Sachverständigenrat für Integration und Migration

Verschleuderung von Humankapital

Der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Prof. Dr. Klaus J. Bade, hat am Mittwoch in Berlin ein Informationspapier der Geschäftsstelle des SVR über „personalpolitische Potenziale in der ‘Firma’ Deutschland“ vorgestellt. Im Zentrum der vorgestellten Analyse steht die Frage, inwieweit sich das Qualifikationsniveau der Erwerbsbevölkerung in Deutschland durch Abwanderung, Zuwanderung und Integration verändert.

„Die ‘Firma’ Deutschland hat Personalprobleme“, sagte Bade ganz zu Anfang. Jährlich wanderten zehntausende von oft gut qualifizierten Deutschen im besten Erwerbsalter ab, nur ein Teil von ihnen kehre nach Deutschland zurück. Seit 2003 habe Deutschland fast 180.000 Staatsangehörige an andere OECD-Staaten abgegeben. Besonders auffällig und folgenreich sei die Entwicklung bei den Medizinern: „Allein 2008 sind über 3.000 vorwiegend in Deutschland ausgebildete Ärzte ins Ausland abgewandert“, stellt Bade fest. Dadurch entgehe dem deutschen Staat allein für diese Abwanderergruppe hochgerechnet knapp 1,1 Milliarden Euro für das Jahr 2008. Durch ausländische Zuwanderungen werde der qualitative Verlust durch Abwanderungen auch nicht kompensiert. Steuerungssysteme zur Förderung der Zuwanderung von Hochqualifizierten fehlten jahrzehntelang.

Zuwanderer hingegen, die tatsächlich in Deutschland nachgefragte Qualifikationen mitbringen, hätten diese oft nicht einsetzen können, erklärt Bade, weil ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse und beruflichen Erfahrungen nicht anerkannt werden. Viele von ihnen beschäftigten sich unter ihrem Qualifikationsniveau oder bleiben gar arbeitslos. Der SVR-Vorsitzende forderte deshalb eine gesetzliche Grundlage zur bundesweiten Erleichterung der Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen, um die „Verschleuderung von Humankapital“ zu stoppen. Und aus den Reihen der aus der älteren Einwandererbevölkerung, trotz aller Hindernisse, nachgewachsenen neuen Elite an den deutschen Universitäten tendieren, Umfragen zufolge, viele dahin, Deutschland nach Abschluss ihres Studiums zu verlassen. Nach einer jüngst veröffentlichten Studie des Instituts futureorg erwägten mehr als ein Drittel (38%) der Studierenden türkischer Herkunft, die den für sie besonders harten Weg durch das deutsche Bildungssystem geschafft haben, ernsthaft, nach dem Abschluss ihres Studiums in die Türkei abzuwandern.

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Des Weiteren kritisiert Bade das „hochselektive Schulsystem“ in Deutschland, das zur Vererbung der sozialen Startnachteile beitrage. Dies zeige sich etwa in den hohen Arbeitslosenzahlen und Transferkosten in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Er fordert einen strukturellen Umbau des Bildungssystems, verbunden mit flexiblen und transparenten Weiterbildungsangeboten zur Begrenzung der schon eingetretenen Folgeschäden. Ansonsten drohe eine „fortschreitende soziale Polarisierung, die sich in soziale Spannungen umsetzen“ könne.

Die Politik hat diese Entwicklung, auch nach ihrer kritischen Selbsteinschätzung, lange Zeit „verschlafen“, stellt Bade fest. Das habe sich erst in den letzten Jahren deutlich geändert: „Migrations- und integrationspolitisch ist im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auf staatlicher Seite mehr in Gang gebracht worden als in den vier Jahrzehnten zuvor, ganz abgesehen von Stiftungen und Mittlerorganisationen, der Vielfalt von ehrenamtlichen Initiativen der Bürgergesellschaft und dem eigenständigen Engagement zahlloser Kommunen.” Das reiche von der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000 und dem Zuwanderungsgesetz 2005 über den Ausbau der zentralen Migrations- und Integrationsverwaltung mit ihren Kursangeboten, über Integrationsgipfel und Islamkonferenz seit 2006 sowie eine schon unübersichtliche Vielfalt der verschiedensten Integrations- und Partizipationshilfen bis hin zur Allianz zur Sicherung der Fachkräftebasis 2009.

