Gesundheitliche Lage

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund

Ein Leben in sozial benachteiligter Lage erhöht Krankheitsrisiken und verringert Gesundheitschancen. Die höchsten Armutsrisiken tragen – neben Kindern mit zwei oder mehr Geschwistern, Kindern von allein erziehenden Müttern – Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Mit 19% beziffert der Mikrozensus den Anteil an Personen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung. Wird nur die Gruppe der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren betrachtet, erhöht sich dieser Anteil sogar auf 29%. Vielfach verfügen diese Kinder und Jugendlichen nicht mehr über eine eigene Migrationserfahrung, sie sind hier in Deutschland in der zweiten oder auch dritten Generation einer zugewanderten Familie geboren. Dennoch prägt Migration in spezifischer Art ihre Lebenswelt, ob selbst zugewandert oder in nachfolgenden Generationen geboren. Ein Leben in sozial benachteiligter Lage erhöht Krankheitsrisiken und verringert Gesundheitschancen. Die höchsten Armutsrisiken tragen – neben Kindern mit zwei oder mehr Geschwistern, Kindern von allein erziehenden Müttern – Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Armutsassoziierte frühkindliche Entwicklungs- und Gesundheitsstörungen können den Beginn einer langen Krankheitskarriere markieren. Zudem prägen sich gesundheitsrelevante Verhaltensmuster bereits im Kindes- und Jugendalter aus. Aufgrund des Verfestigungscharakters von Verhaltensmustern und der Chronifizierungstendenz von Krankheiten im weiteren Lebensverlauf werden die Präventionspotenziale im Kindes- und Jugendalter als besonders bedeutsam eingeschätzt. Gerade Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren sowie aus Migrantenfamilien werden aber bislang von präventiven und gesundheitsfördernden Programmen schlechter erreicht. Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Prävention und Gesundheitsförderung setzen daher nicht nur die Kenntnis ihrer gesundheitlichen bzw. Versorgungssituation und deren Einflussfaktoren voraus, sondern auch das Wissen um angemessene Zugangswege zu diesen Gruppen und eine „sozial-“ und kultursensible Gestaltung von Präventionsprojekten. Anhand der KiGGS-Daten können einige Trends verdeutlicht werden, die das Gesundheitsgeschehen bei Migrantenkindern charakterisieren und die eine wirksame Prävention sowie Gesundheitsförderung berücksichtigen sollte.

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Charakterisierung der Migrantenpopulation in KiGGS
Wie im Mikrozensus ist es auch in KiGGS möglich, zwischen einseitigem und beidseitigemMigrationshintergrund zu differenzieren. Diese Differenzierung ist wichtig, da sich Kinder undJugendliche in Abhängigkeit von der Art Ihres Migrationshintergrundes in ihrergesundheitlichen Lage voneinander unterscheiden. Über einenB beidseitigen Migrationshintergrund verfügen Kinder und Jugendliche, wenn

Von einem einseitigen Migrationshintergrund sprechen wir, wenn

Dank zusätzlicher Anstrengungen ist es erstmals gelungen, Personen mit Migrationshintergrund entsprechend ihres Anteils in der Bevölkerung an einem bundesweiten Gesundheitssurvey in Deutschland zu beteiligen. Insgesamt weisen 17,1% der untersuchten Kinder und Jugendlichen einen beidseitigen Migrationshintergrund auf, weitere 8,3% der Kinder und Jugendlichen haben einen einseitigen Migrationshintergrund, so dass insgesamt ein Viertel der untersuchten entweder über einen einseitigen oder beidseitigen Migrationshintergrund verfügt. Die untersuchten Kinder und Jugendlichen stammen aus über 100 verschiedenen Ländern. Die am stärksten vertretenen Herkunftsländer sind die Türkei, die ehemalige Sowjetunion und Polen. Zusammengefasst wurden Kinder und Jugendliche aus Mittel- und Südeuropa, aus Westeuropa, den USA und Kanada, aus arabisch-islamisch geprägten Ländern sowie aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu anderen Ländern.

Dr. Liane Schenk ist seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Institut für Medizinische Soziologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und ist Leiterin des Projektbereiches: Medizinische und pflegerische Versorgung. Zuvor (2001 bis 2006) war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Robert Koch-Instituts, Abt. Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung.
Außerdem: Ute Ellert, Hanne Neuhauser

Migrantenkinder gehören überproportional der sozial untersten Statusgruppe an. Deutliche Unterschiede manifestieren sich in der anteilsmäßigen Zugehörigkeit zur niedrigsten Sozialschicht je nach Herkunftsland: Fast drei Viertel der Kinder und Jugendlichen türkischer Herkunft gehört der niedrigsten Statusgruppe an, gefolgt von Kindern aus der ehemaligen Sowjetunion und arabisch-islamischen Ländern. Kinder und Jugendliche aus Westeuropa, den USA und Kanada hingegen leben am häufigsten in Familien mit einem hohen Sozialstatus.

