Rückblick

Sarrazin schafft Deutschland ab

Wieso wurde Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ zum Bestseller? Mit welchen Folgen? Ein „Rückblick auf eine fatale Debatte“ vom Vorsitzenden des Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Klaus J. Bade.

Der soziale Frieden in einer Einwanderungsgesellschaft lebt vom Grundvertrauen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Einwandererbevölkerung. Die ‚Sarrazin-Debatte‘ hat über diesem, seriösen Umfragen zufolge in Deutschland nach wie vor tragenden Grundvertrauen, mancherlei Oberflächenwirbel erzeugt. Sie greifen unterschiedlich tief. Sie sind nicht zu verwechseln mit den in Deutschland seit den 1980er Jahren immer wieder zu beobachtenden Konjunkturen der Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit. Die folgten oft fahrlässiger Instrumentalisierung der Themen Migration und Integration zu Wahlkampfzwecken.

Spiel mit dem Feuer
Schon damals war dieses Spiel mit dem Feuer buchstäblich brandgefährlich, wie man spätestens Anfang der 1990er Jahre beobachten konnte. Aber Integration wurde da noch immer als Randthema eingeschätzt. Heute ist dieses Spiel mit dem Feuer noch gefährlicher, weil Integration ein Mainstream-Thema geworden ist. Deshalb bewirken von der Politik populistisch aufgenommene integrationshysterische Strömungen heute tiefer reichende Brüche in der politischen Kommunikation, möglicherweise sogar in der politischen Struktur.

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Indirekt warben für das Buches von Thilo Sarrazin auch Kohorten von publizistischen Animateuren: […] selbsternannte profes- sionelle Islamkritiker; […] denunziative islamophobe bzw. islamophage Agitatoren, in deren Reihen sich neuerdings auch altfeministische Frauenretterinnen eingeschleust haben …

Ausgangspunkt in Deutschland war das im Spätsommer 2010 erschienene Buch des früheren Berliner Finanzsenators, späteren Frankfurter Bundesbankvorstandes und – seines Buches wegen – heutigen Frührentners und wohlsituierten Auflagenmillionärs Thilo Sarrazin ‚Deutschland schafft sich ab‘. Sein Buch verzeichnete mit schon im Oktober 2010 erreichten 1,1 Millionen gedruckten Exemplaren innerhalb eines Vierteljahres in Deutschland die höchste Auflage seit 1945 und ist auch zuvor nur mit absoluten Auflagenspitzen vergleichbar: Der nationalsozialistische Ideologiestifter Arthur Rosenberg hat mit seiner Propagandaschrift ‚Der Mythos des 20. Jahrhunderts‘ für die gleiche Auflagenhöhe rund 14 Jahre gebraucht, von 260.000 Exemplaren der ‚Dünndruck-Ausgabe‘ abgesehen.

Damit sollen hier ausdrücklich nur Besteller-Auflagenzahlen, nicht aber Inhalte verglichen werden; denn Thilo Sarrazin ist weder ein Rassentheoretiker reinsten Wassers noch ein dumpfer Neonazi. Wer das behauptet, macht sich dem Umgang mit ihm und seinen Anhängern zu leicht. Es sind vielmehr die fließenden Grenzen zwischen nüchternen Bestandsaufnahmen mit pointierter Polemik einerseits, anthropologischen, ethno-nationalen und sozialbiologistischen Interpretationen andererseits, die dieses Buch so gefährlich machten, das nicht wenigen Lesern den Eindruck vermittelt, als geborene Deutsche schon mal kulturell im Vorteil zu sein.

Publizistische Desintegrationsindustrie
Sarrazins Buch war eine argumentative Feuerleitstelle für die Einschläge der schon lange zuvor in Stellung gebrachten Geschütze der publizistischen Desintegrationsindustrie. Seine Wirkung wurde, über die aggressive mediale Vermarktungsstrategie des zum Bertelsmann-Konzern gehörenden Verlags hinaus, forciert durch methodisch hochproblematische, weil zwar richtig gerechnete aber unvertretbar überinterpretierte wissenschaftliche Untersuchungen (‚je muslimisch-frommer, desto gewaltbereiter, je christlich-frommer, desto mildtätiger‘), durch quasiwissenschaftliche Bierdeckel-Demographie (Deutsche als ‚Fremde im eigenen Land‘) und durch volkskundliche Mausklick-Demoskopie (‚Ist der Islam gefährlich – ja oder nein?‘).

