Was bist du?

Bezeichnungsproblematik in Deutschland

Migrant, Immigrant, Eingebürgerter, Deutscher mit Migrationshintergrund, Türke, Deutscher, Deutschtürke, Araber, Engländer … oder jemand anderer? Migrationshintergrund lässt sich schwer definieren und darum geht es hier. Es hat zwei Seiten, denn wie man sich als jemand mit Migrationshintergrund definiert und wie man in einer Mehrheitsgesellschaft bezeichnet wird, sind sehr unterschiedlich.

Das Selbstbild mit einer vielschichtigen Identität, das sich manchmal gar nicht konkret definieren lässt, prallt auf die Vorstellungen beherrscht von Klischees. Das folgende Beispiel ereignete sich in der Sprechstunde zwischen einer Studentin und ihrem Germanistikprofessor.

Germanistikprofessor: Sie sprechen aber gut Deutsch.
Studentin: Danke, Sie aber auch.

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Tja so ist das. Da wundern sich alle und möchten Anerkennung zeigen, dass man als augenscheinlich Nichtdeutsche eine elaborierte Sprache benutzt. Das Beherrschen der Sprache führt nicht automatisch zu einem Zugehörigkeitsgefühl bei der Person mit nichtdeutscher Herkunft und auch nicht zu Akzeptanz als vollwertiges Mitglied der Mehrheitsgesellschaft. Die Bezeichnungsproblematik ist eine endlose Diskussion.

Wenn in den Medien berichtet wird, findet man häufig ein Begriffswirrwarr. So wird manchmal von Migranten, Deutschtürken, Menschen mit Migrationshintergrund und Ausländern gesprochen. Bei Berichten zu Schülererhebungen wird es besonders deutlich, denn dort wird noch differenzierter unterschieden zwischen Migrantenkind, Migrationskind, Schüler nichtdeutscher Herkunft usw. Die Schwierigkeiten bei der Begriffswahl ist das Ergebnis von Unsicherheit bzw. Verunsicherung im Sprachgebrauch.

Entwicklung des Begriffs Migrationshintergrund
Die Entwicklung des Begriffs Migrationshintergrund lässt sich in der Literatur über Schülererhebungen verfolgen. In den 60ern und 70ern wird von „Ausländern“ gesprochen, denn die Annahme, dass ausländische Kinder nicht sesshaft waren, führte zu der Weiternutzung von Begriffen aus der Weimarer Republik. Im Laufe der Entwicklung wird nach dem Prinzip der Anerkennung der ethnischen Minderheiten diese Bezeichnung abgelöst durch „Migrant“, „Immigrant“ (wie in Großbritannien), „Zuwanderer“, „Migrantenkinder“, „Migrationskinder“, Kind mit Migrationshintergrund“ und als aktueller Begriff „Kinder nichtdeutscher Herkunft“.

Alle Zuwanderer, die keine Staatsbürgerschaftsrechte besitzen (unabhängig aus welchem Grund sie sich in einem Land aufhalten), werden zusammengefasst als Ausländer bezeichnet. Die Begriffe Migrant und Immigrant bezeichnen Zuwanderer mit eigener Migrationserfahrung, welche in ein anderes Land übersiedeln mit der Absicht, sich in diesem Land dauerhaft anzusiedeln. Migrantenkinder bezeichnet all jene, dessen Eltern zugewandert sind. Bei der Bezeichnung Migrationskinder wird auf die Berücksichtigung eines Migrationshintergrundes hingewiesen. Die aktuelle Variante Kind nichtdeutscher Herkunft gibt Auskunft darüber, dass die ethnischen Wurzeln außerhalb Deutschlands sind, ohne weitere Information, wo das Kind geboren wurde oder welche Staatsangehörigkeit es besitzt. Hauptsächlich ist die Wortwahl geprägt durch die Politik, die sich dann in der wissenschaftlichen Literatur niederschlägt und kaum differenziert in den Medien aufgegriffen wird. Das ist der Grund, warum alle Begriffe heute durcheinander verwendet werden.

So kann man in der Zeitung über die Erfolge von einem Deutschtürken lesen oder auch über die türkischen Ausländer, die sich gesetzeswidrig verhalten. Es werden Weltbilder projiziert, die unreflektiert in Form von Schubladendenken an Generationen weitergegeben werden. Der folgende Dialog – eine wahre Begebenheit – fand zwischen mir und einer neuen Arbeitskollegin statt. Es handelt sich um ein typisches Beispiel, wo man in ein Schema eines Weltbildes gepresst wird:

Die neue Kollegin (ohne Migrationshintergrund):
Sag mal, ich habe mal ne Frage, was bist du eigentlich?
Ich: Wie jetzt?
Sie: Naja, ich meine woher kommst du?
Ich: Ach so, ich komme aus Deutschland.
Sie: Wie jetzt, du hast doch dunkle Haare und dein Name …?
Ich: Ja, und? Ich bin hier geboren und aufgewachsen.
Sie: Und woher kommen deine Eltern?
Ich: Meine Eltern sind aus der Türkei.
Sie: *erleichtert* Na siehst du, dann kommst du also aus der Türkei.