Ausgewählte Gesundheitsaspekte
Ein Gesundheitsproblem, das in letzter Zeit zunehmend größere Beachtung findet, ist die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas. Kinder und Jugendliche mit beidseitigem Migrationshintergrund sind mit 19,5% überproportional häufig von Übergewicht betroffen. Kinder ohne bzw. mit einseitigem Migrationshintergrund weichen hingegen in ihren Anteilen kaum voneinander ab. Allerdings variiert das Risiko übergewichtig zu sein innerhalb der Migrantenpopulation nach Herkunftsland und Geschlecht. Am häufigsten sind Mädchen und Jungen aus der Türkei, Mädchen aus Mittel- und Südeuropa sowie Jungen aus Polen übergewichtig. Im Jugendalter scheint der Migrationshintergrund an Einfluss zu verlieren, so lassen sich bei den 14-17-Jährigen keine signifikanten Unterschiede mehr nach Migrationshintergrund finden. Mit der Aufenthaltsdauer nimmt der Anteil übergewichtiger Kinder zu, was als Hinweis auf die Veränderung des Lebensstils im Zuwanderungsland gewertet werden kann.

Wenn Migranten auch in einigen Aspekten ein gesünderes Ernährungsverhalten als Nicht-Migranten aufweisen (z.B. Türkische und Russlanddeutsche Migranten beim Obstkonsum),so muss dass Ernährungsverhalten insgesamt als ungünstiger eingeschätzt werden. So konsumieren insbesondere türkeistämmige Migrantenkinder vermehrt Softdrinks, Fast Food, Chips und Süßigkeiten. Russlanddeutsche Teilnehmer essen durchschnittlich im Gruppenvergleich am wenigsten Gemüse, trinken insgesamt am wenigsten und essen am meisten Wurst oder Schinken. Nicht-Migranten dagegen konsumieren u.a. am wenigsten Kekse, Schokolade, Süßigkeiten und Knabberartikel. Die Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer bzw. der Migrationsgeneration gibt einen Hinweis darauf, dass auch das ungünstige Ernährungsverhalten ein „Problem der Moderne“ ist, denn eine längere Aufenthaltsdauer bzw. die Zugehörigkeit zu der zweiten oder einer nachfolgenden Einwanderergeneration ist mit einem ungünstigeren Ernährungsverhalten assoziiert.

# Die Gruppe der Nicht-Migranten schließt auch Kinder und Jugendliche mit einseitigem Migrationshintergrund ein
*Bratwurst, Currywurst, Hamburger, Döner Kebab
↓ = geringste Verzehrsmengen (im Gruppenvergleich)
↑ = höchste Verzehrsmengen (im Gruppenvergleich)

Die Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen der Kinder und Jugendlichen mit beidseitigem Migrationshintergrund ist deutlich geringer als jene der Kinder und Jugendlichen ohne bzw. mit einseitigem Migrationshintergrund. Vor allem bei den späteren Untersuchungen im 4. und 6. Lebensjahr driften die Anteile der Nicht-Teilnehmenden zwischen Migranten und Nicht-Migranten deutlich auseinander. Die geringere Inanspruchnahme zeigt sich auch bei einer Gegenüberstellung nach Vollständigkeit der in Anspruch genommenen Früherkennungen. Innerhalb der Migrantenpopulation variiert die Inanspruchnahme hinsichtlich der Herkunftsländer. Besonders selten besuchen Kinder und Jugendliche aus arabisch-islamischen Ländern, der ehemaligen Sowjetunion sowie aus der Türkei die Vorsorgeuntersuchungen. Weiterhin korrespondieren eine kurze Aufenthaltsdauer sowie die Zugehörigkeit zur ersten Einwanderergeneration mit einer geringen Inanspruchnahme bzw. umgekehrt: Je länger die Verweildauer desto höher die Inanspruchnahme.

Die KiGGS-Daten zeigen einen weniger verbreiteten Tabak- und Alkoholkonsum unter Jugendlichen mit beidseitigem Migrationshintergrund als unter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Jugendliche aus binationalem Elternhaus ähneln in ihrem Rauch- und Trinkverhalten jenen ohne Migrationshintergrund. Die augenfälligsten Unterschiede zwischen Migranten und Nicht-Migranten sind in der niedrigsten Statusgruppe zu beobachten: Hier rauchen nur 13,0% der Jugendlichen mit beidseitigem Migrationshintergrund, dagegen fast doppelt so viele Jugendliche ohne bzw. mit einseitigem Migrationshintergrund (23,1% bzw. 23,8%).