Nicht minder animierend wirkten populistisch-politische Redensarten zum Zweck der Selbstfindung in der Boulevard-Presse, vor allem aber skandalisierende Mediendiskurse nach dem bekannten Motto ‚Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht‘. Deshalb auch verkaufte sich die falsche Information, die Integration sei schlechter als ihr Ruf in Deutschland viel besser als die zutreffende gegenteilige Botschaft.

Das zeigt ein Vergleich des im Frühsommer 2010 vorgelegten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) „Einwanderungsgesellschaft 2010“ mit dem im Spätsommer erschienenen Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“. Heribert Prantl hat das in der Süddeutschen Zeitung vom 11.9.2010 eindringlich analysiert: „Gut zwei Monate vor dem Sarrazin-Buch ist das Buch erschienen, auf das seit dem Sarrazin-Buch alle warten […]. Es handelt sich um das Jahresgutachten ‚Einwanderungsgesellschaft 2010‘ samt einem ‚Integrationsbarometer‘. Dieses Werk […] ist in fast jeder Hinsicht ein Anti-Sarrazin.“

Indirekt warben für das Buches von Thilo Sarrazin auch Kohorten von publizistischen Animateuren: notorische Künder des kulturellen Untergangs der deutschen Nation; selbsternannte professionelle Islamkritiker, die heute in jeder Talkshow vertreten sein müssen, auch wenn es nur um Rasierschaum für muslimische Bartpflege geht; denunziative islamophobe bzw. islamophage Agitatoren, in deren Reihen sich neuerdings auch altfeministische Frauenretterinnen eingeschleust haben, die in appellativer Verzweiflung gegen die angeblich drohende ‚Schariarisierung‘ Europas ankämpfen.

Dabei geht es oft um publizistische Strömungen, die dahin tendieren, zum Teil auch expressis verbis dazu aufrufen, eine differenzierte, unaufgeregt-pragmatische Diskussion und das Bemühen um abgewogene Einschätzungen alarmistisch und agententheoretisch zu denunzieren – als intellektualistischen Relativismus, als ahnungslos-dümmliches Gutmenschentum oder gar als arglistige Teufelei im Dienste der islamistischen Weltverschwörung. Pöbelnde Unterstellungen machen heute auch nicht vor Präsidentenschelte Halt, z.B. im Blick auf die mutige und richtungweisende Bremer Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 2010.

Dabei trat in der islamophoben bis islamophagen Desintegrationspublizistik eine Botschaft des Bundespräsidenten ganz in den Hintergrund, die wichtiger war als das nicht mehr sonderlich originelle, weil schon 2006 zum Auftakt der Islam-Konferenz von dem seinerzeitigen Bundesinnenminister Schäuble geprägte Diktum, daß auch der Islam zu Deutschland gehöre. Die für die Einwanderungsgesellschaft in Deutschland viel wichtigere Botschaft lautete dem Sinne nach: Gesellschaftliche Vielfalt aushalten lernen ist eine Aufgabe für alle. Diese Vielfalt kann sich in Deutschland frei entfalten. Sie muß aber, wo nötig, entschieden, streitbar und abwehrbereit in den Grenzen unserer Verfassungsordnung gehalten werden. Deren wichtigster Grundgedanke aber ist es, daß der eigene Anspruch auf Recht und Freiheit sich nicht auf Unrecht und Unfreiheit für andere gründen darf.

Erkenntnisperspektiven
‚Nach Sarrazin‘ können Migrations- und Integrationsforscher ihre in Teilen durchaus verwandten eigenen, zum Teil schon Jahrzehnte zurückliegenden, aber politisch kaum beachteten kritischen Argumente und Warnungen kaum wiederholen, ohne als Sarrazin-Plagiaten zu gelten. ‚Nach Sarrazin‘ kann man auch die angesichts der jahrzehntelangen politischen Vernachlässigung des Themas durchaus überraschende, weil zumeist friedvolle Entwicklung der Integration in Deutschland nicht öffentlich anerkennen, ohne gefragt zu werden: ‚Haben Sie denn Ihren Sarrazin nicht gelesen‘? Positive Einschätzungen werden als einfältige prä-sarrazinöse, negative Bewertungen als epigonale Sarrazinaden bewertet. Sarrazins Buch forcierte deshalb die Diskussion nur zum Schein. Es wirkte in Wahrheit wie ein Bremsklotz und warf sie bereichsweise um Jahrzehnte zurück.