Definitionsmöglichkeiten von Migrationshintergrund
Auf wissenschaftlicher Ebene gibt es verschiedene Definitionsmöglichkeiten von Migrationshintergrund. Die statistische Erhebung des Mikrozensus von 2007 gibt eine differenzierte Erklärung ab. Hierzu werden Befragungen durchgeführt, die Staatsangehörigkeit, Geburtsland und Migrationsstatus und Muttersprache unterscheiden. Das Ergebnis ist eine sehr detaillierte Darstellung über 326 Seiten. Im Folgenden sollen repräsentativ die Definitionen von IGLU, PISA und die Sozialerhebung vorgestellt werden.

IGLU unterschiedet drei Kategorien zur Feststellung von Migrationshintergrund. Die erste Gruppe bilden Familien ohne Migrationsgeschichte, beide Eltern wurden in Deutschland geboren. Die zweite Gruppe bilden Familien mit partieller Migrationsgeschichte, ein Elternteil wurde in Deutschland geboren und die dritte Gruppe bilden Familien mit Migrationsgeschichte, wo beide Eltern im Ausland geboren sind. Ein weiterer Indikator ist der häusliche Sprachgebrauch.

PISA unterschiedet seit 2007 vier Kategorien. Jugendliche ohne Migrationshintergrund bilden die erste Gruppe. Jugendliche mit einem in Deutschland und einem im Ausland geborenen Elternteil bilden eine weitere Gruppe. Alle Jugendlichen der zweiten Generation, die Eltern wurden im Ausland und das Kind im Inland geboren, bilden die dritte Gruppe. Die vierte Gruppe besteht aus Jugendlichen der ersten Generation, Eltern und Kind wurden im Ausland geboren. Ein weiterer Faktor zur Bestimmung des Migrationshintergrundes ist der heimische Sprachgebrauch.

Die Sozialerhebung bestimmt Studierende mit Migrationshintergrund. Studierende mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland die Hochschulzugangsberechtigung erworben haben – sog. Bildungsinländer – sind die erste Gruppe. Eingebürgerte Studierende und Studierende, die neben der deutschen, eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen bilden je eine eigene Gruppe. Alle Bildungsausländer, Studierende, die zum Studieren nach Deutschland gekommen sind, bleiben unberücksichtigt.

Passe ich hier rein?
Ich lese diese und viele andere Definitionen und frage mich tatsächlich, wo ich reinpasse? Nicht, dass ich in ein Schema oder in einer Statistik erfasst werden möchte, einfach aus Interesse. Außerdem entstehen durch diese Definitionen Schemen, die Schubladendenken fördern. Was soll ich oder kann ich antworten, wenn ich wieder gefragt werde, woher ich komme?

Es gibt da noch eine weitere Möglichkeit. Man könnte Identität nach Muttersprache bestimmen, aber auch das ist schwierig, denn nach neuesten Erkenntnissen in der Sprachforschung kann sich eine Muttersprache, so wie bei mir auf Türkisch und Deutsch, auf mehrere (!) Sprachen verteilen. Die traditionelle Annahme die laut dem Sprachforscher Porsché 1983 aufgestellt wurde, dass Muttersprache die Sprache der Mutter, Sprache der Heimat, erste Sprache der Kindheit, Sprache der Nation, lebenslange Sprache des spontanen Ausdrucks und die Sprache der Ahnen definiert, besitzt in der heutigen multiethnisch durchmischten globalen Gesellschaft keine Gültigkeit mehr. Damit stehe ich wieder am Anfangspunkt.

Die Bezeichnung durch die Mehrheitsgesellschaft versucht meine Identität durch Kategorien und Schubladen zu definieren, aber meine ethnische Herkunft allein kann nicht mein hochkomplexes „Ich“ definieren. Mein Lösungsvorschlag ist Menschen unabhängig von ethnischer Herkunft, Geburtsland, Muttersprache und andere Kategorien anzunehmen, wie sie sind. Das verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildern, weshalb jeder von uns genug an seinen eigenen Vorstellungen zu arbeiten hat, bevor er anderen einen Stempel aufdrückt.