Noch deutlicher fallen die Differenzen hinsichtlich des Alkoholkonsums aus: Während lediglich 17,9% der Jugendlichen mit beidseitigem Migrationshintergrund regelmäßig Alkohol trinken, sind dies ein Drittel der Jugendlichen mit einseitigem und sogar 40,8% der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Erwartungsgemäß trinken vor allem Jugendliche aus islamisch geprägten Ländern zu einem sehr geringen Anteil (regelmäßig) Alkohol (ca. 6%). Aber auch bei Jugendlichen aus anderen Herkunftsländern liegt der Alkoholkonsum signifikant unter jenem der aus Deutschland kommenden Jugendlichen. Ausnahmen bilden hier die ehemalige Sowjetunion sowie Westeuropa bzw. USA und Kanada. Das Trinkverhalten der Jugendlichen ist geschlechtsspezifisch charakterisiert: Mädchen trinken weitaus weniger häufig regelmäßig Alkohol als Jungen. Diese geschlechtstypischen Differenzen finden sich bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien in deutlicherem Maße als bei jenen ohne Migrationshintergrund. Keinen Verhaltenswandel zeigen die KiGGS-Ergebnisse im Migrationsverlauf anhand der Merkmale „Aufenthaltsdauer“ resp. „Einwanderergeneration“: Der Tabak- und Alkoholkonsum nimmt nicht zu, sondern bewegt sich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau.

Fazit
Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken innerhalb der Migrantenpopulation ungleich verteilt sind. So sind die gesundheitliche Situation sowie das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen aus binationalen Familien mit einem einheimischen Elternteil mit der gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund vergleichbar. Deutliche Unterschiede lassen sich aber vor allem je nach Herkunftsland, Geschlecht, Alter und Aufenthaltsdauer bzw. Einwanderergeneration konstatieren.

Insbesondere verhaltens- bzw. lebensstilabhängige Gesundheitsmerkmale sind durch die Herkunftskultur beeinflusst und wirken je nach Herkunftskultur und den daran geknüpften tradierten Verhaltensmustern als Protektiv- oder Risikofaktoren. Allerdings variiert das Gesundheitsgeschehen innerhalb der Migrantenpopulation je nach Einwanderergeneration resp. je nach Aufenthaltsdauer, d.h. mit zunehmender Verweildauer geht eine stärkere Orientierung an der Aufnahmegesellschaft und damit ein Wandel von Lebensgewohnheiten, Gesundheitskonzepten und gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen einher. Das kann positive Effekte zeitigen wie eine verbesserte Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen, wenn auch nach langer Verweildauer im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung noch ein ungünstigeres Verhalten zu verzeichnen ist. Diese Verhaltensveränderungen sind vermutlich auch dadurch bedingt, dass die Kenntnis um die Struktur des hiesigen Gesundheitssystems und um solche Angebote zunimmt. Hingegen scheint der Lebensstilwandel mit Verlusten von nach der Zuwanderung bestehenden Gesundheitsvorteilen verbunden zu sein, so beispielsweise hinsichtlich des Ernährungsverhaltens. Dabei scheinen das Gesundheitshandeln zunehmend ungünstige Verhaltensmuster zu prägen, die in unteren sozialen Statusgruppen dominieren. Gesundheitsförderung sollte hier also auch Ressourcen erhaltend wirken.

Der Sozialstatus ist ein weiterer Faktor, der Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen mit bedingt, diese aber nicht hinreichend erklärt. Zum einen zeigt sich unter Migranten ein teilweise weniger ausgeprägtes Schichtgefälle als unter Nicht-Migranten, zum anderen bestehen Gesundheitsnachteile bzw. -vorteile gegenüber Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund auch bei Kontrolle des Schichteinflusses. Dies ist ein Hinweis darauf, dass migrationsbedingte und kulturspezifische Faktoren Krankheitsrisiken verstärken oder auch kompensieren können. Jedoch sind, da ein niedriger Sozialstatus und erhöhte Krankheitsrisiken korrelieren, mittelfristig entsprechende gesundheitliche Konsequenzen zu befürchten. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche aus der Türkei, aber auch aus der ehemaligen Sowjetunion und den arabisch-islamischen Ländern.

Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse findet sich in: Schenk L, Neuhauser H, Ellert U. Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 2003-2006: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Robert Koch-Institut Berlin 2008.

Hinweis: Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS).
Quelle: BMAS-Publikation „Gesundheitliche Versorgung von Personen mit Migrationshintergrund“