Der kauzige Sarrazin ist ein gewiefter Finanzökonom mit langer, hochrangiger Praxiserfahrung in verschiedenen Verwaltungs- und Politikbereichen. Er ersetzte die mangelnde Kenntnis des Forschungsstandes zu Migration und Integration im Blick von draußen durch den berühmt-berüchtigten gesunden Menschenverstand. In seiner Kritik an Integration und Integrationspolitik hat er dennoch eine ganze Reihe von – in der Forschungsliteratur allerdings längst bekannten – Problemen neu erkannt, wenn auch oft schief interpretiert und begründet. Dabei geht es, von jahrzehntelangen Unzulänglichkeiten in der Migrations- und Integrationspolitik und deren Folgen abgesehen, insbesondere um Strukturprobleme des Wohlfahrtsstaates mit seinen zum Missbrauch offenen Flanken. Dieser Mißbrauch aber kommt keineswegs primär aus düsteren Migrationshintergründen.

Die islamophobe Agitation gegen ‚die Muslime‘ führt erkennbar dazu, daß sich in der bestens integrierten neuen Elite mit Migrationshinter- grund, die wir in Deutschland dringend brauchen, die ohnehin zunehmende latente Abwanderungsneigung noch weiter verstärkt.

Sarrazin hat sich viel Mühe damit gemacht, das Rad neu zu erfinden, das sich auf dem Forschungsstand längst in vielfachen Versionen drehte, aber in der Politik wenig Beachtung gefunden hatte. Hätte er das alles berücksichtigt, wäre er in zitatenreichen Wiederholungen stecken geblieben. Hätte er seinen Bericht dennoch, aber nüchtern-sachlich und ohne skandalisierende Empörungssemantik geschrieben, dann wäre sein Buch gewiß kein Bestseller geworden. Er hat den Forschungsstand souverän übersprungen, die Wirklichkeit neu entdeckt und mit seinen Ergebnissen nicht argumentativ angeklopft, sondern agitatorisch mit der Tür gleich die ganze Hauswand eingetreten.

Zugleich hat Thilo im Wunderland der angeblich gescheiterten Integration die desintegrative Sensationspublizistik bereichert um eine in Deutschland besonders prekäre ethno-genetische bzw. sozialbiologistische Variante, die in der neuesten Auflage stillschweigend abgemildert wurde, so als sei nichts geschehen: Ihr Leitargument war die genetisch begründete, meist als ‚kulturell‘ umschriebene, angeblich mangelnde Intelligenz ‚der Muslime‘, die sich innerhalb der anwesenden und demographisch stark wachsenden muslimischen Zuwandererbevölkerung expansiv vererbt und deswegen Deutschland ‚immer dümmer‘ mache.

Volkswirtschaftliche Perspektiven
Das war im Kern die sozialbiologistische Verballhornung einer 2009 Aufsehen erregenden, vom Sachverständigenrat erarbeiteten, aber in ihrer Quelle dem Autor wegen mangelnder Übersicht über den Forschungsstand gar nicht bekannten These, bei deren Erarbeitung auch das Münchner ifo-Institut mitgewirkt hat. Sie beschrieb eine tendenzielle Dequalifizierung des Erwerbspersonenpotentials in der ‚Firma Deutschland‘, bei der verschiedene migratorische Faktoren zusammenwirkten: Ein jahrzehntelang betriebener, durch Familiennachzug fortgesetzter organisierter Unterschichtenimport, die Vererbung der sozialen Startnachteile im Bildungswesen für die Nachfahren der ‚Gastarbeiterbevölkerung‘ und zuletzt eine steigende Abwanderung von Qualifizierten im besten Erwerbsalter, darunter heute zunehmend auch gut ausgebildete, aber unzufriedene und von der islamophoben Agitation abgeschreckte Zugehörige der zweiten oder dritten Einwanderergeneration.

Die islamophobe Agitation gegen ‚die Muslime‘ führt erkennbar dazu, daß sich in der bestens integrierten neuen Elite mit Migrationshintergrund, die wir in Deutschland dringend brauchen, die ohnehin zunehmende latente Abwanderungsneigung noch weiter verstärkt. Das wäre im Ergebnis eine Art personalpolitischer GAU in der Firma Deutschland. Er würde den Brain Drain noch verstärken und auf der Seite der Zuwandererbevölkerung unbeabsichtigt genau das forcieren, was Sarrazin grotesk überzeichnet beschrieben hat, nämlich, daß Deutschland im Blick auf sein Erwerbspersonenpotential ‚immer dümmer‘ wird.

