zwischen deutschen und türkischen Städten an abgelehnten Visaanträgen. Auch türkische und deutsche Unternehmen fordern eine Lockerung der Regelungen für die Visavergabe, wie sie Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, am 30. März 2010 bei ihrem letzten Besuch in der Türkei angekündigt hat. Anderenfalls drohe nach Angaben des Präsidenten der Deutsch-Türkischen Industrie-und Handelskammer ein Schaden für die Geschäfte mit der Türkei. Schon jetzt sei der deutsche Anteil an den Importen in die Türkei von 9,9 Prozent auf 9,1 Prozent gefallen. Von seinem ersten Platz als Lieferant ist Deutschland mittlerweile von Russland und China verdrängt worden. Einige türkische Unternehmer meiden mittlerweile die Deutsche Botschaft und beantragen ihre Visa bei Botschaften anderer Mitgliedstaaten der EU, da sie dort schneller und einfacher das begehrte Visum erhalten.

Nächstes Jahr feiern wir 50 Jahre Anwerbeabkommen. Das ist eine gute Gelegenheit, um mit der Visumfreiheit den Weg für noch offenere und intensivere deutsch-türkische Beziehungen frei zu machen.