Uraufführung

Hasretim – Eine Anatolische Reise

Über viele Wochen bereisten der deutsch-türkische Musiker Marc Sinan und Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, mit einem Kamerateam den Nordosten der Türkei. Herausgekommen ist „Hasretim – Eine Anatolische Reise“, das am 9. Oktober 2010 im Festspielhaus Hellerau (Dresden) uraufgeführt wird.

Im September 2009 klingelt das Telefon. Markus Rindt ruft bei mir an und stellt sich als Intendant der Dresdner Sinfoniker vor. Er plant eine Nacht mit zeitgenössischer, orientalischer Musik und sucht bei mir um Rat auf der Suche nach Werken und Ideen. Ich habe wenig Zeit, wohne auf einer Baustelle und halte mich als Berater für orientalische Musik für wenig geeignet. Meine Familie mütterlicherseits kommt von der türkischen Schwarzmeerküste und ich hatte mich für ein vorheriges Projekt intensiv mit Hafiz beschäftigt, die singend aus dem Koran rezitieren. Ich bin ein Musiker mit großem Appetit auf musikalisches Neuland und orientalische Gerichte. Das ist alles.

Markus kommt mich trotzdem besuchen. Ich kann noch nicht wissen, dass das typisch für Ihn ist: gegen den Strom, mit Ruhe und Beharrlichkeit Spuren verfolgen.

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Uraufführung: 20 Dresdner Sinfoniker werden mit türkischen und armenischen Gastmusikern unter der Leitung von Andrea Molino am 9. Oktober 2010 im Festspielhaus Hellerau (Dresden) um 19 Uhr das Werk „Hasretim – Eine Anatolische Reise“ zur Uraufführung bringen. Idee, Konzept und Produktion: Marc Sinan und Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker.

Wir sitzen in unserer staubigen Küche zwischen Zementsäcken, die Stühle stehen auf noch feuchtem Estrich und verstehen uns prächtig. Wir hören eine wilde Mischung guter Musik aus brüllenden, kleinen Küchenlautsprechern, Awet Terterjan, Heiner Goebbels, Erdal Erzincan, Cemal Resit Rey, Anouar Brahem. Ich schlage Markus einige Ideen vor, zeige ihm aber kaum zeitgenössische Musik sondern vor allem Aufnahmen von berühmten türkischen Asiks, Musikern wie Muharrem Ertas und Asik Veysel.

Eine Idee zündet. Der türkische Musiker Nezih Ünen hat in akribischer Arbeit Videos von Volksmusikern produziert, und Sie dann mit funkigen Beats und Gitarrenriffs hinterlegt.

Warum, fragen wir uns, schöpfen die zeitgenössischen, türkischen Komponisten nicht aus diesem Schatz? Wieso gibt es keine nationale Schule, keine zeitgenössische Musiksprache, die sich aus der Hofmusik der Sultane oder eben der Folklore entwickelt hat?

Die Idee zur Anatolischen Reise entwickeln wir bei dieser ersten Begegnung: wir wollen Video- und Tondokumente sammeln und in eine zeitgenössische Musik überführen für ein gemischtes Ensemble der Dresdner Sinfoniker mit türkischen Gästen.

Tage später sitzen wir im Büro von Barbara Damm und Dieter Jaenicke beim Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau. Erst im Zug von Berlin nach Dresden haben wir das Projekt kalkuliert. Die Summe kommt mir gewaltig vor. Markus frühstückt fröhlich beim rechnen. Hellerau zeigt Mut und stellt einen großen Teil des nötigen Budgets für die Uraufführung im Rahmen des Tonlagen Festivals 2010 zur Verfügung.

Jagd nach dem goldenen Fliess
Im Januar fliegen wir zu zweit in die Türkei um zu recherchieren und erste Aufnahmen mit Videokamera und Field-Recorder zu machen. Die Türkei versinkt im Schnee. Die Strasse verläuft zwischen hohen Schneebergen entlang der Küste. Tief in der Nacht kommen wir bei meiner Cousine am Schwarzen Meer an. Wir schlafen in Schlafsäcken auf dem unbeheizten Dachboden. Der Morgen entlohnt uns mit der Sonne die über dem Meer aufgeht.