Das hätte seinen Grund aber nicht in der kruden Wirkung von ethnogenetischen Faktoren. Es resultierte vielmehr aus dem wachsenden Missverhältnis zwischen wirtschaftlich starken Qualifizierten, von denen nicht wenige abwanderungsbereit sind, und sozial schwachen, transferabhängigen Unqualifizierten, die im Land bleiben, weil das soziale Schutzniveau hier noch immer hoch ist und weil sie draußen sowieso niemand haben will. Ähnliches spricht heute scheinbar aus ersten vergleichenden Beobachtungen der Qualifikationsstruktur der neuen Zuwanderung aus der Türkei mit derjenigen der deutlich stärkeren Abwanderung aus Deutschland in die wirtschaftlich boomende Türkei – die längst ein Einwanderungsland ist, während Deutschland vielleicht bald ein Auswanderungsland sein wird.

Politische Perspektiven
Populistische politische Statements wie ‚Multikulti ist tot‘ unterscheiden nicht zwischen der – gar nicht dementierbaren – multikulturellen Realität der Einwanderungsgesellschaft und Multikulturalismus als einem politischen Konzept, das aber bekanntlich in Deutschland nie regierungswirksam war. Solche Redensarten sind deshalb zwar nur doppelt absurde rhetorische Luftnummern. Sie steigern in ihrer Mißverständlichkeit aber noch das Fiasko, das die Sarrazin-Debatte für das Deutschland-Bild im Ausland bewirkt hat. Das ist genau das Gegenteil der dringend nötigen Förderung der Attraktivität Deutschlands, die durch die fromme Rede von der wünschenswerten ‚Willkommenskultur‘ nicht zu ersetzen ist.

Populistische politische Statements wie ‚Multikulti ist tot‘ unterscheiden nicht zwischen der – gar nicht dementierbaren – multikulturellen Realität der Einwanderungsge- sellschaft und Multikulturalismus als einem politischen Konzept, das aber bekanntlich in Deutschland nie regierungswirksam war. Solche Redensarten sind deshalb zwar nur doppelt absurde rhetorische Luftnummern.

Als Folge der Sarrazin-Debatte zu beobachten ist mithin ein fatales Syndrom mit u.a. vier ineinander greifenden Bereichen: 1. Das Sarrazinom selbst mit seinen bis in den Alltag reichenden kommunikativen Metastasen; 2. politisch-populistische Anbiederungen gegenüber diesen kommunikativen Milieus; 3. die damit verbundene Verletzung auch der erfolgreich Integrierten in Deutschland und 4. im Ausland ein aus alldem gemeinsam resultierendes, wieder unnötig verdüstertes Bild der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland. All das trägt erkennbar dazu bei, dass auch Qualifizierte mit Migrationshintergrund, die wir in Deutschland dringend brauchen, verstärkt erwägen, auszuwandern und daß wanderungsbereite Qualifizierte im Ausland, die wir in Deutschland um so dringender brauchen, zögern hier einzuwandern. Dumm gelaufen bislang.

Wenn man das ändern will, sollte man politisch zweierlei tun: Einerseits sollte Politik der skandalisierenden Desintegrationspublizistik nicht mit populistischen Konzessionen begegnen. Sie sollte vielmehr anerkennen, daß Integration in Deutschland insgesamt, auch im internationalen Vergleich, ein Erfolgsfall ist, auch wenn sie selbst die Integration jahrzehntelang nicht befördert, sondern „verschlafen“ (Horst Köhler) oder sogar behindert hat, und daß die von Sarrazin zum Teil zu recht, wenn auch nicht originär ausgeleuchteten Problemzonen die Ausnahmen sind, die diese erfolgreiche Regel nur bestätigen.

Andererseits sollte Politik endlich begreifen, daß ihr Souverän, also der Bürger, es entschieden satt hat, in Sachen Integration und Migration mit mäandernden Bestandsaufnahmen, wechselseitigen politischen Schuldzuweisungen, appellativen Ankündigungen und trostvollen Versprechungen bedient zu werden und stattdessen konzeptorientierte Richtungsentscheidungen mit klaren Zielvorgaben in politischer Führungsverantwortung erwartet.

Geschieht dies nicht, dann könnte die inzwischen schon geschichtsnotorische Unterschätzung der Eigendynamik von Integration „als gesellschaftspolitisches Problem ersten Ranges“ am Ende „für die politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie dieser Republik schwerwiegende Legitimationsprobleme aufwerfen“. Davor habe ich, pardon, mit diesen Worten schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert gewarnt (K.J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland?, Berlin 1983, S. 116, 119). Die Warnung scheint zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Besserwisser pflegen nur beliebt zu sein, wenn sie des Irrtums überführt werden können. Das ist hier, leider, nicht der Fall. Und die Rache heißt heute Sarrazin.