All dies, so Bade, sei wichtig und nötig, aber nicht genug, um die „schleichende Dequalifizierung der Belegschaft in der ‘Firma’ Deutschland” umzukehren durch eine „verstärkte Entfaltung der bereichernden Kräfte von Zuwanderung und Integration”. Gerade in der Krise müssten nicht nur die Anstrengungen zur nachholenden Qualifikations- und damit Partizipationsförderung verstärkt, sondern auch die Steuerungsinstrumente für Zuwanderung konzeptionell reformiert werden. Nur so sei zu verhindern, „dass uns am noch nicht absehbaren Ende der Krise die Probleme verschärft einholen, die schon an ihrem Vorabend das wirtschaftliche Wachstum gebremst haben”. Das gelte vor allem für den Mangel an hochqualifizierten Fachkräften. Die selbstgefällige Rede, wie gut es angesichts der Krise doch sei, dass man nicht zu viele davon ins Land geholt habe, bezeichnete Bade als „populistische Augenwischerei”.

Auch kritisiert Bade, dass sich in Deutschland ein immer unübersichtlicheres Zulassungs- und Integrationsgefüge etabliert hat. „Es ist von innen nur mehr für auf Migrations-, Aufenthalts- und Arbeitsrecht spezialisierte Juristen, für außerfachliche Zeitgenossen in Deutschland kaum, für Zuwanderungswillige im Ausland gar nicht mehr durchschaubar und weist zugleich immer noch gravierende Lücken in der Steuerungsarchitektur auf“, konstatiert Bade. Insbesondere das deutsche Zuwanderungsrecht sei selbst für Experten „ein schwer überschaubarer Dschungel aus Sonderverordnungen, Ausnahmeregelungen, Erweiterungen und Ausführungsbestimmungen“.

Zur Gegensteuerung nannte Bade sieben “exemplarische Handlungsoptionen”:

1. Ein flexibles Steuerungssystem für hochqualifizierte Zuwanderung, bestehend aus der Kombination eines kriteriengestützten Punktesystems mit einer arbeitsmarktorientierten Engpassdiagnose.

2. Transparente Reglements zur Werbung um hochqualifizierte Fachkräfte mit deutlichen Willkommenssignalen aus Deutschland.

3. Eine Beteiligung von in Abstimmung mit der deutschen Migrationsverwaltung arbeitenden Agenturen an der Gewinnung von Hochqualifizierten und eine für diese Zwecke erweiterte Beratungskompetenz deutscher Konsulate im Ausland, wie dies zum Teil auch bei der ausländischen Werbung um entsprechende Kräfte in Deutschland zu beobachten ist.

4. Verstärkte Bemühungen um die Bindung von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen, im Falle ihrer Abwanderung die Option zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt in Deutschland, und eine intensivierte Werbung für ein Studium in Deutschland mit Bleibeoption.

5. Eine gesetzliche Grundlage zur bundesweiten Erleichterung der Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und beruflichen Erfahrungen, ohne eine Senkung der erforderlichen Standards, aber mit Angeboten für entsprechende Nachschulungen und Qualifikationsanpassungen.

6. Ein struktureller Umbau des Bildungssystems, verbunden mit einer Neujustierung von Auswahl, Qualifikation und Position der Lehrkräfte, um die nach wie vor wirkende Vererbung der sozialen Startnachteile und die damit einhergehende “Verschleuderung von Humankapital” zu beenden sowie flexiblere und transparentere Weiterbildungsangebote zur Begrenzung der schon eingetretenen Folgeschäden durch nachholende Integrations- und Partizipationsförderung. Andernfalls drohe eine “fortschreitende soziale Polarisierung, die sich auch in soziale Spannungen umsetzen” könnte.

7. Die “vielbeschworene Kultur des Hinsehens” forderte Bade auch für einen “selbstkritischen Blick auf die Migrationsmotive”, verbunden mit der “Bereitschaft zur Revision der Bedingungen, die in Deutschland steigende Abwanderungen und niedrige Zuwanderungen von Hochqualifizierten bewirken”.

Bade zitierte abschließend Bundeskanzlerin Merkel, die zuletzt bei der Werbung um mehr Einbürgerungsbereitschaft angesichts sinkender Einbürgerungszahlen gesagt hatte, dass Zuwanderung “immer auch eine Bereicherung” sei. Bade: “Das ist richtig – aber nur dann, wenn diese wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Bereicherung so begleitet wird, dass sie sich zum Nutzen aller entfalten kann.”