Ich bin nervös. Finden wir besondere, berührende, authentische Sänger und Instrumentalisten? Anders als bei der musikalischen Feldforschung, reicht es für unser Projekt nicht aus, den aktuellen Bestand türkischer Musiktradition unabhängig von künstlerischer Qualität zu dokumentieren. Wir sind auf Schatzsuche und können nur zufrieden sein, wenn wir auch wirklich fündig werden. Von Berlin aus habe ich einige Telefonate mit Verwandten und Freunden geführt und eine ungefähre Reiseroute festgelegt. Wir haben ausführlich in den Archiven des Musikethnologischen Museums in Berlin gestöbert. Aber es war unmöglich auch nur eine einzige verbindliche Verabredung vor unserer Abreise zu vereinbaren.

Meine Cousine hebt ob meiner Anspannung empathisch eine Augenbraue. Markus unterhält den Rest der Familie mit Liedern die er auf seinem iPhone-Blasinstrumente-App virtuos zum Besten gibt. Am frühen Nachmittag sitzen wir im Büro des Leiters des städtischen Konservatoriums von Ordu. Er ist ein Freund eines Freundes des Sohnes meiner Cousine. So funktioniert hier social networking. Gemeinsam mit Ata Bahri Caglayan dem virtuosen Sazspieler, Sener Gök, dem wunderbaren Sänger und dem in der Türkei überaus geschätzten Klarinettenbauer Ahmet Özdemir plaudern wir und trinken Tee. Der Raum füllt sich mit Musikern, wir werden offen empfangen und machen gleich vor Ort erste Aufnahmen. Jeder im Raum scheint Freunde und Bekannte zu haben, die zu besuchen sich lohnen würde. Die tatsächliche Hilfsbereitschaft und Begeisterungsfähigkeit der Leute übertrifft jedes Klischee.

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Und dann finden wir Musiker, heben Schätze – jeden Tag. Ohne Ausnahme erleben wir besondere und berührende Begegnungen. Unser Interesse und insbesondere die Neugier von Markus, der ja mehr noch als ich als Fremder wahrgenommen wird, überrascht die Menschen und nimmt sie für uns ein. Wie überall auf der Welt, ist die Volksmusik eine sterbende Kunst. Die orale Tradition ist im Begriff abzureißen. Das ehemalige Asiklar Kahvesi (eine Art Club der lokalen Singer-Songwriter) in Kars, einer Hochburg der Asiktradition, ist seit Jahren nur noch ein gewöhnliches Teehaus – die vergilbten Plakate des großen Asik Cobanoglu vom Altar zur Dekoration degradiert. Kaum ein Musiker, der unter 35, 40 Jahre alt wäre. Zu den wenigen Ausnahmen zählen der 21 jährige, fantastische Kemenchespieler Mesut Kurt aus Trabzon und die 25 jährige Sängerin und Krankenpflegerin Asiye Göl aus Ordu. Und natürlich: viele Volksmusiker sind Laien, die einem mehr oder weniger bürgerlichen Beruf nachgehen.

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Da ist der Kavalspieler Haci Ömer Elibol, den wir in Aybasti aufgenommen haben, der wie die Brüder Ak aus der Gegend von Kars Vieh züchtet, der Kellner und Tulumspieler Hüsseyin Altay und der pensionierte Volksschul- und Musiklehrer Sener Gök. Turan Akdag, der Zurnaspieler aus Erzurum und Ömer Parlak, der Kavalspieler oder Ismail Kücük aus Trabzon verdienen ihr Geld auf Hochzeiten und ähnliche Festen.

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Das Schwarze Meer entlang der Küste
Insgesamt sind wir im Januar und April 2010 eineinhalb Monate unterwegs, erst zu zweit, dann mit Kamerateam. Die Reisen sind bestimmt von Markus zügellosem Optimismus, Neugier und Beharrlichkeit, meiner Rastlosigkeit und dem ungehemmten, kollektiven Appetit auf die einheimische Küche. Wir bereisen das Schwarze Meer entlang der Küste von Ordu bis Trabzon, mit ausgedehnten Ausflügen auf die Yaylas (Almen) ins Hinterland und weiter über die Städte Erzurum und Kars bis zur Armenischen Grenze.

Im intensiven Gespräch mit Andrea Molino, der die musikalische Einrichtung der Musik vornimmt und das Projekt dirigiert, kristallisiert sich das Thema unserer Reise heraus. Die „Anatolische Reise“ ist letztlich ein sehr persönliches Projekt, eine musikalische Suche nach meinen persönlichen kulturellen Wurzeln, getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht (Hasretim bedeutet „Ich bin sehnsüchtig“ oder „Meine Sehnsucht“). Denn die Reiseroute führt uns nicht grundlos von Ordu, der Heimat meiner Grosseltern, an die Grenze Armeniens: Meine Großmutter war eine jener armenische Kriegswaisen des ersten Weltkrieges.

Und so holt sie uns dann auch auf unserer anatolischen Reise immer wieder ein, die Dolorosa, die schmerzensreiche Türkei. Wenn wir beispielsweise bemerken, dass in einem Dorf bei Askale, in dem wir ausgelassene Männer und Kinder beim Tanzen filmen, keine Frauen anwesend sind. Später huschen sie in Burkas aus grobem Sackleinen durch die Gassen des Dorfes um schnell und ungesehen in Hauseingängen zu verschwinden. Ausgerechnet über Askale erfahre ich wieder zurück in Berlin, dass hier Mitte des letzten Jahrhunderts zahlreiche der wenigen im Lande verbliebenen Armenier und Griechen in Arbeitslagern interniert wurden. Der aserbaidschanisch stämmige Wirt in Kars antwortet auf die Frage, ob es armenische Musiker in Kars gebe unwirsch, er sei in Kars geboren und lebe hier seit 50 Jahren. Noch nie haben während dieser Zeit Armenier dort gelebt und könne sich auch nicht vorstellen, dass das jemals anders gewesen sei.

In Arazoglu, einem Dorf einige Kilometer östlich von Kars, kann man bei klarem Wetter den Ararat sehen. Unser Gastgeber dort ist ein liebenswürdiger und stolzer Bauer. Er ist in dem Haus geboren, das er bewohnt. Aus dem Fenster sieht man ein Dorf jenseits der armenischen Grenze. Auf die Frage, wie das Dorf heiße, antwortet er „wir sagen dazu ‚Das Dorf mit der Kirche’“. Erst am Abend nach unserem zweiten Besuch und mehrfachem ausdrücklichem Nachfragen, räumt er ein, Kurde zu sein, genauso wie alle anderen im Dorf, die in meiner Gegenwart geflissentlich türkisch sprechen.

Der Nordosten der Türkei ist eine Region mit reicher Geschichte. Der Legende nach sind Jason und die Argonauten auf der Jagd nach dem goldenen Fliess in der Gegend um Ordu gelandet, Xenophons berühmtes Heer der 10000 ist hier durchmarschiert (ein Zufall: auf unserer Reiseroute), die historische Stadt Ani beherbergte als armenische Hauptstadt über einhunderttausend Einwohner und war das Tor zur Seidenstrasse. Die Musik trägt in ihrer Vielfalt Spuren dieses kulturellen Reichtums. Mit kindlicher Leichtigkeit spielen die Menschen hier 5/8, 7/8 und 9/8 Rhythmen, die sich in unseren Breitengraden professionelle Musiker mühevoll erarbeiten müssen. Die anspruchsvolle Technik der zirkularen Atmung, die es ermöglicht gleichzeitig einzuatmen und weiter Töne zu erzeugen, ist unter den Zurna und Kavalspielern quasi selbstverständlich.

Ein bemerkenswertes Phänomen, eine Quintessenz aus unserer Reise sei hier noch zu nennen: wenn uns auch verschieden Facetten türkischer Volksmusik vor unserer Reise bekannt waren, so hat sie unter einem Aspekt unsere Erwartungen nicht erfüllt: Immer wieder haben wir die Musiker gebeten, ja regelrecht dazu aufgefordert, Musik mit einem ruhigen, fragilen Charakter zu spielen. Vergeblich, dieser musikalische Gestus scheint in der von uns bereisten Region keine nennenswerte Tradition zu haben. Ruhe und Weite mag den Landschaften entsprechen, der Hochebene um Erzurum, den Haselnussbergen um Ordu aber ganz gewiss nicht dem Temperament der Menschen hier.